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ÖSTERREICH Schuhe aus

Das Bundesheer wird seit zwei Jahren reformiert. Resultat: Die neutrale Republik ist nicht mehr verteidigungsbereit. Es gibt kein einziges kampffähiges Bataillon.
aus DER SPIEGEL 34/1973

Österreichs Feinde sind dringend gebeten, das Land nicht vor 1977 anzugreifen. Denn bis dahin erst hofft der neue Armee-Befehlshaber General Emil Spannocchi eine Bereitschaftstruppe von 15 000 Mann aufgestellt zu haben.

Der Kommandeur des nominell 50 000 Mann starken Heeres: »Wir fangen wieder am Nullpunkt an. Diesen Zustand erreichte Österreichs Neutralitätswehr nach 18 Jahren, Kosten von zehn Milliarden Mark und der Ausbildung von fast 700 000 Soldaten.

Furchterregend war das Bundesheer nie. Wien ließ sich den Schutz des Landes bis zu 5,12 Prozent der Staatsausgaben kosten -- der neutrale Nachbar Schweiz opferte bis zu 39, Schweden 12 Prozent für die Verteidigung.

Noch 1971 verfügte das Bundesheer über 50 jederzeit einsetzbare Bataillone, ferner über ein Reserveheer von 120 000 Mann. Vor den Parlamentswahlen 1970 aber war die Armee zum Wahlschläger der damals oppositionellen Sozialistischen Partei (SPÖ) geworden. Der Jugendfunktionär Peter Schieder brauchte einen Knüller für seine Wahlrede.

»Welche Meinung vertritt denn unsere Partei im Moment in Sachen Bundesheer?« erkundigte er sich bei Wahlmanager Heinz Brantl und SPÖ-Zentralsekretär Leopold Gratz (derzeit Wiener Bürgermeister).

Brantl und Gratz erinnerten sich lediglich verschwommen, daß der Genosse Otto Rösch (heute Innenminister) vor Jahren als Verteidigungs-Staatssekretär einen Vorschlag unterbreitet hatte, die neunmonatige Rekrutenzeit um ein Drittel zu kürzen. In Abwesenheit des SPÖ-Chefs Bruno Kreisky gruben sie das Papier aus den Akten.

Schieder nutzte die Fundsache -- und der Slogan »Sechs Monate sind genug« sicherte ihm bei den Jungwählern donnernden Applaus. Im Juli 1971 erfüllte die Regierung ihr Wahlversprechen: Die Wehrpflicht für »Präsenzdiener« (so heißen die Wehrpflichtigen) wurde auf ein halbes Jahr vermindert -- die kürzeste Dienstpflicht der Welt.

Um den Wehrbetrieb trotz der Mini-Dienstzeit weiterführen zu können, beschloß das Parlament eine Reform des gesamten Bundesheeres: Es wurde zweigeteilt in eine Landwehr (Rekruten) und in eine jederzeit einsatzfähige Bereitschaftstruppe aus 15 000 freiwillig Längerdienern.

Kreisky-ergebene Generale -- zuerst Verteidigungsminister General Freihsler, dann Verteidigungsminister General Lütgendorf -- drückten die Reform gegen den Widerstand des gesamten Offizierskorps durch. Ihr Anfang brachte eine enorme Aufblähung der Militärverwaltung, ihr vorläufiger Abschluß im Juli die Ernennung des Drei-Sterne-Generals Spannocchi zum Chef des neuen Armeekommandos. Das Ergebnis ist ein totales Chaos um Österreichs Landesverteidigung.

Denn für einen wenigstens optischen Erfolg hätte die Heeresumgliederung Milliarden gebraucht, die das Bundesheer aber nicht bekommt. Der Generalstab schätzte allein den Sofort-Bedarf auf 700 bis 800 Millionen Schilling (etwa 100 Millionen Mark). Minister Lütgendorf peilte -- in einem SPIEGEL-Gespräch -- ein Verteidigungsbudget von sieben Prozent des Gesamthaushalts an. Doch statt zu steigen, sank der Militäretat 1973 auf 3,62 Prozent der Staatsausgaben, die niedrigste Quote seit 1962.

Österreich ist nicht mehr in der Lage, sich auch nur kurzfristig zu verteidigen. »Ruinenkommandant Spannocchi« ("Kleine Zeitung") übernahm ein Bundesheer, das nicht mehr existiert: Von den 27 Bataillonen der angeblichen Bereitschaftstruppe sind 13 praktisch ohne Mannschaft. Die restlichen 14 marschieren mit zusammen knapp fünftausend 10-Wochen-Soldaten, die gerade Gewehrputzen und Salutieren gelernt haben. Kein Bataillon des Bundesheeres ist zur Zeit kriegstauglich.

Überall fehlt es an Waffen, Munition, Material und Kleidung. 38 veraltete Düsenkampfflugzeuge des schwedischen Typs Saab 105 OE, ohnehin zu langsam gegen Feindmaschinen mit Schallgeschwindigkeit, haben kaum Ersatz-

* Parade mit »Puch-Haflinger«-Autos in Wien.

teile -- startklar sind nur 3 bis höchstens 18.

Die neuen Panzerjäger, Typ Kürassier, haben zwar Halterungen für Nachtsichtgeräte« für die Geräte selbst aber reichte das Geld nicht mehr. Und die Bergschuhe der Gebirgstruppen dürfen laut Befehl keinesfalls im Normaldienst Verwendung finden, weil weder Ersatz noch Reparatur möglich ist.

Mehr noch als an Material aber fehlt es an Männern. Bei Unteroffizieren und Leutnants hat der Fehlbestand 50 Prozent erreicht. Die Teilnehmerzahl der Unteroffizierskurse sackte von früher 850 auf 75 ab. Die Quote der übungswilligen Reserveoffiziere liegt bei 300 (1970: 1500). Vollends unmöglich scheint die Rekrutierung der für die Bereitschaftstruppe nötigen Soldaten: Bisher meldeten sich nur 700 Freiwillige.

Sogar Kanzler Kreisky sucht Ersatz für sein fortreformiertes Heer: »Die Sicherheit Österreichs«, verkündete er im Parlament, »wird primär durch eine gute Außenpolitik gewährleistet.«

Damit kam er bei seinen heimischen Strategen freilich schlecht an. Generalstäbler werfen ihm »allernaivste Illusionen« vor. Ihr Standpunkt: Kreisky habe zusammen mit dem Bundesheer automatisch auch die Außenpolitik ruiniert.

Österreichs Position, so argumentieren sie, beruhte bisher darauf, daß Ost und West an einem militärisch gesicherten neutralen Staat in Mitteleuropa interessiert sind. Ein abwehrbereites Bundesheer bedeutet für

* die Bundesrepublik ein einigermaßen gesichertes Vorfeld der Nato-Streitkräfte in Süddeutschland -- weshalb Helmut Schmidt, damals noch Bonns Chef-Verteidiger, schon 1971 seinen Parteifreund Kreisky mit der Bemerkung verärgerte, man verfolge die Entwicklung im österreichischen Bundesheer sehr aufmerksam;

* die CSSR einen Riegel gegen einen Nato-Vorstoß durch das Donautal in ihre südliche Flanke;

* Ungarn gleichfalls die Abriegelung des Donautals gegen einen Nato-Vorstoß in Richtung Balkan;

* Jugoslawien die praktisch einzige ungefährdete Grenze bei einer Einkreisung durch Nato, Warschauer Pakt und den China-Satelliten Albanien;

* Italien den umfassenden Schutz seiner Landgrenze, falls außer der Schweiz auch Jugoslawien im Konfliktsfall neutral bliebe;

* die Schweiz einen neutralen Partner, der eine erhebliche Vorwarnzeit garantiert -- der frühere eidgenössische Verteidigungsminister Gnägi hoffte daher schon einmal laut, daß »die Verteidigung Österreichs in Ordnung kommt«.

Ein allseits offenes Österreich hingegen, kritisieren die Generalstäbler, ist für alle gefährlich. Ein General: »Im Krisenfall wäre jeder Kriegführende zu Sicherungsmaßnahmen auf österreichischem Gebiet gezwungen.«

Nicht einmal die einseitige Okkupation des Vakuums kann nach Meinung hoher Militärs ausgeschlossen werden: »Keine Weltmacht freut sich über unklare Verhältnisse im Zentrum eines Kontinents. Herr Breschnew und Herr Nixon brauchen sich dann nur noch einig zu werden, wo ihre Besatzungstruppen haltmachen -- vielleicht wieder an der Enns wie anno 1945.«

Sowjetpremier Kossygin plant noch weiter. Bei seinem Österreich-Besuch im Juli antwortete er auf Bedenken des Verteidigungsministers Lütgendorf wegen des Raketenverbots für Österreichs Luftabwehr*: »Da machen Sie sich keine Sorgen. Wir beschützen die österreichische Neutralität.«

* Artikel 13 des österreichischen Staatsvertrages von 1955 untersagt Österreich Atomwaffen und jedwede Art von »selbstgetriebenen oder gelenkten Geschossen« -- somit auch Luftabwehrraketen.

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