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Nordirland Schwarze Wolke

Politiker verheißen Frieden noch vor Weihnachten. Doch in Belfast wächst die Angst vor dem nächsten Terrorschlag.
aus DER SPIEGEL 46/1993

Wenn sich Trauer, Wut und Zorn in seiner Seele wieder einmal zu einer explosiven Mischung aufstauen, dann drischt Patrick Lavery, 20, auf Wände und Türen ein - so lange, bis seine Fäuste blaugeschwollen sind und der pochende Schmerz Tränen in seine Augen treibt.

Seine Schwester Therese, 17, leidet dagegen still, wenn die Erinnerung sie überkommt. Dann sitzt das Mädchen mit den roten Locken regungslos in ihrem Zimmer und starrt die Wand an. Weder ihre drei Geschwister noch Mutter Tracy, 39, wagen es in solchen Momenten, Therese anzusprechen.

Im Dezember wird sich zum ersten Mal das Unheil jähren, das die Familie Lavery aus dem nordirischen Belfast ereilte. Es hat sich, so Patrick, »wie eine schwarze, erstickende Wolke über uns gelegt«.

Fünf Tage vor Weihnachten 1992 waren zwei maskierte Männer ins Reihenhaus der Laverys im Arbeiterviertel Ardoyne eingedrungen und hatten Vater Martin, 40, mit fünf Schüssen tödlich verletzt. Therese telefonierte gerade mit einer Freundin und wurde durch die geöffnete Wohnzimmertür Augenzeugin der Hinrichtung.

Martin Lavery war kein Politiker, nicht einmal Aktivist in einer der zahlreichen Organisationen, die einander in Ulster bekriegen. Der Arbeiter mußte sterben, weil er Katholik war. Seine Mörder, ein Killerkommando der protestantischen paramilitärischen Organisation UVF, nahmen an ihm Rache für den Tod eines Protestanten, der kurz zuvor von der katholischen Untergrundarmee IRA erschossen worden war - so funktioniert die grausame Logik des nordirischen Bürgerkriegs.

Seit 24 Jahren tobt der Kampf zwischen britannientreuen Protestanten und Extremisten der katholischen Bevölkerungsminderheit, die den Anschluß an die Irische Republik herbeibomben wollen. Beide Gruppen ließen die Enklave »zu einem Trümmerfeld von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung« verkommen (so Bischof Samuel Poyntz, Oberhaupt der protestantischen Church of Ireland).

Die ersten Wochen nach dem Mord an seinem Vater trug sich Patrick Lavery mit dem Gedanken, als Freiwilliger der IRA den Tod seines Vaters zu rächen. Ardoyne liegt im Westen von Belfast und ist eine Hochburg der katholischen Untergrundkrieger, jeder junge Mann kennt die Adressen der IRA-Rekrutierungsbüros. Aber er besann sich schnell: »Nichts macht meinen Daddy wieder lebendig. Was passiert denn, wenn ich einen Protestanten umbringe? Dann gibt es noch mehr Kinder, die so leiden wie wir.«

Patrick und seine Schwester Therese haben sich statt dessen der Belfaster Gruppe »Loss« (Verlust) angeschlossen - Jugendlichen, deren Väter durch Sektierer-Terror ums Leben kamen. Vor knapp zwei Jahren als Gesprächs- und Therapierunde gegründet, hat sich der Kreis mittlerweile ehrgeizigere Ziele gesetzt. »Wir wollen«, sagt Kate Mahon, 20, »in diesen tragischen Zeiten eine kleine Stimme der Vernunft und Hoffnung auf Frieden sein.«

Die Betriebswirtschaftsstudentin verlor ihren Vater vor zwei Jahren. Der Manager einer Belfaster Bar wurde Opfer eines Mißverständnisses: Die Killer, Katholiken wie er selbst, hatten ihn für einen Protestanten gehalten, weil sein Arbeitsplatz in einem mehrheitlich protestantischen Stadtteil lag.

Kate wohnt an der Falls Road, einem ausschließlich katholischen Viertel West-Belfasts. Die nächste größere Straße ist die Shankill Road, Zentrum der protestantischen Gemeinde. Dazwischen verläuft, in einer Art Niemandsland, eine meterhohe Mauer, mit Stacheldraht gesichert und nachts von Scheinwerfern der Armee angestrahlt.

Die Demarkationsgrenze, euphemistisch »peace line« genannt, scheint nötiger denn je, seit in den vergangenen Wochen ein neuer Höhepunkt an Terror erreicht wurde: Ende Oktober brachte ein Sprengstoffpaket, das in einem Fischladen deponiert worden war, ein Haus an der Shankill Road zum Einsturz. Bei der Explosion starben zehn Menschen, darunter einer der beiden IRA-Attentäter.

Eine Woche später schlugen die Protestanten zurück. Zwei Killer erschossen im bislang friedlichen Provinzkaff Greysteel sieben Pub-Besucher.

Nach diesem bislang schlimmsten Ausbruch von Gewalt hat sich über Belfast lähmende Angst ausgebreitet. »Die Menschen werden paranoid«, meint Kate Mahon, »wir verbarrikadieren uns und hoffen, daß der Terror diesmal an uns vorbeizieht.«

Wenn gegen 17 Uhr die Dunkelheit hereinbricht, hasten die Bürger in ihre Häuser und Wohnungen. Belfasts Pubs und Bars, sonst zweites Wohnzimmer der geselligen Nordiren, bleiben abends leer. In den Straßen patrouillieren schwerbewaffnete britische Armee-Streifen und die selbsternannten Sicherheitsdienste der Paramilitärs.

Zunehmend richten sich die Friedensmärsche Belfaster Bürger nicht nur gegen Terroristen-Gemetzel, sondern auch gegen die wachsende Bevormundung und Kontrolle der Kampforganisationen über die eigenen Glaubensgenossen. Loss-Mitglied Kate Mahon: »Es ist auf beiden Seiten nur eine winzige Minderheit, die den Krieg will. Die große Mehrheit will Frieden und Aussöhnung.«

Paradoxerweise haben sich nach dem Schock über die jüngsten Massaker die Chancen dafür verbessert. Eine Initiative der Katholiken könnte die starren Bürgerkriegsfronten erstmals aufbrechen. John Hume, 56, Chef der sozialdemokratischen nordirischen SDLP, hat sie gestartet.

Gemeinsam mit Gerry Adams, 45, Präsident von Sinn Fein, dem legalen politischen Arm der IRA, plädiert Hume für eine Friedenslösung. Sie sieht einen Waffenstillstand sowie einen Runden Tisch mit sämtlichen Bürgerkriegsparteien sowie Repräsentanten der Londoner und Dubliner Regierung vor.

Die nordirischen Loyalisten, die sich nicht als Iren, sondern als Nachfahren schottischer und englischer Siedler sehen, wollen dagegen erst verhandeln, wenn die IRA ihre Waffen niedergelegt hat. Dies fordert auch die britische Regierung, die längst keine strategischen Interessen mehr in Irland besitzt und die Enklave mit jährlich vier Milliarden Pfund alimentieren muß - zum wachsenden Überdruß der Steuerzahler.

Dublins Premier Albert Reynolds glaubt, daß eine umfassende Friedenslösung »noch vor diesem Weihnachtsfest« ausgehandelt werden könne. Sein Beitrag: Verzicht auf das in der irischen Verfassung verankerte Wiedervereinigungsgebot mit Ulster.

Die jugendlichen Friedensaktivisten an der Basis versagen sich Illusionen: »Ich fürchte, es ist schon zuviel Blut vergossen worden. Die Menschen können nicht so rasch vergessen«, sagt die Studentin Mahon.

Wie tief der Bürgerkrieg die Gräben zwischen Katholiken und Protestanten auch in ihrer Generation aufgerissen hat, zeigt ihr bislang vergeblicher Versuch, mehr protestantische Halbwaisen für Loss zu gewinnen. Nur ein Mitglied ist nicht katholisch.

Mahon: »Es ist, als stünde zwischen uns eine Mauer. Dabei gehen wir doch alle durch die gleiche Hölle.« Y

Die IRA soll ihre Waffen niederlegen

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