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RECHT Schwankender Grund

Soll die westdeutsche Zentralstelle zur Erfassung von DDR-Straftaten aufgelöst werden? *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Wenn es einen Preis für die erfolgloseste bundesdeutsche Behörde gäbe, hätte ihn die »Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen« in Salzgitter allemal verdient.

Rund 35000 Fälle von tatsächlichen oder auch nur vermuteten »Gewaltakten an der Demarkationslinie und in der SBZ« (Gründungsauftrag) haben die Beamten im Niedersächsischen seit Einrichtung ihrer Dienststelle 1961 - kurz nach dem Mauerbau - gesammelt. Aber gerade viermal konnte aufgrund des in Salzgitter angehäuften Materials Anklage erhoben werden. »Unsere juristische Ausbeute«, gibt sogar der Amtsleiter, Oberstaatsanwalt Carl Hermann Retemeyer, zu, »ist gleich Null.«

Höher sind die Wellen, die die Behörde mit ihrem halben Dutzend Mitarbeitern, angesiedelt im zweiten Stock über einer Polizeiwache, in der Politik schlägt. Den jüngsten Wirbel entfachte der Parlamentarische Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium Ottfried Hennig (CDU) mit seinem Vorschlag, die Dienststelle könne aufgelöst werden, wenn die DDR dafür den Schießbefehl aufhebe .

Kanzler Helmut Kohl distanzierte sich eilig von der Hennig-Idee. Auch CSU-Chef Franz Josef Strauß fand, der Staatssekretär habe »grundsätzlich die Natur des Problems« verkannt. Benno Erhard, Parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium, setzte sich sogar dafür ein, die zentrale Aktensammelstelle aufzuwerten. Nicht nur der »kleine Volksarmist, der den Finger am Abzug habe«, sei zu ermitteln, sondern auch die »unmittelbar politisch Verantwortlichen«. Mordanklage gegen Erich Honecker?

Die Dienststelle, knapp 20 Kilometer von der Grenze entfernt, arbeitet nach wie vor mit dem Anspruch, nach den Normen westdeutscher Justiz Recht und Unrecht in der DDR zu beurteilen und möglichst lückenlos alle Fälle zu dokumentieren - Schußwaffengebrauch an der Grenze, Prozesse wegen versuchter Republikflucht, angebliche Mißhandlungen in Gefängnissen, Denunziationen von DDR-Bürgern.

Zuträger des Amts, das die Bundesländer jährlich mit gut einer Viertelmillion Mark finanzieren, sind die Beamten des Grenzschutzes ebenso wie Geheimdienstler, vor allem aber Aussiedler und Freigekaufte. Ehemalige DDR-Bürger werden routinemäßig nach einem speziellen Fragenkatalog vernommen; die Ergebnisse gehen nach Salzgitter.

Die in den letzten zwei Jahren hohe Zahl der Aussiedler hat die Akten der Erfassungsstelle kräftig schwellen lassen. Allein im vergangenen Jahr wurden 2660 angebliche Gewaltakte in der DDR registriert. Schießereien an Mauer und Stacheldraht indes, wichtigster Anlaß der Gründung vor gut 24 Jahren, kommen heute kaum noch vor.

Von insgesamt 1145 »Unrechtstaten« (Retemeyer) des ersten Halbjahres 1985 sind nur zwölf unter »Schußwaffengebrauch« abgelegt; 938 Urteile wurden als politische Verfahren und 195 Fälle als politische Denunziation dokumentiert.

Die hohe Zahl der politischen Urteile beweist vor allem, wie weit sich das Rechtsverständnis der beiden deutschen Staaten auseinanderentwickelt hat: Während hier Verfahren gegen Fluchthelfer oder Republikflüchtlinge als Unrecht eingestuft werden, gelten sie drüben als legale Verfolgung von Kriminalität.

Mit solcher Divergenz mußte die westdeutsche Justiz schon fertig werden, als 1963 erstmals ein ehemaliger DDR-Bürger aufgrund von Ermittlungsakten aus Salzgitter angeklagt wurde. Ein Schwurgericht in Stuttgart verurteilte den früheren DDR-Soldaten Fritz Hanke zu 15 Monaten Gefängnis, weil er auf Befehl seines Vorgesetzten einen Flüchtling an der deutsch-deutschen Grenze erschossen hatte. Die Stuttgarter Richter konnten zu ihrem Urteilsspruch nur kommen, weil sie »die SBZ . . . unbeschadet der derzeitigen politischen Verhältnisse, rechtlich zum deutschen Inland« zählten.

Diesen schlichten Alleinvertretungsanspruch hat die Justiz (West) mittlerweile eingeschränkt. Schon 1968 fügten die Bonner Parlamentarier in die Strafprozeßordnung eine Opportunitätsklausel ein: Danach können westdeutsche Staatsanwälte auf die Verfolgung strafbarer Handlungen verzichten, »die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes begangen sind« oder wenn dies »öffentliche Interessen« gebieten.

Noch fragwürdiger wurde die Erfassungspraxis nach Abschluß des Grundvertrages 1972. Darin verpflichteten sich Bundesrepublik und DDR, »daß die Hoheitsgewalt

jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt«. Da die Strafgewalt unbestritten ein Teil der Hoheitsgewalt ist, mußten neue Konstruktionen für die Bonner Rechtsvorstellungen gefunden werden.

Hilfe kam vom Bundesgerichtshof (BGH). Der befand 1980, daß der Inlandsbegriff zwar auf das Gebiet der Bundesrepublik beschränkt sei, daß aber die Justiz gleichzeitig eine »Schutzpflicht« gegenüber den Brüdern und Schwestern im Osten habe.

Erste Opfer der neuen Auslegung wurden zwei einstige DDR-Bürger, die - nach Ermittlungen von Salzgitter- in DDR-Gefängnissen Mithäftlinge bespitzelt hatten. Eine Stuttgarter Strafkammer verurteilte den einen zu einer Freiheitsstrafe, den anderen zu einer Geldbuße. Der BGH erklärte die Urteile mit Hinweis auf die Schutzpflicht ausdrücklich für Rechtens.

Die DDR hält die Schutzkonstruktion für eine bloße Schutzbehauptung und sieht einen Eingriff in ihre staatliche Souveränität. Wie sehr sich die SED-Oberen durch die westdeutsche Rechtspraxis und deren Relikt in Salzgitter gestört fühlen, zeigt Paragraph 90 des DDR-Strafgesetzbuches von 1968.

Der Passus bedroht, ohne daß die Erfassungsstelle erwähnt wird, eine Mitarbeit für die Sammelstelle von Salzgitter mit Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren - kurios genug, denn die DDR erhebt damit eben jenen Anspruch auf die Verfolgung von »Straftaten« im anderen Deutschland, den sie andererseits Bonn kategorisch abspricht.

Immer mal wieder rügen die Ostdeutschen das niedersächsische Aktenlager als »juristische Aggression« oder als »Institution des Revanchismus«. Staatschef Erich Honecker nahm das Verlangen nach Schließung 1980 ausdrücklich in seine Geraer Forderungen auf - als Vorbedingung für einen Ausbau der Beziehungen.

Tatsächlich wäre das Mini-Amt sogar geeignet, am Nimmerleinstag eine Wiedervereinigung zu erschweren. Denn bei einem Zusammenschluß nach westdeutschen Vorstellungen, also in Frieden und Freiheit und womöglich in den Grenzen von 1937, müßten Zehntausende von Ostdeutschen mit Verfahren rechnen. Sollte umgekehrt die Bundesrepublik einstmals dem real existierenden sozialistischen Deutschland einverleibt werden, kämen auf sämtliche Informanten der Zentralstelle Gefängnisstrafen zu - Vorbestrafte überall im wie auch immer vereinten Gesamtdeutschland.

Hindernisse für die Wiedervereinigung aber darf die Bundesregierung, auch das ist höchstrichterliche Rechtsprechung, nicht fördern; das folgt aus der Präambel des Grundgesetzes. Insofern steht das juristisch so erfolglose Amt des Herrn Retemeyer auch verfassungsrechtlich auf schwankendem Grund.

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