KANADA / TRUDEAU Schwelle zur Größe
Sein Amt übernahm er als »Kissing Pierre«, als »küssender Pierre«, umringt von schönen Landestöchtern, als intellektueller Playboy in Skidress oder Badehose an den Tummelplätzen des internationalen Jet-set -- eine extravagante Ausnahmeerscheinung unter den Regierungschefs dieser Welt.
Doch »über Nacht« (so der Londoner »Daily Express") wandelte sich Pierre Elliott Trudeau, 51, Premierminister von Kanada, vom saloppen Beau, der zuweilen mit Blue jeans und Sandalen im Parlament erschien, zum unerbittlichen Verfechter von Law and Order, von Gesetz und Ordnung.
Der Grund: »Wenn man Pierre in die Enge treibt, dann schlägt er zurück«, so Trudeaus politischer Ex-Freund, der Gewerkschaftsführer Michel Chartrand, zum SPIEGEL.
Attackiert fühlte sich Kanadas Regierungschef von der »Befreiungsfront von Quebec« (FLQ), einem vor allem aus Angehörigen des Mittelstands und der Intelligenz bestehenden Fähnlein separatistischer Frankokanadier.
Die militante Organisation hatte seit Anfang dieses Monats den britischen Diplomaten James Cross, 49, und den Arbeits- und Einwanderungsminister der Provinz Quebec, Pierre Laporte, 49, entführt. Die beiden Geiseln, so erklärten die Kidnapper, würden sie nur dann wieder herausgeben, wenn die Regierung ihrerseits 23 inhaftierte FLQ-Genossen freiließe, 500 000 Dollar in Goldbarren zahle und drei weitere Bedingungen erfülle (SPIEGEL 43/1970).
Trudeau lehnte ohne Zögern ab und griff gegen die »parallele Macht« zur schwersten Waffe, die er fand: Ermuntert von Robert Bourassa, 37, dem Premierminister der Provinz Quebec (siehe SPIEGEL-Interview Seite 144), verhängte er das Kriegsrecht über das ganze Land -- erstmals in Friedenszeiten.
»Nur Liberale mit weichen Knien und blutenden Herzen«, rechtfertigte sich der einst als liberal geltende Chef der »Liberalen Partei«, Trudeau, »haben Angst, diese Maßnahme zu treffen.«
Armee-Einheiten rückten In Quebec, Montreal und Ottawa ein, Polizisten besetzten Separatisten-Treffpunkte, durchsuchten weit über 1500 Wohnungen und arretierten über 370 Personen, darunter Gewerkschaftsboß Chartrand. Rund 100 Inhaftierte wurden inzwischen wieder freigelassen. Allein der Verdacht auf Sympathie für die FLQ genügte zur Festnahme.
Zwar warf der Führer der sozialistischen »Neuen Demokratischen Partei«, T. C. Douglas, dem Regierungschef vor, er benutze einen »Schmiedehammer, um eine Erdnuß zu knacken«. Aber Kanadas Parlamentarier akklamierten der Machtdemonstration Trudeaus mit 190 gegen 16 Stimmen, und -nach einer Umfrage des »Information Collecting Institute of Montreal« -- begrüßten auch 60 Prozent der Bevölkerung das Ausnahmeregime.
Trudeaus Freunde begründen die Härte, die er gegen die Extremisten anwandte, mit einer sympathischen Eigenart des organisatorischen Entwicklungslandes Kanada. Die kanadische Polizei besteht aus Klubs miteinander rivalisierender, Im Volk schlecht angesehener Verbindungstruppen des Bundes, der Provinzen und der Städte. Sie liebten es, ohne Dossiers zu arbeiten, ohne Geheimdienst, ohne Kontrollen der Einwanderung. Kanada glaubte auf derart häßliche Attribute moderner Staaten verzichten zu können.
Nachdem dieser Siedleroptimismus sich als falsch erwiesen hatte, glaubte die Regierung, sie könne die Terroristen dennoch binnen 24 Stunden ausschalten und gleichzeitig die Geiseln befreien.
Die Freilassung der beiden Gefangenen freilich erzwang Trudeau mit dem Kriegsrecht nicht -- im Gegenteil. »Angesichts der Arroganz der Regierung« (so ein Kommuniqué der FLQ) vollzogen die Kidnapper die angedrohte Hinrichtung, die sie zuvor ein halbes dutzendmal verschoben hatten:
Am vorletzten Sonnabend erdrosselten sie Robert Laporte mit seiner goldenen Halskette. Die Polizei fand die Leiche im Kofferraum eines grünen Chevrolet (Kennzeichen 9G -- 2420), der am Rande eines Flugfeldes fünf Kilometer östlich von Montreal abgestellt war.
Auch das Leben des zweiten Geisel setzte Trudeau bei seiner Separatistenjagd aufs Spiel: »Die einzige Gefahr für mein Leben wäre«, so hatte der Brite Cross aus der Gefangenschaft gewarnt, »daß die Polizei den Ort entdeckt, wo ich festgehalten werde, und zu intervenieren versucht.«
Noch weniger kann das Kriegsrecht jene Probleme ausräumen, die manchen Frankokanadier erst zur Rebellion gegen die Zentralregierung treiben: die wirtschaftliche und soziale Benachteiligung der Frankophonen.
90 Prozent des Kapitals in der überwiegend von Frankokanadiern bewohnten Provinz Quebec sind in anglokanadischem und US-Besitz; das Management der Industrie spricht Englisch. Den Frankophonen fallen daher meist niedere Positionen zu, sie finden am schwersten Arbeit: In Quebec ist die Arbeitslosigkeit zeitweise bis zu hundert Prozent höher als beispielsweise in der Nachbarprovinz Ontario. Ein Anglokanadier verdient durchschnittlich 5040 Dollar im Jahr, ein Frankokanadier fast 800 Dollar weniger.
Die Quebecer sind allerdings nicht ganz unschuldig an dieser Situation: Sie ließen ihre Kinder bis in die Gegenwart stets lieber Priester und Ärzte werden als Kaufleute und Ingenieure -- das wurden die Briten. Sie gaben sich konservativ-klerikale Regierungen, die bis 1960 dafür sorgten, daß sich in Quebec, dem Land mit der ältesten Universität und dem ältesten Krankenhaus Nordamerikas, möglichst wenig änderte.
Der frankokanadische Nationalismus von heute hingegen fühlt sich so stark, daß er selbst von seinem einstigen Fixpunkt Paris nichts mehr wissen will. Als de Gaulle 1967 vom Balkon des Rathauses in Montreal sein aufdringliches »Vive le Quebec libre« rief, fühlten sich viele Frankokanadier entgegen der Annahme des Redners eher bevormundet als geschmeichelt. Der Kulturchauvinismus vieler Franzosen, die Kanada besuchen, verletzt die Kanadier; die Kommentare der Pariser Presse zur Entführung von Laporte und Cross werden in Montreal mit Distanz veröffentlicht.
Um die Kluft zwischen den Quebecern und ihren anglokanadischen Landsleuten zu schließen, empfahl schon vor einem Jahrzehnt ein Anwalt und Professor für Verfassungsrecht an der Universität Montreal der rückständigen Provinz Quebec die »stille Revolution«. Sein Name: Pierre Trudeau,
Der Sohn eines frankokanadischen Vaters und einer anglokanadischen Mutter, der Französisch wie Englisch perfekt beherrscht, schien vielen der »richtige Mann, die gespaltene Nation in ein neues Zeitalter zu führen« ("Time"): Nach einer nur dreijährigen Blitzkarriere in der Politik führte er im Juni 1968 seine »Liberale Partei« mit absoluter Mehrheit ins Parlament.
Doch die Realitäten hemmten Trudeaus Marsch in eine »gerechte Gesellschaft":
* Zwar sicherte er der französischen Sprache die amtliche Gleichberechtigung zu. Aber wer in der Wirtschaft aufsteigen will, muß noch Immer Englisch sprechen.
* Zwar konnte Trudeau durch ein drastisches Sparprogramm die Inflation bremsen. Aber die Ausgabenkürzungen des Fiskus bedeuteten weitere Arbeitslose -- vor allem in den Regionen der Frankokanadier.
»Trudeaus Küsse füllen nicht unseren Bauch«, protestierten bald enttäuschte Anhänger des Premiers. »Der »junge« Swinger« den sie wählten, hat sich zu einem Konservativen im Amt gewandelt«, urteilte die »Financial Times«.
Mit der wachsenden Kritik schwand das strahlende Siegerlächeln. Der Mann, der sich einst durch das Land geküßt hatte, teilte nun Ohrfeigen an Hippies aus. Nicht mehr mit unterkühltem Witz, sondern mit plumpen Beleidigungen antwortete er nun häufig auf Angriffe seiner Kritiker.
So schimpfte er eine Suffragette« die ihm Unflätiges zurief, eine Hure. Einen opponierenden Abgeordneten titulierte Trudeau als »Ehrenwerten Stinker«, und vom vormaligen Premier von Quebec behauptete er, dieser habe »nicht alle Tassen im Schrank«.
Ähnliche Nonchalance ließ ihn offenbar auch die eigene Einsicht beiseite wischen, daß die autoritäre Haltung der Regierung gerade das ist, was die Extremisten wünschen. Sie berufen sich dann, so erkannte Trudeau, auf den »Autoritarismus, um ihre zunehmenden Angriffe gegen die Gesellschaftsstrukturen zu rechtfertigen«.
Ein Führer der separatistischen »Parti québécois« frohlockte: »Solange die Soldaten in den Straßen sind, bekommen wir täglich 100 neue Mitglieder.«
Unbesorgt hatte Trudeau drei Tage nach der Cross-Entführung bei der Eröffnung der neuen Sitzungsperiode des Parlaments dem tiefer denn je gespaltenen Kanada verkündet: »Wir stehen an der Schwelle zur Größe.«