Schwarzkopf Pascha in Bagdad
George Bushs Kurswechsel kam überraschend wie der Beginn des Kriegs. »Irgend jemand rief an und sagte, dreh mal CNN an«, berichtete ein US-Diplomat aus der nahöstlichen Krisenregion.
Der Sender, dessen Bilder von alliierten Bombenangriffen auf Bagdad die Nachricht vom Kriegsbeginn am Golf um die Welt getragen hatten, verbreitete am Dienstag voriger Woche eine politische Sensation: Nach wochenlangem Sträuben wollte der Präsident nun doch seine Soldaten den vom Tod bedrohten Kurden zu Hilfe schicken. Dem »Wüstensturm« folgt die »Operation Trost spenden«.
Die 180-Grad-Wende führt die USA in eine neue Konfrontation mit dem Regime in Bagdad, wie sie George Bush unter allen Umständen hatte vermeiden wollen. Der Auftrag an die Militärs, geflohene Kurden in Lagern auf irakischem Boden zu sammeln, zu versorgen und zu schützen, ist weder zeitlich begrenzt noch inhaltlich klar definiert.
Zudem birgt er das Risiko, daß Amerikas Hilfskorps in den irakischen Bürgerkrieg hineingezogen wird, und bürdet den Militärs die Verantwortung für das Wohlergehen der kurdischen Minderheit auf - was Schutzwünsche auch bei anderen von Saddam unterdrückten Bevölkerungsgruppen, etwa den Schiiten im Süden des Irak, wecken dürfte.
Die aber können letztendlich nur befriedigt werden, wenn in Bagdad eine dem Recht und inneren Frieden verpflichtete Regierung den Despoten ersetzt hat. Wie Bush dieses Ziel erreichen will, ist sogar ihm schleierhaft.
Zu Hunderttausenden waren die Kurden aus dem Nordirak an die Grenzen der Türkei und Irans geflohen, nachdem Saddam Husseins Republikanische Garde ihre Revolte niedergeschlagen hatte, ohne daß die siegreichen Alliierten Einhalt geboten hätten.
Während Meldungen über mörderische Hubschrauberangriffe gegen wehrlose Flüchtlingstrecks die Welt aufschreckten und noch mehr Kurden in Panik in die Berge trieben, erklärte Bush die USA für unzuständig: Er habe die US-Soldaten nicht an den Golf geschickt, damit sie dort »die inneren Probleme des Irak beseitigen«. Und noch am 13. April versicherte der Präsident: »Ich will nicht, daß ein einziger Soldat in einen Bürgerkrieg im Irak hineingezogen wird, der dort seit Ewigkeiten geführt wird.«
Mit wachsendem Entsetzen sah die amerikanische Öffentlichkeit mit an, wie Washington sein siegreiches Wüstenkorps zur Tatenlosigkeit verurteilte, während der Diktator von Bagdad vor den Augen der GIs seine Gegner zu Tausenden umbrachte. Hatte nicht der US-Präsident seinen Bürgern versprochen, am Ende des »gerechten Krieges« werde eine »neue Weltordnung« auch für den Nahen Osten entstehen?
Nun geißelte Pulitzer-Preisträger Jim Hoagland von der Washington Post den Rückfall in zynische Realpolitik mit den Worten: »Die Regierung Bush erwachte aus dem Golfkrieg und sah sich« - ähnlich wie Gregor Samsa in Kafkas Erzählung »Die Verwandlung« - »in eine Küchenschabe verwandelt.«
Deutlich wurde, daß Washington sich zwar für einen Krieg gerüstet, nicht aber auf eine Friedensordnung danach vorbereitet hatte. »Möglichst schneller Rückzug und Waffenlieferungen für die Verbündeten in der Region« sei das ganze Nachkriegsprogramm der US-Regierung, klagte ein europäischer Diplomat in der US-Hauptstadt.
Keine neuen Interventionen sollten den Glanz des militärischen »Blitzsiegs« trüben - das schien die einzige Maxime des Präsidenten. Unterstützt wurde er darin von Stabschef Colin Powell, der nachdrücklich empfahl, »den Sieg auszurufen, abzuziehen und das Ansehen der Militärs fleckenlos zu halten«.
Vergeblich hatten zunächst Sicherheitsberater Brent Scowcroft, Außenminister James Baker und Wüsten-Feldherr Norman Schwarzkopf im Weißen Haus auf amerikanisches Eingreifen gedrängt, um die Massaker im Irak zu stoppen. Bei Bush überwog die Sorge, womöglich doch wieder im politischen Treibsand eines fernen Landes zu versinken. Vietnam und Beirut, das Trauma, das er mit seinem schnellen Sieg hatte auslöschen wollen, lebte immer noch fort.
In seinem Bestreben, nur berechenbare Risiken einzugehen, verschenkte George Bush kostbare Zeit. »Vor zwei Wochen hätte er Saddam noch per Befehl aufhalten können«, meinte die New York Times. Mit seinem Zögern hatte der Präsident diesen Siegerkredit verspielt - und sich daheim erneut den Vorwurf unkalkulierbarer Unentschlossenheit ("flip-flop") zugezogen.
Als er Anfang April wenigstens den Abwurf von Hilfsgütern über den in den Bergen kauernden Flüchtlingen anordnete, waren Tausende von Kurden, vor allem Kinder und Alte, bereits gestorben - verhungert, verdurstet, erfroren (siehe Seite 164).
Zudem blieb die Luftbrücke völlig unzureichend. Oft mußten amerikanische Hubschrauberpiloten abdrehen, weil die Kurden an unzugänglichen Steilhängen Zuflucht gesucht hatten. Als schließlich wiederholt gemeldet wurde, daß Schutzsuchende von abgeworfenen Kisten und Säcken erschlagen wurden, »war auch dem Präsidenten klar, daß unsere Hoffnungen, das Problem aus der Luft zu erledigen, sich nicht erfüllen würden«, so ein Mitarbeiter aus dem Weißen Haus.
Die Nato-Verbündeten, vor allem Briten und Franzosen, drängten ihre Vormacht zu mehr Entschlossenheit. Gleich zweimal hatte der türkische Präsident Turgut Özal seinen amerikanischen Amtskollegen am vorletzten Wochenende um Hilfe angefleht. Als auch Außenminister Baker vom Flüchtlingselend an der türkisch-irakischen Grenze berichtete, wo täglich mehr als tausend Kurden starben, knickte Bush schließlich ein.
Am Montag nachmittag beriet die »Stellvertreter-Runde«, eine Gruppe hochrangiger Beamter unter Leitung des Stellvertretenden Sicherheitsberaters Robert Gates, erstmals über verstärkte Hilfe. Die Entscheidung, auch Truppen zu entsenden, um die Notlager für Kurden zu schützen, fiel dann am nächsten Tag »auf höchster Ebene«, wie ein Präsidentenberater mitteilte.
Nachdem Bush sich fast den ganzen Dienstag mit dem britischen Premier John Major und Frankreichs Präsident Francois Mitterrand am Telefon beraten hatte, beschloß er die erneute militärische Intervention. »Verwirrend schnell« sei diese Entscheidung gefallen, fand ein Regierungsvertreter - nicht einmal das Pentagon hatte zu der Zeit eine Ahnung von der neuen riskanten Aufgabe.
Schon Ende letzter Woche schwärmten Vorauskommandos von rund 10 000 US-Soldaten aus, die bis in die Region der nordirakischen Stadt Mosul nach geeigneten Standorten für Flüchtlingslager suchen sollten. Gleichzeitig trainierten Marineinfanteristen ihren möglichen Einsatz zum Schutz des Hilfskorps; US-Kampfflugzeuge verstärkten Aufklärungsflüge über dem Nordirak, um militärische Aktivitäten des Gegners frühzeitig erkennen zu können. Immerhin stehen 30 000 irakische Soldaten in der Region, die vergangene Woche neue Minenfelder an der Grenze zur Türkei anlegten.
Zusammenstöße mit diesen Truppen könnten die Amerikaner sehr schnell wieder in einen offenen Krieg mit Bagdad verwickeln. Dessen Ziel jedoch wäre ungewiß, die Dauer unbekannt. Die Gefahr eines Wiederaufflackerns des Kriegs ist um so größer, als kurdische Rebellen sich durch die Präsenz ihrer Beschützer ermuntert sehen könnten, den eigenen Guerilla-Kampf aus den Lagern heraus wiederaufzunehmen.
Zwar versicherte Präsidentensprecher Marlin Fitzwater, der humanitäre Charakter der Aktion verbiete es den Rebellen, »die Lager für andere Zwecke als für Hilfeleistung zu benutzen«. Verhindern könnten die Amerikaner einen solchen Mißbrauch aber kaum.
Allein die Logistik für die neue Aufgabe bereitet dem Pentagon schon Alpträume. »In etwa zwei Wochen werden die Lager halbwegs bezugsfertig sein«, meinte vergangenen Mittwoch Sprecher Pete Williams optimistisch. Doch für internationale Katastrophenfachleute ist das ein völlig unrealistischer Zeitplan. »Wir würden 20 Tage für intensive Planung einschließlich der Auswahl von Lagerplätzen veranschlagen«, rechnete ein Experte vor. »Bis zum ersten Spatenstich würden 25 Tage vergehen, und vielleicht einen Monat später wäre ein Lager für 10 000 Menschen fertig.« Das würde bedeuten, daß rund zwei Monate lang weiterhin täglich Hunderte, wenn nicht gar Tausende Flüchtlinge sterben würden.
Wie immens der Versorgungsaufwand ist, zu dem sich die Amerikaner und ihre Verbündeten nun verpflichtet haben, zeigt ein Vergleich mit den 540 000 amerikanischen Soldaten, die in den Golfkrieg gezogen waren: Die Mehrzahl von ihnen war ausschließlich mit dem Nachschub für die kämpfende Minderheit beschäftigt.
Allein in Richtung Türkei aber hatten sich knapp eine Million Kurden aufgemacht, weit mehr noch strömten an die iranische Grenze. Die Hoffnung von Bush-Sprecher Fitzwater, ein solch gigantisches Unternehmen könne »binnen kurzem den Vereinten Nationen übertragen« werden, scheint wirklichkeitsfremd.
»Wir sollten uns nicht selbst mit der Annahme belügen, dies sei eine Aufgabe, von der wir uns nach einem Monat zurückziehen könnten«, warnt Henry Kissinger. Auch Cyrus Vance, wie Kissinger ehemals Außenminister, sieht die USA schon tief im irakischen Sumpf. Damit aus den Lagern keine Dauereinrichtungen werden, müßten die Menschen bald, spätestens im Sommer, nach Hause zurückkehren können: Aber, fürchtet Vance, »solange wir ihnen dort keinen Schutz bieten, ist es schwierig, sie zur Rückkehr aufzufordern. Das aber bringt uns mitten hinein in die irakische Innenpolitik«.
Daniel Pipes vom Washingtoner Institut für Nahost-Politik sieht die Konsequenzen aus dem jüngsten US-Engagement schon ganz deutlich: »Was mit humanitärer und militärischer Hilfe beginnt, kann als etwas viel Größeres enden . . . Das Gesetz der Macht könnte womöglich die Amerikaner zum Sturz Saddams verführen. Und ehe irgend jemand bemerkt, was geschehen ist, hätten amerikanische Truppen den Irak besetzt - und Schwarzkopf Pascha herrscht in Bagdad.«