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KREUZBERG Schwarze Nacht

In Berlins rüdester Krawallnacht zeigte sich eine neue Tätergruppierung: neben vermummten Autonomen Brandstifter ohne Maske und Plünderer in Stöckelschuhen. *
aus DER SPIEGEL 20/1987

In besseren Zeiten stand am Görlitzer Bahnhof ein Kino namens Kolosseum. Aber lange schon ist die Gegend im südöstlichen Kreuzberg heruntergekommen, und Bolles Lebensmittelmarkt, der in den sechziger Jahren auf dem Kinogrundstück aufmachte, war auch nicht gerade das Prunkstück der Berliner Ladenkette. Die Kundschaft konnte Filialleiter Michael Imm zuletzt »an drei Fingern abzählen: erstens Studenten, zweitens Arbeitslose, Punker und sozial Schwache, drittens Alte«.

Ladendiebstahl? Imm: »Wenn wir den Spirituosenstand unbewacht gelassen hätten, in einer halben Stunde wäre er leer gewesen.« Wurde mal einer »mit ''ner Flasche Remy« erwischt, habe der prompt zurückgeblafft: »Komm, scheiß dir nicht in die Hose, das trifft doch nur die Companie.«

Die traf es in den Jahren, da Hausbesetzer und Polizisten sich um die Ecke wüste Schlachten lieferten, so regelmäßig, daß die Versicherung wegen der ständigen Entglasungen kein Schaufenster mehr ersetzte. Die Firma hatte deshalb vor den Scheiben sicherheitshalber Spanplatten festnieten lassen. Aber das nützte in der Nacht zum 2. Mai dieses Jahres auch nichts mehr.

»Plünderung des Geschäftes Firma Bolle«, vermeldete der polizeiliche Verlaufsbericht erstmals um 22.37 Uhr. Die Meldung »Feuer in dem Geschäft Bolle« folgte vier Minuten später. Um 23.30 Uhr registrierte die Funkbetriebszentrale erneut »Plünderung bei der Firma Bolle«. Dann, um 1.20 Uhr, die Alarm-Meldung: »Brand bei Bolle«.

In dieser schwülen Nacht stand »Bolle« für viele. Aggression entlud sich gegen Döner Kebab wie Müsli-Klitschen, Tante-Emma-Läden, Getränke-Hoffmann wie Supermärkte. Einen Tag, nachdem der West-Berliner Senat im Internationalen Congress Centrum den Auftakt der 750-Jahr-Feier zelebriert hatte, erlebte der Bezirk Kreuzberg Randale, wie sie sich nicht einmal in den wildester Jahren der Apo und des »Häuserkampfes« zugetragen hatte.

Quer durch den Kiez beleuchteten über Kilometer flackerndes Blaulicht und brennende Straßen eine »Szene der Ekstase« ("taz"): Gewalttäter mit und ohne Schlitzmützen schleuderten Stahlkugeln, warfen Molotow-Cocktails auf Beamte. Plünderer schafften Schweinehälften, Alkoholika, Dessous und Fahrräder beiseite. Telephonzellen, Autos, U-Bahnanlagen gingen zu Bruch. Kreuzberg war Harlem.

193 Verletzte zählte die Polizei in den eigenen Reihen, der finanzielle Schaden der Geschäftswelt summierte sich nach Schätzungen der Industrie- und Handelskammer auf zehn bis 15 Millionen Mark. Auf der Strecke blieb die Fiktion des konservativen Senats, in sechsjähriger Regentschaft die einstige Krawall-Hauptstadt auch an den sozialen Rändern befriedet zu haben.

Verdrängt war, daß Kreuzbergs Subkultur ihre Abkoppelung von der Bürgerstadt seit je wütend nach außen kehrt. Auch Jahre nach dem »Häuserkampf« fliegen immer mal wieder Steine oder Brandsätze auf Polizeitransporter. Nun, nach der schwarzen Nacht, sieht West-Berlin - amtlich mit Bangen, auf der Szene mit Geheul - dem 12. Juni entgegen: Es ist der Tag, an dem US-Präsident Ronald Reagan die Stadt besucht. Und vorher ist da noch die Volkszählung.

Auch »Feste der Zukurzgekommenen«, wie ein Kreuzberger Sanierungsbeauftragter die Gewaltorgien sarkastisch nennt, haben ihren Anlaß. Und wenn das mitunter ein Staatsbesuch ist, so kann es manchmal auch der Umstand sein, daß zur Unzeit die Polizei im Kiez auftaucht. Am Morgen des 1. Mai war sie mit zehn Einsatzwagen vor dem Kreuzberger Alternativzentrum »Mehringhof« angerückt und hatte, ohne Durchsuchungsbefehl, Büros von Volkszählungsgegnern nach Boykott-Flugblättern durchwühlt.

Der Einsatz im Berliner Herzstück der bunten Bewegungen stimmte für die nächste Runde ein. Beim Sommerfest _(Am 1. Mai. )

auf dem Lausitzer Platz, das Alternative Liste und SEW für Tausende Kreuzberger am gleichen Nachmittag gaben, planten autonome Gewalttäter Revanche und die Polizeiführung vorsichtshalber 250 Mann Extra-Bereitschaft ein. Das Fest endete im Tohuwabohu: Steine flogen, Tränengasgranaten landeten noch auf umliegenden Balkons.

Dem polizeilichen Übereinsatz bei Kaffee und Kuchen folgte später, als es vielerorts in Kreuzberg brannte, polizeiliche Unterzahl: Mangels Mannschaft blieben ganze Straßenzüge stundenlang in Chaotenhand. Im Steinhagel auf der Oranienstraße flüchteten Beamte der dort eingesetzten zwei Hundertschaften, junge Polizisten erlitten Schreikrämpfe; in 55 Fällen wurden Feuerwehrtrupps am Löschen gehindert oder erreichten ihre Einsatzorte nicht. »Organisatorische Mängel« bekannte denn auch der Polizeisenator Wilhelm A. Kewenig, der für Kreuzberg eine verstärkte Stationierung von Polizei und »vorbeugende Gewalt« ankündigte. Bürgermeister Eberhard Diepgen ließ verlauten, daß dank polizeilicher Vorkehrungen sich dergleichen nicht wiederholen werde.

Eine »törichte Bemerkung« nannte das die »Frankfurter Rundschau«. Denn was im Kiez von Kreuzberg aufbricht, wo sich ein enormes Potential sozialer Mißstände aufgestaut hat, ist schlechterdings _(Dahinter, Gesicht halb verdeckt, der ) _(Kreuzberger Bezirksbürgermeister Krüger; ) _(bei Besichtigung der Krawallschäden. )

nicht prognostizierbar. Polizeipräsenz hat Eruptionen der Gewalt dort noch nie verhindert.

In »SO 36«, der nach einem alten Zustellbereich benannten Mietshäuserwüste, liegt das Elendsquartier Kreuzbergs. Zwischen Kottbusser Tor und Mauer leben an die 50000 Menschen, auf engem Raum und billig; Berlins schäbigster Altbaubestand kostet pro Quadratmeter teils unter drei Mark Miete. Die Bewohner von SO 36 leben mehrheitlich (56 Prozent) unter dem amtlich definierten Existenzminimum.

In den verfallenden Häusern vom amtlichen »Typ B« - was auch Bruchbudenbestand heißen könnte - wohnen vorwiegend Türken, Schüler und Studenten. Doch immer mehr Sozialhilfeempfänger Schattenwirtschaftler und Drop-outs ziehen zu.

Der bürgerliche Bewohner-Rest zeigt zwar Standorttreue; zwei Drittel der Deutschen bejahten 1985 die Repräsentativfrage, ob sie »gern« in der Gegend lebten. Doch die Milieu-Verschiebung hält an: »Auch in Zukunft werden sich Gruppen mit geringem Einkommen im Gebiete konzentrieren«, heißt es in einer offiziellen Stadtplaner-Studie aus dem vergangenen Jahr.

Kreuzbergs Punks und Stadtindianer haben zwar schon für die Weltstadtwerbung des Senats hergehalten. Mit buntem Schopf, schwarzer Kluft und piepsenden Ratten stehen sie für die bizarre Spannbreite der Stadt. Aber die Kehrseite der Folklore taugt nicht zum Renommieren: In SO 36 sind etwa 40 Prozent aller Jugendlichen arbeitslos; genau ist das nicht zu ermitteln. Das Reservoir Randständiger schwillt von Jahr zu Jahr an.

Da hat sich eine Stütze-Gesellschaft etabliert, aus der immer mehr Alkoholiker, Junkies und Schnüffler herausfallen. An die 2000 sind Obdachlose, Angehörige jener »Bevölkerungsgruppe, die nur noch nebenher lebt« (so der Kreuzberger AL-Politiker Reimund Helms). »Lumpenproletariat«, urteilte unlängst die »taz«.

Klaus Kliesch, Pfarrer der katholischen St.-Marien-Gemeinde, unterhält in der Wrangelstraße nach Harlemer Muster eine öffentliche Suppenküche; die kommt mit der Essensausgabe »oft nicht nach«. Kliesch ist »ratlos und wütend«, weil der Senat seiner Ansicht nach zu wenig gegen »die Verelendung« tut. Amtskollegen beklagten letzte Woche per Telegramm an die Regierung »ungelöste Ungerechtigkeiten« im Quartier.

Gegen den Senatsbeschluß, auf einer Kreuzberger Gesamtschule das Modellprojekt zur besseren Integration der ausländischen Mitschüler (40 Prozent) zurückzuschrauben, streikten gerade Eltern und Lehrer gemeinsam. Der Weiße Kreis, der vom übernächsten Jahr an höhere Mieten bringt und in Kreuzberg das Gros der Bewohner trifft, schürt Unmut. Das Mißtrauen ist wieder von den Wänden abzulesen: Aufschriften gegen bevorstehende »Schnüffelei im Mai« und »Volxquälung« beseitigt die Verwaltung erst gar nicht mehr.

Ausgesonderte Berliner« nennt der Verein SO 36«, eine örtliche Bürgergruppe, die Kreuzberger. Außer einigen postmodernen Bauten der Internationalen Bauausstellung hat Kreuzberg denn auch wenig von dem im übrigen Stadtbild _(Am Tag nach den Krawallen. )

allenthalben sichtbaren Festputz für Hunderte von Millionen vorzuweisen.

Per Altbausanierung durch die Modernisierungsgesellschaft S.T.E.R.N. wurden zwar schon an die 4000 Wohnungen aufbereitet. Doch, so fragt sich der S.T.E.R.N.-Sprecher Günter Fuderholz, »was nützt es dem Bewohner, wenn er jetzt warm baden kann, und er ist immer noch arbeitslos?« Die Regierungsplaner hätten es versäumt, so St.-Marien-Pfarrer Kliesch, »sich den Kreuzberger Problemen so kreativ zu stellen wie den Vorbereitungen der 750-Jahr-Feier«.

Der Jubiläumstrubel hatte zwei Tage vor dem Aufruhr am westlichen Ende der Oranienstraße mit einer Champagner-Sause im Festzelt des Springer-Verlages begonnen. Doch die Feierlaune der dort gastierenden Ku''damm-Gesellschaft übertrug sich kaum auf Kreuzberg. Eine Jung-Bürgerin nach der Brandnacht: »Die haben ihre Bälle jejeben, und wir müssen immer zukieken.«

Als in der Nacht zum Samstag am anderen Ende der Oranienstraße der geplünderte Bolle-Markt verbrannte und das Dach einstürzte, klatschte die Menge. Auf merkwürdige Weise ordneten sich in dieser Nacht die alten Konfrontationslinien neu.

Einerseits gab es da eine in diesem Ausmaß nie beobachtete Allianz zwischen schwarzem Block und bürgerlicher Unzufriedenheit. Deutsche und Türken fraternisierten beim Einsacken von Diebesgut, Innensenator Kewenig gewahrte inmitten von Gewalttätern »Herren, die bürgerlich aussahen, und Damen mit Stöckelschuhen«. CDU-Bezirksbürgermeister Wolfgang Krüger berichtete, wie Anwohner »Selbstversorgung« durch Plünderei trieben; die evangelische Pastorin Irmela Mukurarinda beobachtete sogar Mitglieder ihres Seniorenkreises beim Beutemachen.

Andererseits ist den erfahrenen Arrangeuren von Gewaltaktionen, den Autonomen, erstmals das Heft entglitten. Sie, die am Lausitzer Platz noch die ersten Steine schmissen, erlebten frustriert, daß sich andere ihre eigenen Ziele suchten. Verkehrte Welt: Unvermummte marodierten durch den Stadtteil, Vermummte stellten sich schützend ("Macht doch keinen Scheiß") vor Schaufenstern auf. Dem Fleischermeister am Heinrichplatz wurde keine Scheibe geritzt, weil autonome Schadensbegrenzer der Menge klarmachten, dies Geschäft gehöre »zum Kiez«. Das Schmuckgeschäft daneben ging in Trümmer.

In dieser Nacht wurden viele kleine Läden plattgemacht«, klagten anderntags die Autonomen per Flugblatt, »wir finden das beschissen.« Die ungewohnt machtlosen Regisseure hatten erfahren müssen, daß hier Leute zuschlagen, »die gegen alles sind«. So formulierte es Bürgermeister Diepgen, der »Anti-Berliner« am Werke sah.

Kreuzberger Nächte sind lang nicht mehr, was sie einmal waren.

Am 1. Mai.Dahinter, Gesicht halb verdeckt, der KreuzbergerBezirksbürgermeister Krüger; bei Besichtigung der Krawallschäden.Am Tag nach den Krawallen.

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