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»Schwindelgefühl vor dem Abgrund«

aus DER SPIEGEL 14/1979

SPIEGEL: Herr González, in dieser Woche halten die Spanier zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg wieder freie Gemeindewahlen ab. Vor einem Monat haben sie das erste demokratische Parlament nach der neuen Verfassung gewählt. Steht damit nun die junge spanische Demokratie endlich auf sicheren Füßen?

GONZALEZ: Ich habe keinen Augenblick lang geglaubt, daß die Demokratie ernsthaft in Gefahr war. Jedenfalls wäre es sehr schwer, den Demokratisierungsprozeß rückgängig zu machen. Meiner Meinung nach gibt es weder innenpolitisch noch international die notwendigen Bedingungen dafür, daß eine Destabilisierung mit dem Ziel eines Staatsstreichs gedeihen könnte.

SPIEGEL: Wie erklären Sie es sich denn nun, daß Ihre Partei entgegen den meisten Meinungsumfragen und entgegen Ihren eigenen Erwartungen die Parlamentswahlen vom März nicht gewonnen hat?

GONZALEZ: Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Vor zwei Jahren und sechs Wochen waren wir noch eine illegale Partei. In den ersten Parlamentswahlen vom 15. Juni 1977 haben wir zwar mit 118 Sitzen eine starke Vertretung im Kongreß erreicht, aber wir hat-

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Volkhart Müller und Jutta Fischbeck.

ten keinerlei Möglichkeit, in den Staatsapparat und in die Kontrollinstanzen einzudringen. Wir hofften, daß uns dies in den schon für 1977 vorgesehenen Gemeindewahlen gelingen würde. Aber die wurden bis jetzt hinausgeschoben. Und ein weiterer Grund für unsere Wahlniederlage vom März mag sein, daß die Linke die Vergangenheit der Vertreter der Rechten nicht öffentlich angeprangert hat.

SPIEGEL: Meinen Sie auch: weil es keine Säuberungen gegeben hat?

GONZALEZ: Säuberungen hat keiner gewollt. Es hat in der Öffentlichkeit nicht mal eine Klarstellung darüber gegeben, wer eigentlich wer im politischen Spiel war. In den anderen europäischen Ländern sind nach den Jahren des Faschismus oder des Nazismus die Kollaborateure aus dem politischen Leben verschwunden.

SPIEGEL: Einige sind auch wiederauferstanden.

GONZALEZ: Aber normalerweise erst viel später. Bei uns sind sie nicht nur nicht verschwunden, sondern gaben und geben uns anderen immer noch Lektionen in Demokratie. Wir haben demgegenüber keine aggressive Politik gemacht, denn uns schien der Übergang zur Demokratie eine sehr heikle Angelegenheit, bei der man nicht das Kriegsbeil des Franquismus und Anti-Franquismus ausgraben sollte.

SPIEGEL: Der Generalsekretär der Regierungspartei hat noch eine andere Erklärung für die Wahlniederlage der Sozialisten gegeben. Seiner Meinung nach haben die Sozialisten verloren, weil sie ihr Image verfälscht haben, indem sie auf allzu viele sozialistische Grundideen verzichteten und so ihre eigenen Wähler verwirrten. Ist da etwas Wahres dran?

GONZÁLEZ: Ich glaube das aus zwei Gründen nicht. Erstens wurden das spanische Volk und die gesamte Gesellschaft von einer Art Schwindelgefühl vor dem Abgrund des politischen Wandels gepackt, sie haben gespürt, daß bei den Märzwahlen etwas sehr Einschneidendes passieren konnte. Sie hatten eine gewisse Angst davor, und das hat viele sozialistische Wählerstimmen gekostet. Zweitens aber hat die Regierung uns während des Wahlkampfes immer das Gegenteil dessen vorgeworfen, was ihr Generalsekretär jetzt sagt. Man hat uns angeklagt, wir wollten die Wirtschaft im ganzen Land kollektivieren, wir wollten die Revolution.

SPIEGEL: Aber tatsächlich haben Sie doch zumindest verbal eine ganze Reihe sozialistischer Grundkonzepte aufgegeben. Sie selbst haben schon vor geraumer Zeit gesagt, die Partei solle sich nicht mehr als marxistisch definieren, und von Verstaatlichungen ist kaum noch die Rede.

GONZALEZ: Verstaatlichung definiert nicht notwendigerweise den sozialistischen Charakter eines Programms. Die italienischen Christdemokraten haben mehr als irgendeine andere sozialistische oder sozialdemokratische Partei Europas verstaatlicht. Was die Polemik über den Marxismus-Begriff angeht, so integriert eine Partei wie unsere heute nicht mehr nur die Vertreter einer marxistischen Alternative oder Ideologie, sondern auch solche des christlichen Humanismus, nichtmarxistischer sozialdemokratischer und progressiver liberaler Richtungen. Und das sage ich schon seit vier Jahren. Unsere Partei ist vor allem eine Arbeiterpartei, aber nicht nur eine Arbeiterpartei.

SPIEGEL: Aber Sie verstehen sich doch nach wie vor als eine Partei der Linken?

GONZALEZ: Als Partei der Linken und als Klassenpartei.

SPIEGEL: Ihre Gegner auf der Linken werfen Ihnen vor, Sie wollten die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens in eine Partei nach dem Muster der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands umwandeln. Wollen Sie das?

GONZALEZ: In Spanien wird es niemals eine Partei wie die SPD geben. Spanien ist Spanien, und Deutschland ist Deutschland.

SPIEGEL: Bislang ist Ihre Position innerhalb der Partei unangefochten. Wird sie das auch noch sein, wenn die PSOE auch in den Gemeindewahlen nicht gut abschneidet, wenn weder in Madrid noch in Barcelona noch in Sevilla sozialistische Bürgermeister gewählt werden?

GONZALEZ: Ich habe keine persönlichen Befürchtungen. In diesen letzten vier Jahren, seit ich Generalsekretär der Partei bin, haben wir 200 000 neue Parteimitglieder bekommen. Wir sind im Parlament mit 30 Prozent der Wählerstimmen vertreten und werden wahrscheinlich in ein paar tausend Gemeinden sozialistische Gemeinderäte in die Rathäuser bringen. So sieht die Bilanz aus -- trotz vieler negativer Aspekte. Mich persönlich stört es nicht, wenn die negativen Seiten hervorgekehrt werden oder wenn meine Parteiführung diskutiert wird. Ich finde das im Gegenteil vernünftig und normal.

SPIEGEL: Auf dem Parteikongreß der PSOE im kommenden Mai wird eine Delegiertengruppe die »Anerkennung von verschiedenen Strömungen im Schoße der Partei« fordern. Das bedeutet ja wohl, daß es diese Anerkennung früher nicht gegeben hat. Braut sich da eine Rebellion der Basis gegen Ihre Parteiführung zusammen?

GONZÁLEZ: Das glaube ich nicht. Ich glaube, es wird eine große Übereinstimmung in der Bewertung der grundsätzlichen Strategie der Partei geben ... SPIEGEL: Und Sie fürchten nicht, daß Ihnen Genossen nach links abwandern, etwa zu den Kommunisten? Das waren immerhin die einzigen, die bei den letzten Wahlen spürbare Stimmenprozente dazugewonnen haben.

GONZALEZ: Sie sind eins raufgerutscht, von einer Ausgangsbasis von 9,4 Prozent. Aber in Portugal hatten sie zuletzt 17 Prozent, in Frankreich 22 Prozent, in Italien 32 Prozent. Die Wahrheit ist, daß dieses Volk nicht kommunistisch ist. Die Politik der Kommunistischen Partei während der letzten anderthalb Jahre war denn auch ständig rechts von der Sozialistischen Partei. Die Kommunisten gaben sich gemäßigter als alle anderen im Parlament. Carrillo ist monarchischer als der König Juan Carlos, katholischer als der

Kardinalerzbischof Tarancón von Madrid. Und dann haben die Kommunisten auch noch gesagt, daß sie die Wirtschaft nicht anrühren werden.

SPIEGEL: Weshalb haben dann die Sozialisten Angebote der Kommunisten zu gemeinsamen Listen in den Gemeindewahlen -- wie spanische Zeitungen berichteten -- abgelehnt?

GONZALEZ: Erstens haben sie das so nicht angeboten, zweitens hätten wir in der Tat abgelehnt, wenn sie es getan hätten.

SPIEGEL: Warum?

GONZALES: Wir glauben, daß es einen substantiellen Unterschied zwischen Sozialisten und Kommunisten gibt, sowohl was

die Ideologie als auch was das soziale Angebot und die Glaubwürdigkeit im Volk angeht. Beide Parteien -- Kommunisten wie Sozialisten -- sind sich darüber klar, daß hier keine Volksfront möglich ist. Wenn man zu diesem Zeitpunkt eine Politik der Einheit der Linken oder der Volksfront macht, dann schadet das der gesamten Linken und dem ganzen Land.

SPIEGEL: Man muß ja nicht gleich von Volksfront reden; es könnte sich doch auch um lediglich pragmatische Absprachen handeln.

GONZALEZ: Nun, wenn in den Gemeindewahlen irgendwo ein kommunistischer Kandidat besser placiert ist als einer der Rechten oder als unser Kandidat, dann würden wir wohl den Kommunisten unterstützen, damit er Bürgermeister wird.

SPIEGEL: Wenn die Sozialisten an die Regierung gekommen wären -- was würde Felipe Gonzalez als Premier anders machen als Adolfo Suarez? Was könnte er vor allem anders machen unter den gegenwärtigen Bedingungen. also mit einer Arbeitslosigkeit von rund acht Prozent?

GONZALEZ: Ich würde etwas machen, was die Regierung Suarez nicht tut, obwohl das Land es sich leisten kann: den öffentlichen Sektor der Wirtschaft und die öffentlichen Investitionen erhöhen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

SPIEGEL: Die im Augenblick immer noch steigt.

GONZALEZ: Das öffentliche Investitionsvolumen beträgt hier 15 Prozent des gesamten Investitionsvolumens. 85 Prozent der Investitionen sind privat. Der Unterschied im Verhältnis zu jedem anderen europäischen Land ist beträchtlich. Auf diese Weise könnte eine große Menge neuer Arbeitsplätze geschaffen werden. Gleichzeitig könnte man so über verstärkte Sozialleistungen eine Art indirekte Lohnerhöhung zahlen, welche die Lohnforderungen bremsen könnte, die in diesem Land weit über den Lohnforderungen anderer europäischer Länder liegen -- und zwar logischerweise darüber liegen. SPIEGEL: Warum logischerweise?

GONZALEZ: Weil die Leute noch immer keine anständigen Wohnungen haben, noch immer keine guten öffentlichen und unentgeltlichen Schulen für ihre Kinder, kein ordentliches Gesundheitswesen, zum Beispiel.

SPIEGEL: Trotzdem hat aber bislang dieser am meisten benachteiligte Sektor der Bevölkerung keine extremen Forderungen erhoben und jede Konfrontation mit der Staatsgewalt vermieden.

GONZÁLEZ: Und das ist der wichtigste Grund dafür, daß der Übergang von der Diktatur zur Demokratie so friedlich verlaufen ist. In diesem Land hat mit sehr wenigen Ausnahmen nur die Linke, die Arbeiterklasse, für die Demokratie gekämpft.

SPIEGEL: Demokratie gibt es nun. Aber die historische Gelegenheit, an die Macht zu kommen, hat die Linke vorläufig verpaßt. Sind die Führer der Linken während der Übergangszeit zu vorsichtig mit der Regierung um gegangen?

GONZÁLEZ: Ungemein vorsichtig. Wir waren sogar zu vorsichtig. Wir haben vielleicht allzuviel Verantwortungsgefühl gezeigt. Der Franquismus hat übermäßig schwer auf der Linken gelastet, und deshalb sind wir wohl auch übermäßig vorsichtig gewesen. Anderthalb Jahre lang haben wir uns als Oppositionspartei genauso wie die Regierung in einer Politik der Aussöhnung, der Übereinstimmung verschlissen. ohne allerdings irgendeinen Vorteil politischer Macht zu genießen.

SPIEGEL: Und jetzt, meinen die Sozialisten, soll es vorbei sein mit der Vorsicht?

GONZÁLEZ: Die Sozialistische Partei muß vom strategischen Standpunkt aus die gleiche Haltung beibehalten wie bisher. Aber sie hat keinen Grund mehr, so vorsichtig zu sein, daß sie der Regierung dauernd Sauerstoffballons zum Überleben zuwirft.

SPIEGEL: Bereuen Sie jetzt diese Vorsicht?

GONZÁLEZ: Nein. Ich glaube, wir sind wirklich mit den Repräsentanten franquistischer Kontinuität zu behutsam umgegangen. Aber zugleich habe ich große Zweifel: Wenn wir nicht, so wie wir es getan haben, zur Befriedung des politischen Wandels beigetragen hätten, wenn wir uns auf einen frontalen Krieg zwischen Franquisten und Antifranquisten eingelassen hätten -- wäre dann der demokratische Wandel überhaupt zustande gekommen?

SPIEGEL: Herr Gonzalez, wir danken ihnen für dieses Gespräch.

Volkhart Müller, Jutta Fischbeck

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