Polen Schwelle zur Hölle
Kanikula« in Polen, Ferien: Sejm und Senat machen Sommerpause, die meisten Politiker sind in Urlaub. In dieser stillen Stunde greift Lech Walesa, der Solidarnosc-Revolutionär, nach der Macht.
Seine Anhänger, vereinigt im »Centrum«, treiben eine Politik voran, die den Vorsitzenden der Solidarnosc so rasch wie möglich auf den Präsidentensessel bringen soll. Das Wort führt Jaroslaw Kaczynski, Chefredakteur der Wochenzeitung Tygodnik Solidarnosc und einer der Begründer der Centrum-Partei. Er hat einen präzisen Kalender, nach dem die Eroberung der Staatsspitze ablaufen soll.
Erster Streich: In den nächsten Wochen, spätestens also im Herbst, muß General Wojciech Jaruzelski zurücktreten und das Parlament Walesa zum Nachfolger wählen. Dies für eine Übergangszeit von acht bis zehn Monaten, in der Staatspräsident Walesa die letzten Reste der alten Nomenklatura hinwegfegt und die Privatisierung der Wirtschaft ankurbelt.
Dann folgt der zweite Coup: freie Parlamentswahlen, eine neue Verfassung und schließlich die endgültige Wahl Walesas zum Präsidenten auf Dauer, wobei noch nicht feststeht, wer ihn wählen soll - das Parlament oder das Volk.
Der Centrum-Partei ist wichtig, daß der Kommunist Jaruzelski noch vor den Parlamentswahlen zurücktritt, weil die sonst in einem Klima abgehalten würden, »das für die polnische Demokratie gefährlich sein könnte«, wie Kaczynski fürchtet.
Und der Rücktritt des Staatspräsidenten soll sich ruhig und halbwegs würdig vollziehen, ohne jenes Präsidentenamt zu belasten oder gar zu schwächen, das ja Walesa übernehmen und ausbauen soll - zur beherrschenden Rolle eines Mitterrand (so meint Kaczynski) oder eines Gorbatschow oder eines Marschalls Pilsudski, der Polen bis 1935 autoritär regierte.
Für einen geordneten Rückzug Jaruzelskis ist schon eine Affäre zur Hand: der Fall des 1984 von der polnischen Stasi ermordeten Priesters Jerzy Popieluszko. Eine Parlamentskommission untersucht in diesen Sommertagen ungeklärte Todesfälle aus der Zeit des alten kommunistischen Regimes.
Einer der verurteilten Popieluszko-Mörder deutete in einem Brief aus dem Gefängnis an, Jaruzelskis ehemaliger Innenminister Czeslaw Kiszczak hätte seinerzeit die Verurteilung der Täter einen »Arbeitsunfall« genannt - wußte er vielleicht vom Auftrag zum Mord an dem Priester, oder hat er die Sache hinterher vertuscht? Kaum ein Parlamentarier nimmt solchen Anwurf ernst. »Doch man muß erst einmal versuchen, davon die Öffentlichkeit zu überzeugen«, so Walesas Vertrauter Kaczynski, »wenn schwarz auf weiß feststeht, daß der Prozeß gegen die Mörder Popieluszkos manipuliert worden ist.«
Der Prätendent Walesa muß sich beeilen, die Zeit arbeitet gegen ihn. Die Zweifel wachsen, er sei der rechte Mann, das Land aus der Krise zu führen.
Die Spaltung von Solidarnosc in einen Walesa-treuen Arbeiterflügel und eine Schar intellektueller Realisten um Premier Tadeusz Mazowiecki mindert das Ansehen des gelernten Elektrikers, der vor genau zehn Jahren die Kommunisten herausforderte und schließlich besiegte. Zum Solidarnosc-Jubiläum der Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft am vorigen Mittwoch rief Walesa nach einer Wiederbelebung des Geistes von 1980, nach einem »Mechanismus, der die Massen motiviert«.
Jetzt kehrt sich Walesa gegen seine Kampfgenossen, um höchste Ehren zu erringen. Ergebnis: Während 85 Prozent aller Polen laut Umfrage zu Jahresanfang Walesas Kurs unterstützten, waren es vorigen Monat nur noch 62 Prozent - ein Argument gegen die Volkswahl des Präsidenten.
Angst verbreitet sich vor der immerdar befürchteten »polnischen Hölle": Die eben erst gewonnene Demokratie könne sich im schon historischen Zank der Politiker verlieren, in endlosen Wortgefechten, fruchtlosen Diskussionen und wechselseitigen Beleidigungen.
Einen Rückfall in Nationalismus und Chauvinismus hat sogar Walesa einkalkuliert. Polen jüdischer Herkunft, so verlangt er, sollten sich gefälligst ebendazu bekennen - ein Hieb gegen einige Berater Mazowieckis.
Ob der starke Mann aus Danzig von solchen Ausfällen profitieren kann, ist jedoch zweifelhaft. Selbst im Kreis seiner engen Anhänger scheint Walesa an Einfluß zu verlieren, wie Ende Juli deutlich wurde, als er eine Sitzung des Bürgerkomitees beim Vorsitzenden der Solidarnosc einberief. Nur etwa ein Drittel der Mitglieder folgte dem Ruf des Vorsitzenden.
Walesa hat bislang vermieden, ein eigenes Programm vorzustellen, und sich mit Kritik an der Regierung seines Solidarnosc-Kollegen Mazowiecki begnügt. Das ist zuwenig, während die Wirtschaft stagniert, die Preise wieder steigen, die Arbeitslosigkeit wächst und auch die Kriminalität.
Mazowiecki »überlegt dreimal, bevor er einmal handelt«, spottet Kaczynski: Die bedächtige Austerity-Politik der Regierung könne zu Unruhen führen, »wenn es uns nicht vorher gelingt, durch ein politisches Manöver zumindest einen Teil der öffentlichen Frustration zu neutralisieren«.
Das rettende Manöver, Jaruzelski durch Walesa zu ersetzen, soll auch die Regierung des Solidarnosc-Premiers Mazowiecki stürzen. Dessen ruhige Art, dem unruhigen Land die Marktwirtschaft zu verordnen, war laut seinem Widersacher Kaczynski »unter gewissen Umständen vielleicht ein Vorzug, nun wird sie immer mehr zur Belastung für Polen«.
Die Machtkämpfer um Walesa sehen in Mazowiecki ein starkes Hindernis für ihre Politik, das es aus dem Weg zu räumen gelte. Mitte Juli haben sich die regierungstreuen Solidarnosc-Leute denn auch schleunigst ebenfalls zu einer Partei zusammengeschlossen, unter dem Namen »Bürgerbewegung-Demokratische Aktion«. Die polnische Abkürzung mit englischem Unterton: Road.
Von der Centrum-Partei unterscheidet sich die Road-Partei, die wie die Konkurrenz noch kein Programm hat, durch ihr Bekenntnis zu Weltoffenheit und Toleranz. In Polen heißen die beiden zerstrittenen Fraktionen der einst so stolzen Solidarnosc denn auch nur »Europäer« und »Krähwinkel«.
Unter den »Europäern« finden sich bekannte Köpfe wie der Publizist Adam Michnik und der Regisseur Andrzej Wajda, aber auch erfahrene Gewerkschafter, so die beiden Helden des Solidarnosc-Untergrunds Wladyslaw Frasyniuk und Zbigniew Bujak. Road plädiert dafür, den Staatspräsidenten direkt zu wählen - und Walesa stimmte vorige Woche in einer geschickten Volte zu.
Der erfahrene Konspirateur Bujak hält die Spaltung der Solidarnosc für »wichtig und wohl auch unvermeidlich«, wenn auch verfrüht angesichts der wirtschaftlichen Bürden des Landes. »Doch die persönlichen Spannungen und Konflikte haben in letzter Zeit derart zugenommen«, sagt Bujak, »daß die Spaltung nicht länger aufgeschoben werden konnte.« Weder Kaczynski noch Bujak möchten freilich ausschließen, daß die verfeindeten Brüder nach den Wahlen in einer Koalition zusammenarbeiten.
So »entstehen an der Weichsel die Grundlagen eines künftigen Zweiparteiensystems, wie es sich in den reifen westlichen Demokratien am effektivsten und stabilsten erwiesen hat«, urteilt der Warschauer Kommentator Jerzy Surdykowski, ein Optimist. Er sieht in der Solidarnosc-Spaltung »eine unerwartete Chance, an der Schwelle zur polnischen Hölle«. o