RÜSTUNG / RAKETEN-ABWEHR Schutz vor China
Die Atom-Pokerpartie geht in die nächste Runde, die Einsätze steigen. Im Frühjahr hatte Moskau vorgelegt, letzte Woche zog Washington -- widerwillig -- nach:
Amerika wird noch in diesem Jahr mit dem Bau eines begrenzten Raketen-Abwehr-Gürtels beginnen. Die Wunderwaffe Nike-X, längst erprobt, wird ab sofort auf Serie gelegt. Der teuerste Waffen-Wettlauf der Menschheitsgeschichte hat begonnen.
Jahrelang hatte sich Washingtons Waffenmeister McNamara gegen die Errichtung eines Anti-Raketen-Walls um die Vereinigten Staaten gewehrt. Der Verteidigungsminister fürchtete nicht nur die astronomischen Kosten (40 bis 60 Milliarden Dollar für einen umfassenden Schutzgürtel), ihm schien auch das Risiko einer Störung des Atom-Patts der beiden Weltmächte zu gefährlich.
Denn ein -- durch einen Raketen-Abwehr-Schirm -- annähernd unverwundbares Amerika müßte von der Sowjet-Union als Gefahr für ihre eigene Sicherheit angesehen werden. Unvermeidliche Folge wären neue Rüstungsanstrengungen der Russen -- worauf wiederum die Amerikaner gleichziehen müßten. McNamara: »Ein törichter und unbesonnener Wettlauf.«
Jetzt tat der Minister dennoch einen kleinen Schritt auf dem Weg, weil ein unerwarteter Außenseiter im atomaren Poker mitmischt: Rotchina.
Maos Raketenbauer schossen bereits im Oktober letzten Jahres ihre erste Mittelstreckenrakete ins Test-Ziel -- ein halbes Jahrzehnt früher als erwartet. Vorzeitig begannen sie, A- und H-Bombenköpfe zu produzieren.
Die Schnelligkeit, mit der chinesische Wissenschaftler Maos Macht-Träume strategisch untermauern, hat alle westlichen Vorausberechnungen und Planungen über den Haufen geworfen. Unbeirrt durch innerpolitisches Chaos wird China schon 1970 über einsatzfähige Mittel- und Langstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen verfügen.
Letzten Montag verkündete McNamara in San Francisco, die USA würden einen Minimal-Abwehrgürtel gegen gelbe Atomraketen um Amerikas Verteidigungs-Zentren legen.
»Diese Entscheidung basiert in erster Linie auf dem Wunsch, uns vor der Möglichkeit eines chinesischen Raketen-Überfalls zu schützen«, sagte der Minister, Obwohl »wahnwitzig und selbstmörderisch, wären Umstände denkbar, unter denen China sich verkalkuliert«.
Gegen mögliche chinesische Fehlkalkulationen soll, Ende diesen Jahres beginnend, bis 1972 ein 20-Milliarden-Mark-Sperrgürtel gebaut werden. Er basiert auf zwei spurtstarken Raketen-Typen mit Atomsprengköpfen, die, elektronisch gesteuert, anfliegende Feindraketen im Fluge zerstören sollen:
> Die »Nike-Zeus« (Stückpreis vier Millionen Mark), die Feindraketen in 300 bis 700 Kilometer Entfernung abfängt;
> die Kurzstrecken-Rakete »Sprint« (Stückpreis 2,4 Millionen Mark), mit einem Aktionsradius von 30 bis 40 Kilometern.
Was »Nike-Zeus« verfehlt, soll »Sprint« kurz vor dem Ziel noch unschädlich machen. Bei den bisherigen Tests hat sich das System als außerordentlich zuverlässig erwiesen -- zumindest unter Bedingungen, die für eine chinesische Offensive gelten: den Anflug einer begrenzten Zahl von rechtzeitig zu ortenden Raketen.
Doch die Chinesen haben das Atom-Patt nicht nur durch die Gefährdung. Amerikas gestört. Auch die mit Peking in Ideologen-Zwist und Grenzstreitigkeiten verhaderten Sowjetrussen betrachten Maos Raketen als Gefahr.
Die Russen begannen schon früher, sich dagegen einzuigeln: Um die Hauptstadt Moskau steht ein Raketen-Abwehrsystem vor der Vollendung -- der sogenannte »Blaue Gürtel«, bestückt mit mehrstufigen Feststoffraketen, die im Nato-Code »Galosh« genannt werden.
Im letzten Frühjahr begannen die Russen außerdem eine Abwehrkette an der Ostsee-Küste zu bauen -- die sogenannte Tallinn-Linie, die Leningrad und die nördliche Sowjet-Union schützt. Die Tallinn-Galoschen sind allerdings ausschließlich gegen Raketen gerichtet, die vom Westen her anfliegen -- gegen Amerikas Minuteman- und Polaris-Armada.
Zugleich verstärkten die Russen noch ihr -- bisher den USA unterlegenes -- Offensiv-Potential.
Nach dem jüngsten Bericht des Institute for Strategic Studies in London verfügen die Sowjets über
> 520 Interkontinental-Raketen,
> 130 Fernraketen auf 45 Unterseebooten und
> 725 Mitteistrecken-Raketen, mit denen fast alle strategischen Ziele in Europa, Japan und China erreicht werden können.
Zwar ist die US-Raketen-Streitmacht mit 1054 Interkontinental-Raketen und 656 Polaris-Geschossen auf 41 Atom-Unterseebooten noch immer 2,6 mal so stark wie das Amerika bedrohende russische Arsenal, aber der Vorsprung ist geschrumpft: Im Vorjahr war das Verhältnis noch 3,4 zu eins zugunsten der USA.
Zudem ist die Vernichtungskraft der roten Raketen größer: Die Russengeschosse sind mit atomaren Sprengköpfen bis zu 20 Megatonnen armiert, die der Amerikaner tragen höchstens fünf Megatonnen ans Ziel. Und: Die Sowjet-Union hat heute doppelt so viele Atom-Bomber wie die USA einsatzbereit.
Vor dem Aufbau eines umfassenden Antiraketen-Sperrgürtels gegen das russische Offensiv-Potential schreckt McNamara jedoch zurück: »Was die Welt nach 22 Jahren Atomzeitalter verlangt, ist kein Wettlauf der Rüstungen«, beschwor er die Russen in seiner San-Francisco-Rede, »die Welt verlangt einen Wettlauf der Vernunft.«
Der Kreml hält offenbar seine Waffen für vernünftiger: Sowjet-Premier Kossygin ließ Präsident Johnson abblitzen, als der US-Präsident beim Glassboro-Gipfel ein Raketen-Stillhalte-Abkommen anregte.
»Einmal begonnen, kann man den Unsinn nicht mehr aufhalten«, resignierte Amerikas Friedenstaube, Senator Fulbright, letzte Woche. Doch noch wollen die USA nicht aufgeben. Vorigen Mittwoch appellierte das State Department noch einmal an Moskau, zweiseitigen Gesprächen über einen Stopp des Raketenwettlaufs zuzustimmen: »Die amerikanische Entscheidung, ein begrenztes Abwehrsystem zu bauen, sollte den Sowjets ein Ansporn zu Gesprächen sein.«