ZEITGESCHICHTE Schuß von hinten
Der Kanzleichef war immer dabei. Jaromir Smutny hatte den Vertrauensposten übernommen, als der tschechoslowakische Außenminister Benesch 1935 die Nachfolge des Staatsgründers Tomás Masaryk angetreten hatte. Benesch machte Smutny, damals Gesandter in Warschau, zum Leiter seines politischen Büros, der »Kanzlei«.
Fortan hatte die Geschichte einen Zeugen für das, was Edvard Benesch sagte, und manchmal auch das, was er dachte. Denn Kanzler Smutny führte Tagebuch.
Nach dem deutschen Einmarsch in Prag folgte er 1940 Benesch ins Londoner Exil und nahm teil an Beneschs Verhandlungen mit Churchill, Roosevelt und Stalin. 1945 kehrte er mit Benesch nach Prag zurück und blieb bei dem wiedereingesetzten Staatspräsidenten bis zu dessen Rücktritt 1948. Und immer sammelte Smutny Dokumente, registrierte alle Schachzüge seines Chefs und Intrigen der Gegenspieler.
Die wichtigsten Notizen Smutnys allerdings sind, so konnte der SPIEGEL jetzt feststellen, verschwunden. Bei seiner erneuten London-Emigration nach der Machtübernahme der Kommunisten hatte Smutny 1949 einen Teil seines Privatarchivs mitgenommen. Aus dem im Prager Hradschin zurückgelassenen Rest veröffentlichte das kommunistische Regime 1966 (ohne Rückfrage bei der Witwe des zwei Jahre zuvor verstorbenen Smutny) ausführliche Auszüge: Darin nannte Smutny seinen Meister den »größten Machiavelli unserer Zeit«. Denn Benesch gelang es, so Smutny, aus dem Bewußsein der westlichen Öffentlichkeit zu verdrängen. daß
* die tschechoslowakische Armee 1939 dem Einmarsch der Deutschen keinerlei Widerstand entgegengesetzt hatte; die Slowakei mit den Alliierten im Krieg lag und
* »wir zu Hause viele Kollaboranten haben und unsere Industrie heute der größte und eifrigste Waffenlieferant Deutschlands ist«. Weitere Enthüllungen folgten, nachdem Smutnys Frau 1971 den Londoner Teil der Kanzler-Papiere nach New York verfrachtet hatte. Professor Mastny von der Columbia-Universität entdeckte darunter ein Dokument von welthistorischem Rang: Smutnys Notizen über die Gespräche, die Benesch Ende 1943 mit Stalin und Molotow in Moskau geführt hatte.
Nach den Aufzeichnungen -- veröffentlicht zuerst auf englisch in den »Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas«, im Originaltext voriges Jahr in der Pariser Emigranten-Zeitschrift »Svedectvi« -- legte sich der Nichtkommunist Benesch im Kreml auf eine klare, einseitige Ausrichtung der tschechoslowakischen Politik zugunsten der Sowjet-Union fest: Er wolle den Standpunkt der Sowjet-Regierung erfahren, sagte er zu Außenminister Molotow, um seine diplomatischen Vertreter zu instruieren, »wie sie in grundlegenden Fragen sprechen und auftreten sollen, immer in Übereinstimmung mit den Vertretern der Sowjetregierung«.
Benesch ermunterte seine Kreml-Partner sogar, sich in die Innenpolitik der Tschechoslowakei einzumischen. So empfahl er sowjetischen Druck auf die spätere Prager Regierung, slowakische Quislinge -- er nannte sechs bei Namen -- aufzuhängen. Benesch: »Die ganze Slowakei ist ja ein einziger Clan. Die haben gut für sich gesorgt, der eine Bruder in London, der andere in der Slowakei.« Sogar der hartgesottene Molotow zeigte sich befremdet. »Es wäre nicht ganz begreiflich«, erwiderte er laut Smutnys Notizen lächelnd, »wenn wir die Slowaken so behandelten wie die Deutschen und die Ungarn.«
Doch Benesch wollte sogar manche Tschechen -- die besitzenden -- wie die Deutschen behandeln. Die Sudetendeutschen würden ausgewiesen, ihre Güter, Betriebe, Bergwerke und Banken verstaatlicht, befand der Präsident. Dann wurde er sozialistisch: »Und wenn ich das mit dem deutschen Eigentum gemacht habe, muß ich das gleiche Opfer von den Tschechen verlangen.« Kommunist Molotow reagierte skeptisch: »Glauben Sie denn, daß die (Tschechen) das hinnehmen? Die sagen Ihnen: »Gut, das dort sind die Deutschen, aber wir sind die Tschechen.«
Aus Beneschs Anbiederung folgerte Forscher Mastny: Stalin habe später mit Recht argumentieren können, Prags 1947 geplanter Beitritt zum Marshallplan verstoße gegen Beneschs Zusicherungen von 1943, mit denen er die Tschechoslowakei der sowjetischen Einflußsphäre zuschlug. Endgültig ge-
* Oben: 1935 als Außenminister; von links: Molotow, Litwinow. Unten: 1949 in Frankfurt.
lang das Stalin erst mit dem kommunistischen Umsturz von 1948 und dem Tod des (parteilosen) Außenministers Jan Masaryk, Sohn des Staatsgründers und Befürworter des Marshallplans. Am 10. März 1948 lag Masaryk tot im Hof des Cernin-Palastes, unter den Fenstern seiner Amtswohnung. Offizielle Version: Selbstmord.
Kanzleichef Smutny wußte etwas mehr über die Umstände. Am Morgen des Todestages hatte er vor Ort gleichfalls Selbstmord vermutet. Zwei Tage später besichtigte er jedoch noch einmal Masaryks Wohnung. Der Butler Masaryks, Prihoda, benahm sich verdächtig: Plump lenkte er Smutnys Aufmerksamkeit auf Rasierklingen, die wohl inzwischen in das Badezimmer geschmuggelt waren, um den Eindruck zu erwecken, Masaryk habe mit mehreren Arten des Selbstmords gespielt.
Smutny kopierte den amtlichen Befund der Totenschau sowie die Aussagen von Masaryks Arzt, von Prihoda, von Polizisten, von Palast-Personal und dem Diplomaten Kavan, mit dem sich Masaryk am Abend vor seinem Tod unterhalten hatte. Später ließ Smutny den Journalisten Benno Weigel alias Michael Rand in sein Material Einblick nehmen (SPIEGEL 15/1965). Smutnys Witwe ließ Auszüge ins Englische übersetzen, die von der Amerikanerin Claire Sterling ("The Masaryk Case") veröffentlicht worden sind.
Demnach waren die Selbstmord-Indizien ungenau und widersprüchlich. So referierte Inspektor Vilibald Hofman von der Sicherheitspolizei, Masaryk sei aus dem Schlafzimmerfenster gefallen -- in Wirklichkeit stürzte er aus dem Fenster seines Badezimmers. Einmal hieß es, Masaryk müsse zwischen 6.25 und 7.25 Uhr umgekommen sein; andere Berichte verlegten seinen Tod um mehrere Stunden vor. Die Unordnung im Badezimmer, auch daß dort die Fensterbank nur schwierig zu besteigen war, die im Schlafzimmer hingegen bequem, legen nahe, daß Masaryk nicht freiwillig gesprungen war.
Beim SPIEGEL meldete sieh jetzt ein ehemaliger Häftling, der 1962 in der Gefangenen-Station der Brünner Universitätsklinik die Beichte eines Krebskranken hörte, der bald darauf starb: Ex-Geheimpolizist Malovec, Pilot eines Flugzeugs, mit dem Masaryk am 9. März 1948 nach London flüchten wollte. Der Minister wurde auf dem Prager Flughafen Ruzyne von dem Geheimdienstmajor Mirovski aus 20 Meter Entfernung von hinten erschossen, Masaryks Leiche nachts in das Cernin-Palais verbracht und, um einen Selbstmord vorzutäuschen, gegen vier Uhr morgens aus dem Fenster geworfen. Soweit der neue Ohrenzeuge.
Während des Prager Frühlings 1968 trug er sein Wissen dem (inzwischen verstorbenen) Innenminister Pavel vor. Der hielt die Zeit noch nicht für reif. »der aufgewühlten Nation den wahren Sachverhalt bekanntzugeben«.
Doch der Philosoph Ivan Sviták forderte eine neue Untersuchung der Masaryk-Affäre. Inzwischen waren die Erinnerungen von Masaryks langjähriger US-Freundin Marcia Davenport erschienen: Ihr hatte Masaryk 1947 nach der Rückkehr aus Moskau gesagt, Stalin »würde mich natürlich umbringen. wenn er könnte«. Parteichef Dubcek ließ eine Kommission einsetzen, die den Fall Masaryk wieder aufrollen sollte. Ihre Arbeit beendeten vorzeitig die Interventions-Truppen.
Forscher Sviták emigrierte in die USA. Im berühmten »Archiv russischer und osteuropäischer Geschichte und Kultur« der New Yorker Columbia-Universtiät stieß er auf das Verzeichnis der Dokumenten-Sammlung, die von Frau Smutná dort hinterlegt worden war. Darin waren auch Details über ein Faszikel von Papieren zum Tod Masaryks aufgeführt. Die Papiere aber fehlten. Das stellte das Archiv nach einjähriger Recherche fest.
Sviták unterrichtete Frau Smutná in London, die über einen Mittelsmann das Archiv besorgt um Aufklärung bat. Nach anderthalb Jahren äußerte sich das Archiv: Verlustanzeige.
Ungeklärt ist, ob die Dokumente schon auf dem Weg nach Amerika verlorengingen, ob ein Gelehrter oder Autographen-Sammler sie stahl oder aber ein kommunistischer Agent.
Genaueres wurde über das Schicksal der im Prager Hradschin verbliebenen Smutny-Dokumente bekannt. Mit den Archiven der tschechoslowakischen Exil-Regierung in London, die viel für Moskau Lästiges enthielten, wurden die Papiere nach der Prag-Okkupation 1968 in die UdSSR abtransportiert.
* 1947 in New York.