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Briefe

SCHWARZ-WEISS
aus DER SPIEGEL 21/1970

SCHWARZ-WEISS

(Nr. 17/1970, SPIEGEL-Gespräch mit Georg Lukács)

Ein Vergleich zwischen dem Georg-Lukács-Gespräch und dem zu Beginn dieses Jahres im SPIEGEL veröffentlichten mit Max Horkheimer drängt sich geradezu auf. Während Lukács der Gefangene des sich selbst aufoktroyierten Systems bis zum bitteren Ende bleibt, begegnet uns Horkheimer als kritischer Theoretiker in unbefangener kritischer Distanz zu seiner eigenen Schöpfung, der kritischen Theorie. Es wäre wohl zu billig, beide Gespräche nur als Äußerungen alternder Denker einfach abzuwerten, die sich damit (wie Lukács) weit unterboten oder (wie Horkheimer) einfach zu widerlegen scheinen. Doch liegt bei genauerem Überdenken in der Rückkehr Horkheimers durchaus Konsequenz, während Lukács hier in einer höchst widersprüchigen Weise fast wie »verwirrt« begegnet. Nun soll man spontane Gesprächsäußerungen nicht wie die ausgewogenen Sätze einer Enzyklika pressen. Aber die bei Lukács offen zutage tretenden Widersprüche sind doch zu bedeutsam, als daß sie bei diesem sonst so systematischen Denker nur aus der Spontaneität der Gesprächssituation erklärt oder hinweginterpretiert werden könnten. Für die kapitalistischen Länder gilt für Lukács weiterhin als einziges politisches Programm die Revolution, obwohl eine revolutionäre Situation in diesen Ländern auch von Ihm nicht entdeckt werden kann. Für die sozialistischen Staaten demgegenüber steht für ihn nur die Evolution zur Debatte. Eigenartig mutet auch der Rückgriff auf die Spontaneitätskonzeptionen bei einem Denker an, der sich zur »lenini stischen« Interpretation des Marxismus bekennt, die aber viel eher zu den Konzeptionen Rosa Luxemburgs und des jungen Trotzki passen. --

Die Redefreiheit ist stets nur relativ trotz immenser Unterschiede In dem jeweils vorfindbaren Ausmaß. Aber die Möglichkeiten der Meinungskorrektur, über die zum Beispiel die FAZ und der SPIEGEL verfügen, mit den institutionalisierten staatlichen Meinungsmonopolen der UdSSR und der meisten Staaten des sogenannten Ostblocks und deren Praxis einfach auf eine Stufe zu stellen, ist doch eine harte Zumutung für den Gesprächspartner beziehungsweise für den Leser. Die Fälle Pasternak, Solschenizyn und die Tragödie der Intellektuellen in der CSSR sind eine passende Illustration.

Zuzustimmen ist Lukács andererseits aber in der Kritik an dem völligen Mangel ernstzunehmender sozialistischer Analysen an dem oligopolitisch organisierten und sozialpolitisch gebändigten Kapitalismus der Gegenwart, dem gegenüber die parteioffiziellen Theoretiker tatsächlich immer noch »wie der Ochs vor dem Berge« stehen. (Wir sehen dabei von Andre Gorz' Buch ab, der ja alles andere als parteioffiziell ist). Der aus der Zeit des »Inprekorr« bekannte sowjetische Wirtschaftsstatistiker und -analytiker ungarischer Herkunft, Eugen Varga, hat diesen Versuch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in einer bei ihm kaum zu erwartenden Anwandlung von Tollkühnheit versucht. Er war fast lebensgefährlich. Seine Denkschrift, die nur im innersten powercenter zirkulierte, wurde unterdrückt.

Das Motto, unter dem dieses Gespräch steht, »Das Rätesystem ist unvermeidlich«, ist nach mehr als fünf Jahrzehnten des Bestandes der UdSSR weniger ein politisches Programm als ein anklagender Aufschrei im Sinne Zolas »J'accuse« gegen die Tragödie der barbarischen Deformierung des Sozialismus. Diese Tragödie ist aber zugleich auch Lukács persönliche Tragödie zwischen höherer Einsicht und dem Willen zur Selbsterhaltung. Vor dieser Tragödie wäre unsererseits tatsächlich Schweigen die angemessene Reaktion, wenn es sich dabei nicht um Grundfragen des Sozialismus, seiner Zukunft und der der Menschheit handeln würde.

Göttingen PROFESSOR DR. BRUNO SEIDEL

Ich habe selten ein so decouvrierendes Interview gelesen wie das mit Georg Lukács. Durch die gesamte Beweisführung des greisen Amateurpolitikers schimmert das utilitaristische Schwarz-Weiß-Schema Stalinscher Prägung durch, auch wenn er von der direkten Demokratie des Rätesystems schwärmt. Eine seltsam harte, apodiktische Sprache für einen Literaten und Philosophen, der sich eigentlich, man verzeihe mir das altmodische Wort, mehr um die moralische Seite der politischen Probleme kümmern sollte.

Wien MILO DOR

War die DDR im guten Einvernehmen Ihrer Reporter mit Herrn Lukács als »Tabuzone« in Ihrem Gespräch ausgeklammert? Wie ist es sonst zu verstehen, daß auf dem Höhepunkt der leutseligen Unterhaltung (Lukács: »Ich meine nur, daß diejenigen einen illusionären Standpunkt haben, die den Sozialismus in Deutschland einführen wollen, ohne diese Tradition der deutschen Entwicklung zu sprengen") keine Bezüge zur DDR hergestellt wurden, einem bereits existierenden sozialistischen Staat in Deutschland«

Gießen MARTIN SCHMANDT

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