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Dokumentarfilm Schwerer Kampf

Über 20 Jahre hinweg hat der ZDF-Redakteur Hans-Dieter Grabe das Schicksal eines Vietnam-Opfers verfolgt.
aus DER SPIEGEL 10/1991

Der Fall schien hoffnungslos: Der Hodensack des Neunjährigen war zerfetzt, der Mastdarm zerstört, die Harnröhre durchtrennt. Ohne Scheu zeigte ein junger Arzt dem Reporter die Verletzungen, die der Krieg dem vietnamesischen Jungen Do Sanh zugefügt hatte.

Vier Jahre später verfolgte die Kamera den Jungen wieder. Er war inzwischen von »Terre des Hommes« nach Deutschland gebracht worden. In einem Heim der Kinderhilfsorganisation saß er nun in einem Rollstuhl, spielte im Hof mit anderen Basketball, und seine Sprache hatte schon einen leicht kölschen Klang.

Im Jahr 1990, als erwachsener Mann, radelt Do Sanh auf einer Rikscha durch Ho-Tschi-minh-Stadt. Sein Deutsch weist die eine oder andere Lücke auf, doch der rheinische Dialekt ist geblieben. Er erzählt von seinem Leben, von den Betteleien und kleinen Betrügereien, mit denen er sich über Wasser gehalten hat, wie er heute mit dem Rikschafahren sein Geld verdient, aber auch von seiner Sehnsucht nach Familienleben, von seiner Frau, die an Kinderlähmung leidet, und von ihrem zweijährigen Kind, das sie noch in Pflege geben müssen.

Auch der neueste Film über Do Sanh, der am kommenden Sonntag im Spätprogramm des ZDF zu sehen sein wird, ist von Hans-Dieter Grabe, 53, gedreht worden. Der erste Film Grabes, in dem der von einer Explosion zerfetzte Körper von Do Sanh gezeigt worden war, entstand 1970 in Saigon unter dem Titel »Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang«.

Wie Remarque mit »Im Westen nichts Neues« hatte sich der ZDF-Redakteur vorgenommen, die täglichen Grausamkeiten des Krieges zu zeigen, an die man sich offensichtlich schon so gewöhnt hatte. Grabe beschreibt die Arbeit des Arztes Alfred Jahn, der auf dem deutschen Lazarettschiff »Helgoland« Dienst leistete und die ganze Absurdität des Krieges und die Leiden der unschuldigen Opfer erlebte. Der Film war so aufrüttelnd, daß Grabe einen der begehrten Grimme-Preise dafür bekam.

Mit diesem Film hatte Grabe auch seinen Weg gefunden. Er entfernte sich von den allgemeinen politischen Reportagen und wandte sich außergewöhnlichen Schicksalen zu. Nicht die Berühmten des Tages interessierten ihn, sondern eher jene, die im Hintergrund wirkten oder deren Ruhm schon lange verblaßt war. Es entstanden Erinnerungsporträts über den einstigen tschechoslowakischen Wunderläufer Emil Zatopek, den Anarchisten Fritz Teufel oder die überlebenden Atombombenopfer von Hiroschima und Nagasaki.

Ein stiller Film, der aber spektakulär aufgenommen wurde, war 1977 Grabes Arbeit über Gisela Bartsch, die Frau, die den Kindermörder Jürgen Bartsch im Gefängnis geheiratet hatte und dafür von der Boulevard-Presse und in der Öffentlichkeit bitter angefeindet worden war. Für Grabe war auch sie eines der Opfer, denen er seine Arbeit widmete.

Doch Fernsehfilme macht keiner allein. Auch Grabe, der Einzelgänger unter den Filmern, war auf seine Mitarbeiter angewiesen. Seit 1967 hat Elfi Kreiter fast alle Filme für ihn geschnitten, und hinter der Kamera standen meist Carl-Franz Hutterer oder Horst Bendel.

Elfi Kreiters Teil daran erhält in dieser Woche eine besondere Würdigung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Grimme-Preises wird an diesem Freitag eine Cutterin mit der begehrten Skulptur eines Fernsehschirms ausgezeichnet.

Die Verleihung findet zwei Tage vor der Ausstrahlung des vorläufig letzten Films Grabes über Vietnam statt. Do Sanhs Geschichte, die er darin fortschreibt, ist für ihn auch eine Geschichte der Hoffnung. Der kleine Junge, dem der Arzt 1970 so gut wie keine Überlebenschance mehr geben mochte, ist heute ein Mensch, der seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat und seinem Fernsehfreund »Hans« vom Fahrradsattel herab so manche Lebensweisheit in die Kamera spricht.

Sinnvoll wäre es freilich gewesen, wenn das ZDF auch noch einmal den ersten Film aus den Kriegstagen Vietnams aus dem Jahr 1970 gezeigt hätte. Doch bei der Programmplanung in den Tagen des Golfkriegs scheute sich der Sender, bei den Zuschauern Analogien heraufzubeschwören, die aktuelle Rückschlüsse zulassen könnten. So versteckte man den einst preisgekrönten Film am vergangenen Sonntag kurz vor Mitternacht im Satellitenprogramm 3Sat, einem Programm, dessen Einschaltquote um diese Zeit gegen Null tendiert.

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