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VOLKSWARTBUND Schwarze Sehnsucht

aus DER SPIEGEL 43/1962

Die Memoiren des französischen Druckers und Erotomanen Restif de La Bretonne umfassen drei Bände mit zusammen 760 Seiten sowie ein loses, nur auf besondere Bestellung geliefertes Blatt. FAZ-Kritiker Friedrich Sieburg ("Gott in Frankreich") nannte den 1806 im Alter von 72 Jahren gestorbenen Autor ein »talentiertes Ferkel«, »Welt«-Kritiker Willy Haas hingegen fand das Erinnerungswerk nur für Staatsanwälte aufregend« und prophezeite: »Jeder Leser wird tief enttäuscht sein der dieses Buch als Pornographie sich gekauft hat.«

Dennoch blieben die bibliophilen Schmöker aus dem Hamburger Gala-Verlag fünf Tage lang unter Verschluß. Der in Köln ansässige Volkswartbund - Untertitel: »Bischöfliche Arbeitsstelle für Fragen der Volkssittlichkeit« - hatte an den galanten Berichten Anstoß genommen und die Beschlagnahme durchgesetzt.

Knapp eine Woche lang - vom 19. bis zum 24. September - triumphierten die Tugendwahrer aus dem Rheinland. Dann sorgte Hamburgs Generalstaatsanwalt Ernst Buchholz für die Freigabe der Druckwerke*.

Verboten bleibt dem Gala-Verlagsleiter Wilhelm Krohn lediglich, den losen Anhangzettel zu vertreiben, auf dem jene erotischen Passagen ins Deutsche übersetzt sind, die im zweiten Band der Memoiren vorsichtshalber lateinisch wiedergegeben werden.

Der Volkswartbund, rund 3000 Mitglieder stark und 1898 als »Verein zur Bekämpfung öffentlicher Unsittlichkeit« gegründet, aber erst in der Bundesrepublik zu eifervoller Aktivität erwacht, hatte eine Schlacht verloren.

Die militanten Sittenhüter aus Köln, deren Vorsitzender nicht frei gewählt, sondern vom Kölner Erzbischof ernannt wird, haben im Visier:

- Literatur, soweit sie erotische Schilderungen enthält,

- Vereine für Freikörperkultur,

- Illustrierte und Zeitschriften,

- Aktfilme aus Frankreich und Skandinavien,

- Versandhäuser, deren Sortiment auch sexualhygienische Artikel umfaßt.

Nach eigenen Angaben prüfte die »Bischöfliche Arbeitsstelle« zwischen 1959 und 1961

- 593 Romane und Aufklärungsschriften sowie fortlaufend

- 26 Zeitschriften, Magazine, Filme und Bildserien.

Aus dieser Prüfungstätigkeit, so hieß es im Arbeitsbericht des Vereins, gingen 271 Anträge, ein Buch In die Liste jugendgefährdender Schriften aufzunehmen, hervor, denen in 92 Fällen eine Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften folgte.

Ferner: »Darüber hinaus wurden 702 Anzeigen bei deutschen Staatsanwaltschaften erstattet.«

Klagt Friedrich Weyer, Generalsekretär der bischöflichen Volkswartler: »Mit dem Anspruch, Kunst zu sein«, dringe eine Literaturgattung auf den bundesdeutschen Büchermarkt, die »darauf abzielt, gesellschaftliche Tabus einzureißen, eine ,morbide' Sittenordnung ad absurdum zu führen, um schließlich als verkappte Pornographie zum Bestseller zu avancieren«.

Beispielhaft für diese »Unterleibsliteratur« (Weyer) seien

- »Lady Chatterley« von D. H. Lawrence,

- »Lolita« von Vladimir Nabokov und

» La Nola« von Alberto Moravia.

Um seine These zu untermauern, die drei Romane seien unzüchtig, hat der Volkswartbund als anstößig empfundene Passagen aus ihnen herausdestilliert und - zusammen mit anderen Zitaten - in einer Broschüre zusammengestellt. Titel: »Literarischer Jugendschutz in der Sackgasse?« Ergebnis in Sachen »Lady Chatterley": »Die absolute Schamlosigkeit ist in dem ganzen Buch dominierend.«

Kommentar des SPD-Pressedienstes: »Wenn man immer wieder dieselben Stellen liest...«

Anfang 1960 stellten die Kölner Sittlichkeitswarte den Antrag, Vladimir Nabokovs Liebesgeschichte zwischen dem Privatgelehrten Humbert Humbert und dem Teenager-Flittchen Lolita zu verbieten.

Begründung: »Das Buch ist jugendgefährdend wegen der darin enthaltenen unsittlichen Schilderungen und der Auffassung, die zum Ausdruck gebracht wird.«

Dem interessierten Volkswartler, dem die Broschürenflut seines Vereins stets ins Haus gelenkt wird, haben die Kölner Tugendwächter auch gleich angegeben, welche »Lolita«-Seiten er lesen muß, um Anstoß zu nehmen. Freilich: »Es handelt sich nur um einige, herausgegriffene Beispiele.«

Entsprechend waren die Reaktionen der Länderministerien, die zu Indizierungsanträgen bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften berechtigt sind. Keines der angeschriebenen Ministerien entsprach der Volkswart-Bitte.

Im Gegenteil: Ein Ministerium hielt den katholischen Sittenwächtern eine Besprechung des Nabokov-Romans in der ebenfalls katholischen Zeitschrift »Wort und Wahrheit« entgegen. Dort hieß es: »,Lolita' ist, so seltsam das klingen mag, christlichem Geist verhaftet.«

Bei der Rezension des Moravia-Buches »La Noia« schließlich werden die Maßstäbe der Volkswarte noch deutlicher: »La Noia«, so urteilten sie, »hinterläßt durchaus den Eindruck, als habe sein Autor nach einem Weg gesucht, wie er eine Pornographie ungestraft ... auf den Büchermarkt bringen konnte«.

Und: »Ekel muß auch den vernünftigen Leser befallen, der sich durch dieses Machwerk hindurchquält.«

Die Antwort des Volkswartbundes auf die von ihm selbst gestellte Frage, ob der literarische Jugendschutz in eine Sackgasse geraten sei: »Als größtes Hemmnis für einen situationsgerechten Jugendschutz aber muß die Tatsache angesehen werden, daß ... die Freiheit der Kunst als ein höheres Gut angesehen wird, als eine gesunde und sittlich intakte Jugenderziehung.«

Verstimmt registrierten die bischöflichen Sittenwächter überdies, daß »kunstbeflissene Zeitgenossen« danach zu lechzen scheinen, »aus, den neu aufbrechenden Literat-urquellen zu trinken«, und daß »sich gerade in jüngster Zeit Stimmen und Stimmung in der Öffentlichkeit in oft hämischer Freude Ausdruck über das Mißlingen gutgemeinter Arbeit zum Wohle der Jugend ..verschaffen«.

Namhafte Beschützer der von Volkswarte aus zu verbietenden Literatur seien der Literat Hermann Kesten, der Kritiker Friedrich Sieburg und der Kulturphilosoph Ludwig Marcuse.

Marcuse hatte in einer jüngst erschienenen »Geschichte einer Entrüstung« Vereinigungen wie dem Volkswartbund ins Buch geschrieben: »Es gibt politische, moralische und religiöse Organisationen, die das Anstoßnehmen verwalten.« Und: »Wenn heute alle Gesetze und alle Diskussionen, das Obszöne betreffend, verschwinden würden, verlören gewiß unzählige Menschen Themen, Stellungen und Gelegenheiten, Dampf abzulassen*.«

Volkswart und Romancier Dr. med. Berglar-Schröer dagegen argumentierte auf der Jahrestagung seines Vereins: Man dürfe sich gar nicht erst auf die Debatte einlassen, ob ein literarisches Werk für sich in Anspruch nehmen könne, Kunst zu sein. Denn: Man müsse vor allem auf die Jugendgefährdung hinweisen.

Diese Auskunft gaben die Volkswarte auch dem Frankfurter Verleger Erich Bärmeier, der zusammen mit Kompagnon Hans Nikel die satirische Monats-Zeitschrift »Pardon« herausgibt. In der Mitte der »Pardon«-Nummer 1 war ein aus stilisierten nackten Körpern gebauter Tramwagen abgebildet, in dessen Fahrgastraum ein ausgelassenes Fest gefeiert wird, während der Leibhaftige am Steuerknüppel steht. Unterschrift: »Eine Straßenbahn namens Sehnsucht.«

Kaum war das »,Pardon«-Heft In Köln ausgeliefert, da drohte Volkswartbund-Referent Brox den Zeitschriftenhändlern der Domstadt mit einer Anzeige: Dieses Bild, so erfuhr der von einem Grossisten aufgescheuchte Bärmeier am Telephon, sei »offensichtlich jugendgefährdend«.

Bärmeier resignierte; »Pardon« erschien im Raume Köln mit schwarz überdruckter Sehnsucht-Zeichnung.

Die Aufregung des bedrohten Grossisten ist freilich nicht unverständlich. Denn Zeitschriftenhändler, die für eine von ihnen vertriebene Publikation verantwortlich gemacht und angezeigt werden, müssen mit zeit- und geldraubenden Prozessen rechnen. Schon die Androhung einer Anzeige hat deshalb zumeist Erfolg.

Überdies sind die Bestimmungen des seit 1953 gültigen und 1961 erweiterten Gesetzes über jugendgefährdende Schriften so dehnbar, daß es manchmal zu grotesken Entscheidungen kommt.

Beispielsweise hatte das Bonner Landgericht den Roman des Schriftstellers Gilbert Merlin »Andrea und die rote Nacht« als unzüchtig im Sinne des Strafgesetzbuch-Paragraphen 184 verboten. Die von Oberregierungsrat Schilling geleitete Bad Godesberger Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften dagegen lehnte eine Indizierung ab.

Um der Rechtsunsicherheit nicht jeweils allein ausgesetzt zu sein, schloß sich im vergangenen Jahr eine Reihe westdeutscher Verleger auf Initiative ihres Bonner Kollegen Hieronimi zu einer Schutzgemeinschaft zusammen, die, wie es im Gründungsaufruf heißt, den Anfängen wehren und zu Organisationen wie dem Volkswartbund ein Gegengewicht bilden soll.

Der Münchner Buchheim-Verlag gab sich humoriger. »Wir bitten Sie inständig«, so schrieb der Verlag an die Kölner Tugend-Zentrale, »auch an unseren Büchern Anstoß zu nehmen. Alle die im (beigelegten) Prospekt aufgeführten Bücher sind für Ihre Zwecke - des Anstoßnehmens - bestens geeignet. Da unser Werbeetat... gering ist, bitten wir Sie nachdrücklich um Ihre geschätzte Hilfe.«

* Restif de La Bretonne: Monsieur Nicolas": drei Bände; Gala Verlag Hamburg-Altona; Insgesamt 760 Selten; zusammen 195 Mark.

* Ludwig Marcuse: »Obszön«. Paul List Verlag, München; 408 Seiten; 18,80 Mark.

Volkswart Berglar-Schröer

Was obszön ist

Gerügte Autoren Restif, Lawrence, Nabokov, Moravia: Schamlos?

Gerügte »Pardon«-Karikatur: Jugendgefährdend?

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