EIFEL Schwarze Idylle
Als die SPD vor den Bundestagswahlen 1961 ihr Mitglied Karl Haehser als Kandidaten für den Wahlkreis 153 in der Eifel nominierte, erzählte der Sozialdemokrat einem Mainzer Landtagskollegen: »Wenn ich diesen Wahlkreis gewinne, lade ich den ganzen Landtag für 14 Tage nach Madagaskar ein.«
Der SPD-Mann gab das Versprechen ohne jedes Risiko. So gering wie in diesem Wahlkreis - er umfaßt vier Landkreise des Regierungsbezirks Trier: Bitburg, Daun, Prüm und Wittlich - waren die sozialdemokratischen Chancen nirgendwo sonst. Der Wahlkreis 153 ist der schwärzeste in der Bundesrepublik.
Der CDU-Kandidat Hans Richarts, Landwirtschaftsrat außer Diensten, siegte 1961 mit 76,5 Prozent aller Stimmen (Zweitstimmen: 76,1 Prozent) - mit einem Anteil, wie ihn nicht einmal CSU-Politiker in Bayern einholen konnten*. In 13 Gemeinden des Wahlkreises (20 bis 180 Seelen stark) kassierte die CDU sogar 100 Prozent.
Richarts, 54, vertritt diesen Wahlkreis schon seit 1953 im Bundestag. Er ist auch diesmal wieder Kandidat, und seine Chancen sind, obwohl sich SPD und FDP mehr Stimmen als in den vergangenen Wahlen ausrechnen, so gut wie je. »Wenn man da einen Besenstiel aufstellt, wird der auch gewählt«, ulkte einmal der - inzwischen verstorbene - FDP-Politiker Wolfgang Döring über die CDU-Idylle, die in mancherlei Beziehung bevölkerungsstatistische Extremwerte aufweist.
Es ist der Eifel-Wahlkreis 153, der von allen bundesdeutschen Wahlkreisen
- die meisten Katholiken zählt (95,2
Prozent der Bevölkerung),
- die wenigsten Flüchtlinge beherbergt (6,5 Prozent),
- am dünnsten besiedelt ist (64 Einwohner je Quadratkilometer).
Wie menschenleer und zugleich verkehrsarm das Terrain ist, erfuhr CDUMann Richarts im letzten Bundestagswahlkampf, als sein Automobil nach einer Wahlversammlung nachtens mit einem Wildschwein zusammenstieß und in den Straßengraben gedrückt wurde. Richarts mußte die Nacht im Graben verbringen; erst am anderen Morgen wurde er von einem Zeitungsfahrer entdeckt.
Die »dünne Besiedlung« und die »relativ schwach entwickelte Verkehrsbedienung« des gesamten Eifel-Hunsrück-Gebiets wurden auch von Experten notiert, die vor einigen Monaten - für die Brüsseler EWG-Kommission, die Bundesregierung und die Landesregierung von Rheinland-Pfalz - ein umfängliches Gutachten erarbeiteten. Das Schulwesen, so heißt es darin, biete »kein allzu günstiges Bild«. Die Ausstattung mit Fachschulen sei »besonders unzureichend« und biete »ein getreues Spiegelbild der gewerblichen Unterentwicklung des Landes«. Die Landwirtschaft sei durch »ungünstige natürliche Standortbedingungen« und das »Vorherrschen von Kleinbetrieben« gekennzeichnet.
Was die EWG-Gutachter für das Eifel-Hunsrück-Gebiet insgesamt ermittelten, trifft erst recht für den Wahlkreis von Hans Richarts zu. Nur im Wahlkreis Cloppenburg ernähren sich noch mehr Einwohner aus Land- und Forstwirtschaft, nur im Wahlkreis Verden ist das Sozialprodukt noch geringer als im Wahlkreis 153.
Doch auch Spitzenleistungen kennzeichnen den kleinbäuerlichen Charakter des westdeutschen CDU-Paradieses: In keinem anderen Wahlkreis beträgt der Anteil der Selbständigen, die von mitarbeitenden Familienangehörigen unterstützt werden, an der. Gesamtzahl der Erwerbstätigen 56,4 Prozent (Bundesdurchschnitt: 22,6 Prozent). Nirgendwo sonst gibt es unter den Wohngebäuden so viele Ein- und Zweifamilienhäuser: 95,9 Prozent.
Die Häuser sind freilich auch älter als in allen anderen Wahlkreisen. 54 Prozent wurden vor 1919 erbaut. 53 Prozent leiden trotz normaler Wasserversorgung an »mangelhafter Fäkalienbeseitigung«, wie es im Fachjargon der Gebäudezähler heißt.
In diesem Wahlkreis mit 190 000 Einwohnern, in dem Ehen seltener geschieden werden als irgendwo anders in der Bundesrepublik, eroberten bei der letzten Bundestagswahl die Freien Demokraten immerhin noch neun Prozent der Stimmen. Der FDP-Kandidat dieses Jahres, Willy Rennette: »Es ist nicht so einfach hier. Das Wort 'Freie' stößt viele Menschen ab. Sie glauben, wir seien Freimaurer oder Freisinnige oder gar Leute, die der Freikörperkultur huldigen.«
Die SPD brachte es in dem Wahlkreis vor vier Jahren auf etwas mehr als 13 Prozent der Wählerstimmen. Ihr diesjähriger Kandidat, der Textilkaufmann und Obstbauer Johann Jacobs aus Speicher bei Bitburg, erhofft sich einigen Zuwachs schon wegen der Umstrukturierung des Eifel-Hunsrück-Landes, die - mit Schul- und Straßenbauten sowie Industrieansiedlung - zaghaft angelaufen ist. Zudem erscheint ihm wichtig: »Das bessere Verhältnis der SPD zu den Kirchen, das sich inzwischen auch bis hierhin herumgesprochen hat.«
Allzu optimistisch freilich mag sich der SPD-Mann nicht geben. Er glaubt nicht, daß »der Stacheldraht ums Gehirn der Leute schon verschwunden ist«.
* Noch mehr Stimmen, über 81 Prozent, errang die CDU im niedersächsischen Wahlkreis Vechta-Cloppenburg, in dem der heutige Bundeswirtschaftsminister Schmücker kandidierte. Im Zuge der Wahlkreis-Neuordnung ergibt sich jedoch - rein rechnerisch - für den neuen Wahlkreis Cloppenburg ein wesentlich geringerer Anteil von CDU-Wählern.
CDU-Bundestagskandidat Richarts
Kollision mit dem Wildschwein