Belgien Schutz von ganz oben
Werden Sie bis zum bitteren Ende ermitteln?« fragte der Fernsehmann den Staatsanwalt Michel Bourlet: »Wenn man mich läßt«, erwiderte der knapp. Tränen der Wut schossen da dem Vater der ermordeten Mélissa Russo in die Augen. Er war Gast im Studio bei einer Sondersendung zu den gerade in Belgien aufgedeckten Fällen von Kindesmißbrauch. »Was heißt hier, wenn man mich läßt, dann können wir ja gleich aufhören«, rief er aus.
Ob er mit seiner Bemerkung auf »politische Pressionen« anspiele, hakte der Journalist nach, und der staatliche Vertreter der Anklage entgegnete: »Sie haben für mich geantwortet.«
Mit seinem Halbsatz hatte der 54jährige Staatsanwalt Bourlet aus dem Ardennenstädtchen Neufchâteau die Öffentlichkeit auf einen Skandal eingestimmt, der das Land nun auch politisch erschüttern könnte: Emotional aufgewühlt hat der Fall der geschändeten und getöteten Kinder schon die gesamte Nation.
Nur fünf Tage nach dem Verschwinden der 14jährigen Laetitia im wallonischen Bertrix waren Bourlet und seine Mitarbeiter dem gewalttätigen Kidnapper, Kinderschänder und geständigen Mörder Marc Dutroux auf die Spur gekommen. Aber sie stießen bei ihren Recherchen auf Fehler und Versäumnisse der Behörden, die den Verdacht auf Korruption bis in die oberen Ränge der Justiz nahelegen. Der kriminelle Dutroux hatte sich gerühmt, daß er »einen langen Arm habe und niemand ihm etwas antun könne«.
Bourlet weiß, wovon er spricht, wenn er politische Pressionen befürchtet. Schon einmal waren seiner Justizbehörde, die im Korruptionsdschungel von Wallonien als unabhängig und effizient gilt, die Ermittlungsbefugnisse wieder entzogen worden - gerade als erste Recherchen das kriminelle Umfeld eines Regionalministers aufdeckten.
Es ging um die Aufklärung des Mordes an dem Lütticher Sozialistenführer André Cools. Dessen Familie hatte sich an den Staatsanwalt aus Neufchâteau gewandt, weil sie das Vertrauen in die Arbeit der Lütticher Justizbeamten verloren hatte. Von Schmiergeldern, dubiosen Staatsaufträgen war schon damals die Rede - und Lüttich bekam einen Spitznamen: »Palermo des Nordens«.
Justizminister Stefaan De Clerck beeilte sich letzte Woche, zu beteuern, daß im Fall des Gewaltverbrechers Dutroux und seiner Komplizen »ohne Interventionen« bis zum Ende ermittelt werde. Alle »Fehler und Nachlässigkeiten« der Polizei und Justizbehörden, sekundierte Premier Jean-Luc Dehaene, würden unnachsichtig aufgeklärt. Das Magazin Le Soir illustré erhob Bourlet - in der Zeit der lähmenden Trauer braucht man Helden besonders - zum Titelstar: »Ganz Belgien steht hinter dem Staatsanwalt.«
Das Land im Zentrum der Europäischen Union hat eine laxe Gesetzgebung, die Beamten werden schlecht bezahlt, drei voneinander unabhängige Polizeiapparate konkurrieren miteinander, Justizposten werden nach Parteienproporz besetzt. So verwandelte sich Belgien in eine der Drehscheiben des internationalen Waffenschmuggels, wurde zur Heimat für Schieber und Steuerflüchtlinge.
»Die Verluderung der dritten Gewalt in unserem Land«, heißt es in einem Leitartikel der Brüsseler Tageszeitung De Morgen, »hat eine Tragweite angenommen, die selbst allerschwerste Verdächtigungen rechtfertigt.«
Auch ausländische Ermittler sahen sich mit belgischem Filz konfrontiert: In der heruntergekommenen Industriestadt Charleroi vermuteten Kölner Polizisten 1995 den Kopf einer internationalen Bande von Autodieben und -hehlern. Doch ein Rechtshilfeersuchen wurde in Charleroi wegen eines Formfehlers abgeblockt. Zuständig war damals ein Kriminalbeamter Georges Zicot.
Am vorletzten Sonntag ließ Staatsanwalt Bourlet diesen Zicot, 45, verhaften. Der soll dem vorbestraften Kinderschänder dabei geholfen haben, ein gestohlenes Fahrzeug zu legalisieren - Dutroux gehörte auch zu einer Gang von Autodieben. Polizist Zicot wird nun verdächtigt, Hinweise auf den Verbrecher nicht weitergegeben zu haben.
So hatte sich laut Le Soir eine Nachbarin bei der Polizei über die nächtlichen Wühlarbeiten von Dutroux beschwert - damals legte er wohl für die geraubten Mädchen in seinem Keller Zellen an. Wenig später wurde die Dame zu Zicot aufs Revier zitiert und wegen ihres »denunziatorischen Verhaltens« gerügt. Wollte der Ermittler den Verbrecher decken, der in seinem Wohnort Marcinelle nur »le voleur«, der Dieb, genannt wurde?
Polizeibeamter Zicot hatte offensichtlich Gönner in den oberen Rängen der Justiz. Erst vor sechs Monaten wurde er zum Oberinspektor befördert. Dabei waren mehrere Untersuchungen gegen ihn eingeleitet worden, weil er sich angeblich mit Kriminellen eingelassen hatte. Obendrein wurde er, so staunte der Kölner Kriminaldirektor Rolf Behrendt, »trotz eines gegen ihn laufenden Verfahrens« als Vertreter der belgischen Justiz zu einem Informationstreffen von Europol über internationale Kfz-Schiebereien nach Den Haag geschickt.
Wie weit hinauf reichen die »mafiosen Aktivitäten«, von denen auch der Generalstaatsanwalt in Mons, Georges Demanet, spricht? Er hatte 1992 von einer vorzeitigen Haftentlassung des wegen fünffachen Kindesmißbrauchs zu 13 Jahren Haft verurteilten Dutroux abgeraten. Auch der Gefängnispsychologe hatte wegen der Rückfallgefahr Bedenken geäußert. Dennoch wurde der Entlassungsvorschlag mit vier zu zwei Stimmen für eine Begnadigung dem damaligen Justizminister Melchior Wathelet vorgelegt - und der Sozialist fand nichts dabei, ihn zu bejahen.
Sogar die Mutter des Sexualverbrechers hatte damals in einem Brief vor einer Verkürzung der Haft ihres Sohnes gewarnt. Sie bekam keine Antwort und fragt heute öffentlich: »Wurde er beschützt?«
Eine Schlüsselfigur für die Kontakte in die höheren Kreise könnte der inzwischen verhaftete Brüsseler Kaufmann Jean-Michel Nihoul sein, der mit Kinderhändler Dutroux in engen Geschäftsbeziehungen gestanden haben soll.
Für die Lütticher Sozialistische Partei reiste Nihoul 1983 als Geldbote in die Schweiz, um Schmiergelder abzuholen, von denen er einen Großteil für sich abgezweigt haben soll. Der dubiose Kaufmann, gegen den ein Verfahren wegen Betrugs läuft, soll danach auch für einige Brüsseler Christdemokraten tätig gewesen sein und für deren Wahlkampagnen Spendengelder eingetrieben haben. In seinem Privatklub »Le 124« in der Rue des Atrébates veranstaltete Nihoul laut Zeugenaussagen Sexpartys für die gehobene Brüsseler Klientel.
Niemand habe ihn bei seiner Entscheidung beeinflußt, Dutroux trotz seines Strafregisters vorzeitig aus der Haft zu entlassen, versicherte der inzwischen zum Europäischen Gerichtshof abgewanderte Ex-Justizminister Wathelet telefonisch aus seinem Urlaubsort in Italien. Das Gegenteil ist nicht nachzuweisen, denn aus seinem Büro ist rätselhafterweise ein Großteil der Akte Dutroux verschwunden.
Bleiben Indizien. Seltsam wirkt, daß niemand der umfangreiche Besitz des Sozialhilfeempfängers Dutroux auffiel: zehn Häuser, Grundstücke und ein Wagenpark von neun Autos, darunter der weißgraue Lieferwagen, mit dem einige seiner Opfer gekidnappt wurden.
Dutroux war 1995, auf Bewährung in Freiheit, wieder straffällig geworden. Der Justizminister hätte laut Gesetz davon unterrichtet werden müssen, daß der von ihm vorzeitig aus der Haft entlassene Dutroux wegen Autodiebstahls und Freiheitsberaubung erneut verhaftet worden war. Nichts geschah. Der Häftling kam nach nur drei Monaten wieder aus dem Knast, aus »humanitären Gründen«, weil seine Frau Michèle schwanger war.
Es war der Staatsanwalt in Charleroi, Thierry Marchandise, der es versäumt hatte, seinen Parteifreund, Justizminister Wathelet, von der Verhaftung Dutroux' zu unterrichten. Bei ihm versandeten offensichtlich auch die anonymen Hinweise, die den beiden achtjährigen Freundinnen Julie und Mélissa das Leben hätten retten können: Dutroux, so der Informant, habe in einem seiner Häuser Zellen gebaut. 150 000 Franken (7500 Mark) biete der arbeitslose Elektriker für ein gekidnapptes Kind.
Zweimal durchsuchten Polizisten das Haus, nachdem im Juni des vergangenen Jahres Julie und Mélissa verschwunden waren. Sie hörten Kinderschreie. Das seien seine Kinder, erklärte Dutroux - die Fahnder glaubten ihm und rückten ab.
»Ihr habt eine Bombe gezündet, die bald explodieren wird«, sagte der festgenommene Polizist Zicot zu den Ermittlungsbeamten bei seiner Vernehmung in Neufchâteau. Die Belgier, die sonst so gern ihre Konflikte durch mehr oder weniger faule Kompromisse lösen, kann diese Aussicht nicht mehr schrecken. Die Eltern der mißbrauchten Kinder wollen jetzt - wie die gesamte Öffentlichkeit - nur noch eines: »Die Wahrheit«, so Mélissas Vater, »muß endlich ans Licht.«