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PROZESSE / ARBEITSKAMPF Schwere Säbel

aus DER SPIEGEL 6/1971

Was die Croupiers von Berufs wegen allabendlich an ihrem Arbeitsplatz auf französisch sagen ("Rien ne va plus"), sagten sie ihrem Arbeitgeber eines Abends auf deutsch: Nichts geht mehr. Alle Roulett-Räder in Bad Neuenahr standen still.

Sie standen, um die Jahreswende 1966/67, zwar nur wenige Tage. Aber noch heute, vier Jahre danach, beschäftigt jener Streik, bei dem es um die Verteilung von Trinkgeldern gegangen war (SPIEGEL 5/1967), das Bundesarbeitsgericht (BAG): Am 21. April wird der Croupiers-Ausstand zu einer der wichtigsten Entscheidungen führen, die das Kasseler Gericht je zu fällen hatte.

Der Große Senat dieses Obersten Gerichtshofes muß befinden, ob er noch für Rechtens hält, was er 1855 selbst festgestellt hatte und was bis heute als geltendes Recht angesehen wird, »daß die bestreikten Arbeitgeber im Wege der kollektiven Abwehrkampfmaßnahme« -- Aussperrung streikender Arbeitnehmer -- die Arbeitsverhältnisse »insgesamt fristlos lösen können«.

Die Auswirkungen dieses Richterspruchs aus dem Jahre 1955 hatten 35 der damals streikenden 118 Croupiers und Spielleiter 1967 erfahren. Nach dem Ende des Arbeitskampfes waren sie durch eine Aussperrungserklärung der Spielbank fristlos entlassen. Einige der Vertriebenen haben bis heute keine gleichartige Stellung gefunden und beziehen noch immer von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen »Gemaßregelten-Unterstützung«.

Croupier »Berger und 26 andere« genießen von ihrer Gewerkschaft auch Prozeß-Unterstützung vor dem Bundesarbeitsgericht und haben inzwischen dessen Ersten Senat auf ihrer Seite, denn der bisherigen »Rechtsansicht vermag sich der Erste Senat nach nochmaliger Überprüfung nicht mehr anzuschließen«. Er legte deshalb dem Großen Senat -- einem Gremium, das nur zusammentritt, wenn ein Senat von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will -- die Frage vor, ob dieser an seiner Auffassung von 1955 festhalte oder ob er billige, »daß der Arbeitgeber durch Aussperrung die Arbeitsverhältnisse nur suspendieren kann«.

Würde diese Auffassung des Ersten Senats neue höchstrichterliche Rechtsprechung, so würden Arbeitsverhältnisse künftig für die Dauer der Aussperrung nur ruhen, aber doch fortbestehen. Mit dem Ende des Arbeitskampfes müßten dann die Verträge automatisch fortgesetzt werden.

Für Croupiers-Anwalt Kurt Thon ist selbstverständlich, daß nur diese Auffassung dem Grundgesetz entspricht: »Wenn der Arbeitskampf keine Vernichtungswaffe sein soll, dann kann es nie zu einer Lösung des Arbeitsverhältnisses kommen.«

Worin Thon eine Vernichtungswaffe sieht, darin sieht die gegnerische »Spielbank Bad Neuenahr GmbH & Co. KG« eine »wohlfundierte Überlegung«. Und Bank-Vertreter Rechtsanwalt Kunibert Much ("Bis hierher und nicht weiter") möchte ohnehin am liebsten, daß alles beim alten bliebe: »Wenn man sich zu einer Lösung durchgerungen hatte, dann versuchte schon das Reichsgericht, diese Lösung auch aufrechtzuerhalten.«

Diesen eher konservativen Rechtsstandpunkt interpretierte BAG-Präsident Gerhard Müller -- Vorsitzender sowohl des Ersten Senats, der die neue Aussperrungs-Entscheidung herbeiführen will, wie auch des Großen Senats, der die Entscheidung fällen muß -- während der mündlichen Verhandlung so: »Sie sind also der Auffassung, beide Kontrahenten können mit schweren Säbeln fechten.«

Wichtigste Überlegung für den bevorstehenden Richterspruch wird freilich gerade sein, ob unter der geltenden Rechtslage bei Arbeitskämpfen beide Kontrahenten wirklich über schwere Säbel verfügen oder ob nicht die Arbeitnehmer mit Hinterladern, die Arbeitgeber aber mit Schnellfeuergewehren kämpfen. Denn gleiche Feuerkraft herrscht zwischen den Sozialpartnern allenfalls in Zeiten der Vollbeschäftigung, wenn ein durch Aussperrung vertriebener Lohnabhängiger sofort eine neue Anstellung findet -- aber selbst dies stimmt, wie das Beispiel einiger Croupiers zeigt, nicht durchweg. In einer Rezession dagegen kann Arbeitskampf Arbeitnehmer leicht zu Fürsorgeempfängern machen.

Deshalb äußerte der Erste BAG-Senat Zweifel an der Gerechtigkeit der noch herrschenden Rechtsprechung. »Durch die lösende Aussperrung schrieb er in seinem Beschluß, »werden die Arbeitnehmer meist härter betroffen als die Arbeitgeber durch den Streik. Diese behalten die Sachwerte des Unternehmens ... und das Betriebskapital. Dagegen wird dem Arbeitnehmer durch die lösende Aussperrung der Arbeitsplatz genommen, der meist seine einzige Existenzgrundlage« ist.

Daß der Faktor Kapital mit dem Faktor Arbeit beim Arbeitskampf nicht auf gleicher Ebene steht, haben die Schöpfer der hessischen Verfassung schon 1946 gesehen, als sie feststellten: »Die Aussperrung ist rechtswidrig.« Und für den Gießener Professor Thilo Ramm ist die Pflicht zum Ausgleich der unterschiedlichen Machtpositionen auch im Bonner Grundgesetz enthalten.

»Der Sozialstaat«, so urteilt der Arbeitsrechtler, der wegen seiner vergleichsweise progressiven Haltung in der Zunft als Linksaußen gilt, »stellt sich ... auf die Seite der sozial Schwächeren und sucht mit Hilfe rechtlicher Mittel ihre Schwäche auszugleichen.«

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