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GESELLSCHAFT Schwarze Liste

Amerikas religiöse Fanatiker machen Ernst: mit Bücherverbrennungen und einer Boykott-Kampagne gegen Firmen, die in »moralisch verwerflichen« Fernsehsendungen werben.
aus DER SPIEGEL 27/1981

Drei Jahre, sagt Methodistenpfarrer Donald Wildmon, sei er ziellos »durch die Wildnis geirrt«. Doch dann, im Dezember 1980, habe er »die Straße ins verheißene Land gefunden«. Die Erleuchtung sei ihm in einem Hotelzimmer in Lynchburg (Virginia) widerfahren, als er nach dem Abendessen den Fernsehapparat einschaltete.

Auf einem Kanal »gab es Sex«, erinnert sich der Kirchenmann, auf dem zweiten »Gottlosigkeit«, und im dritten Kanal »bereitete sich ein Bursche gerade darauf vor, jemanden mit einem Hammer zu bearbeiten« -- alles TV-Szenen, die dem Pfarrer mißfielen, die er seiner Frau und seinen vier Kindern nicht zumuten und von denen er das amerikanische Fernsehen befreien möchte, notfalls mit massivem Druck.

Wildmon tat sich mit Amerikas derzeit größtem Saubermann zusammen, dem Reverend Jerry Falwell, dem Gründer und lautstarken Anführer der »Moral Majority«. Gemeinsam gründeten die beiden eine »Coalition for Better Television« (CBTV) und setzten sich das Ziel, all jene Sendungen aufzulisten und anzuprangern, die während der Hauptfernsehzeit ausgestrahlt werden und »exzessiv Sex, Gewalt und Gottlosigkeit« zum Inhalt haben.

Inzwischen schlossen sich bereits 396 religiöse Gruppen und Bürgervereine der CBTV an. Durch sie ließ Wildmon eine halbe Million Fragebogen zum TV-Programm verteilen.

Außerdem sahen sich 4000 Freiwillige der Koalition drei Monate lang regelmäßig die Abendprogramme der drei überregionalen US-Fernsehgesellschaften ABC, CBS und NBC an. Die Prüfer hielten ihr Urteil auf Bewertungskarten fest und notierten die Namen der Firmen, die mit ihren Werbespots die Ausstrahlung von Seifenopern und Quizsendungen, Filmen und Krimiserien finanzierten.

Das Ergebnis der wissenschaftlich anmutenden Programmanalyse will die CBTV diese Woche veröffentlichen: eine Computerliste der »moralisch verwerflichsten« Shows.

Doch damit nicht genug. Zugleich wollen die Moralapostel 15 Millionen amerikanische Bürger mit handlichen Karteikarten beliefern, auf denen die Namen jener Firmen -- und ihrer Produkte -- verzeichnet sind, deren Werbung die beanstandeten Sendungen erst ermöglichte. Die drei Spitzenreiter und ihre Waren, so die Empfehlung, sollten mindestens ein Jahr lang mit einem Kaufboykott belegt werden.

Mit einem Aufwand von wenigstens zwei Millionen Dollar aus der Kasse der »Moral Majority« soll der Boykott zusätzlich in ganzseitigen Zeitungsanzeigen überall im Lande bekanntgemacht werden. Außerdem will Falwell die CBTV-Hitliste »in Tausenden von Kirchengemeinden verteilen und zehn Millionen weitere Bürger brieflich davon unterrichten«.

Bereits vor der Veröffentlichung der schwarzen TV-Liste wurde deutlich, wie ernst die amerikanische Industrie den »heiligen Krieg« ("Newsweek") der Fernsehmoralwächter nimmt. Owen Butler, Chef des Wasch- und Lebensmittelkonzerns Procter & Gamble (P&G) verkündete vorletzte Woche, P&G wolle »aus Gründen des Geschmacks« insgesamt 50 TV-Programme nicht mehr mit Werbung beliefern.

Wohl bestritt Butler jeden ursächlichen Zusammenhang zwischen P&G-Rückzug und CBTV-Aktionsprogramm. Doch er gestand ein, seine Firma, die mit knapp 500 Millionen Werbedollar Amerikas größter TV-Anzeigenkunde ist, werde den CBTV-Argumenten »sorgfältig zuhören«, und außerdem: P&G zieht sich lediglich aus mehrdeutigen Sendungen des Abendprogramms zurück, nicht aber aus den Seifenopern, die nachmittags ausgestrahlt werden und von denen allein sechs P&G-eigene Produktionen sind. »In diesen«, kanzelte ein NBC-Manager die Doppelmoral des Waschmittelkonzerns ab, »sind Schlafzimmerszenen obligatorisch.«

Druck oder Doppelmoral -- sicher ist, daß die Ankündigung des P&G-Bosses ebenso wie die Versicherung anderer TV-Großkunden, sie würden die Einschaltung ihrer Spots von einem Vorab-Screening abhängig machen, ihre Wirkung nicht verfehlten.

ABC und NBC warteten mit eigenen Untersuchungen auf, deren Ergebnisse den erwarteten Schlußfolgerungen der Moralkoalition zuwiderliefen. So unterstützten etwa lediglich drei Prozent der von NBC befragten Zuschauer die Forderung, Programme sollten abgesetzt werden, wenn darin zuviel »Sex, Gewalt und Profanes« gezeigt werde. Und nur 8,5 Prozent (ABC-Studie) gaben an, jemals ein Produkt nur deshalb nicht gekauft zu haben, weil es während einer moralisch anfechtbaren Sendung angepriesen worden sei.

Gerüstet mit solchen und ähnlichen repräsentativen Meinungen polterte ABC-Präsident James Duffy gegen Wildmons und Falwells Anhänger: »Sie wollen ihre Ansicht von Moral nicht nur als Maßstab an ihr eigenes S.119 Leben legen, sondern auch alle anderen darauf verpflichten.« NBC-Präsident Fred Silverman wurde noch deutlicher. Er sah in der CBTV-Taktik »einen unterschwelligen Angriff gegen die Fundamente der Demokratie«.

Anklänge von Demagogie macht Lee Rich, TV-Produzent der Sex- und Gewaltserie »Dallas«, aus. »Wildmon«, so Rich zornig, »ist mit seiner schwarzen Liste wie Hitler.« Niemand sei berechtigt, der amerikanischen Öffentlichkeit vorzuschreiben, was sie sehen oder tun dürfe. Rich: »Wer ist Wildmon eigentlich, daß er sich zum Richter aufschwingen darf? Wann hört das auf?«

Wohl noch lange nicht.

In Wahrheit läuft die neue amerikanische Rechtsbewegung erst richtig an. Denn die »Moral Majority« deutet den Erfolg vom November letzten Jahres, als der konservative Ronald Reagan nicht zuletzt dank der dumpfreligiösen Trommelei des Baptistenpredigers Falwell das Weiße Haus eroberte, als klares Mandat, die eingeschlagene Taktik fortzusetzen. Jeden liberalen Inhaber eines öffentlichen Amtes warnte Falwell jüngst, »sich konservativer Werte zu erinnern oder sich darauf vorzubereiten«.

Liberal -- und demnach moralisch fragwürdig -- sind nach Falwells Definition all jene Bürgermeister und Abgeordneten, Senatoren und Mitglieder von Verbänden, die für die Legalisierung von Abtreibung und Homosexualität (Falwell: »Gott schuf Adam und Eva und nicht Adam und Steve") eintreten, die Reagans Verteidigungspolitik ablehnen und nicht die Notwendigkeit erkennen wollen, daß uralte Familienwerte wieder befolgt werden sollten.

Die Botschaft verkündet die »Moral Majority« jede Woche über 379 TV-Stationen und 400 Radiosender. In politischen Seminaren wird Falwells Anhängern regelmäßig das Credo der Organisation eingetrichtert: »Unser Ziel ist nicht die Christianisierung Amerikas, sondern eine moralische und konservative Revolution.«

Die Folgen solch simpler Sprüche sind beeindruckend -- und werden nicht nur durch die verschreckten Reaktionen in TV-Gesellschaften und Industriekonzernen belegt. Die christliche Rundfunk- und Fernsehgesellschaft CBN-C, die täglich 24 Stunden lang religiöse Programme und Talkshows ausstrahlt, drang jüngst »kühn in einen Markt vor« (CBN-C-Vizepräsident Robert Aaron), den bislang die kommerziellen TV-Gesellschaften beherrschten.

Seit Anfang Juni strahlt CBN-C täglich die Soap-opera »Ein anderes Leben« aus, in der -- wie in den herkömmlichen Seifenopern auch -- Themen wie Ehebruch, Drogenmißbrauch und Promiskuität abgehandelt werden. Nur: Das »andere Leben« scheint tatsächlich anders, gottgefällig und rein und nicht so abgefeimt, wie es die anderen TV-Kanäle darstellen.

Die CBN-C-Serie -- deren handelnde Personen »ihre Stärke aus Gott beziehen« (Aaron) -- wurde bisher von 56 TV-Stationen angekauft, offenbar genug, um auch die Werbeagenturen dafür zu interessieren: CBN-C, dessen Programm in 85 Prozent der 78 Millionen amerikanischen Fernsehhaushalte empfangen werden kann, berechnet für einen 30-Sekunden-Spot im »anderen Leben« nur 2000 Dollar, bei ABC kostet die halbe Minute zur gleichen Sendezeit mehr als fünfmal soviel.

Zögernd und vereinzelt nur formiert sich die Opposition gegen die erstarkende Rechte. Aber bislang haben Amerikas Liberale offenbar noch nicht den richtigen Tonfall gegen die vereinfachenden und zweifellos eingängigen Formeln der Tugendwächter gefunden. Wenn etwa der durch die »Moral Majority« bei der letzten Wahl aus dem Amt gedrängte Ex-Senator George McGovern vor den »irrationalen Kräften in der amerikanischen Politik« warnt, die »Liberale« wie »Konservative« bedrohen, so verfängt das vielleicht an den Universitäten. Die Amerikaner in den Kleinstädten des Mittleren Westens aber wollen oder können solche Gefahren nicht -- oder nicht mehr -sehen.

Nirgendwo anders nämlich hat die »Moral Majority« in den letzten Monaten ihre Anhängerschaft stärker vergrößern können als in »smalltown U.S.A.«, wo Kirchgang und Sonntagsschulen noch die Regel sind.

Von Blunt in South Dakota (445 Einwohner) über Buhler in Kansas (1018 Einwohner) bis in den Heimatort des CBTV-Chefs Wildmon, Tupelo in Mississippi (23 934 Einwohner), hat sich eine Bewegung formiert, der alles suspekt ist, was in weitestem Sinne gegen die Familie, gegen Gott und gegen Amerika zu sein scheint.

Ihr Erzfeind heißt »weltlicher Humanismus«, der »überall ist und unsere Nation, unsere Familien und jeden zerstört«, so Lottie Beth Hobbs, Präsidentin S.121 des Pro-Familien-Forums im texanischen Fort Worth.

Die humanistische Philosophie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, freies Denken und wissenschaftliche Untersuchungen fördert und keine unverrückbaren ethischen Werte kennt, manifestiere sich vor allem in den Schulen und sei für alles Üble auf dieser Welt verantwortlich -- für Verbrechen und Drogen, für sexuelle Freizügigkeit und, natürlich, auch für den Machtverfall Amerikas.

Auf die humanistische Gefahr machen Elterngruppen mit eigenen Broschüren aufmerksam. Titel: »Weine für deine Kinder« oder »Die Haßfabrik«. In den Schulen, so trommeln die Pamphlete, würden die Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen, lernten, Selbstmord und Euthanasie zu akzeptieren. Sozialistische Praktiken wie türenlose Klassenräume führten dazu, daß die Kinder kein kapitalistisches Konkurrenzdenken entwickelten.

Wie man sich gegen solche Gefahren zur Wehr setzt, zeigte etwa die Highschool von Onida (South Dakota). Aus dem Informationsbüro der Schule wurde die Broschüre über Geburtenkontrolle verbannt, aus dem Biologiekurs alles, was mit dem Begriff »Evolution« zu tun hat, und in der Englischklasse wurde der Huxley-Klassiker »Schöne neue Welt« vom Stundenplan gestrichen.

In French Lick (Indiana) wird auf Betreiben eines Pastors der »Tod des Handlungsreisenden« von Arthur Miller nicht mehr in der Schule durchgenommen, weil Schüler der 11. Klasse daraus »anstößige Szenen« laut vorlesen mußten.

Besonders hart griff vergangenen Herbst der Schulvorstand in Warsaw durch. Zunächst wurden Diskussionsgruppen, in denen über Scheidung, vorehelichen Sex und Marihuana gesprochen wurde, aufgelöst. Dann nahm das Gremium 40 Bücher aus der Schulbibliothek und gab sie einer lokalen Seniorengruppe zur »Bewertung«. Deren Urteil war heimleuchtend: Die Bücher gingen auf einem Parkplatz in Flammen auf.

In 34 der 50 US-Staaten wurden, so weiß der amerikanische Bibliotheksverein, seit der Reagan-Wahl vom vorigen November Versuche unternommen, insgesamt 148 verschiedene Bücher aus den Bibliotheksregalen zu verbannen oder nur einem begrenzten Leserkreis zugänglich zu machen.

Und bislang dämmert in Middle America nur wenigen, was da möglicherweise auf sie zukommt. Die Englischlehrerin Vicky Brooks aus Butte in Montana jedenfalls sorgt sich um ihren Sohn, der nach dem neuen Lehrplan kaum »lernen wird, zu denken und verschiedene Meinungen gegeneinander abzuwägen ... Leute, die nicht denken können«, so Vicky Brooks, »sind reif für die Diktatur.«

S.119Oben: Bei einer öffentlichen Veranstaltung in Trenton (New Jersey);*unten: Szenenphoto aus »Dallas«.*

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