NORDRHEIN-WESTFALEN Schwung dahin
Der Düsseldorfer Wissenschaftsminister Hans Schwier war gerade mit Fahrer und Begleiter auf Einkaufstour in Belgien, als sein Rufgerät piepte. Er müsse, meldete letzten Montag gegen 18.45 Uhr sein Büro, sofort zurück nach Düsseldorf, in die Staatskanzlei.
Als Schwier dort gegen acht eintraf, kam Regierungschef Johannes Rau gleich zur Sache: »Hans, wir haben Schwierigkeiten, du mußt Kultusminister werden.« Schwier, nach einer Schrecksekunde: »Scheiße!« Drei Wochen zuvor hatte Rau ihm noch versprochen, er könne Wissenschaftsminister bleiben.
Die Genossen orderten die Getränke, die Krisenrunde begann.
Was Rau dann mit fünf anderen Sozialdemokraten in fünfstündiger Sitzung ausheckte, war die umfangreichste Kabinettsumbildung einer SPD-geführten Landesregierung mitten in einer Legislaturperiode - ein Stühlerücken durch fünf Ressorts.
Hans Schwier löst den amtsmüden Kultusminister Jürgen Girgensohn ab. Den Platz des Wissenschaftssenators nimmt der Verwaltungsjurist Rolf Krumsiek ein, zuletzt Chef in Raus Staatskanzlei. Auf Krumsieks Posten rückt Klaus Dieter Leister, bislang Staatssekretär im Innen-Ressort.
Da die Genossen gerade so schön am Verteilen waren, wurden zwei dringliche Personalprobleme mit erledigt. Die Justizministerin Inge Donnepp, die zu ihrem 65. Geburtstag im Dezember ausscheiden will, wird durch NRW-Bundesratsminister Dieter Haak ersetzt. Haaks Posten übernimmt Günther Einert, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion.
Den Agrarminister Hans Otto Bäumer, der im Juni aus Protest gegen Raus lasche Umweltpolitik zurückgetreten war, hatte der Regierungschef schon ein paar Tage vorher durch den Flensburger Klaus Matthiesen ersetzt.
Das nächtliche Kabinettstück bedeutet den endgültigen Abschied der NRW-SPD von ihrer einstigen Reformpolitik. Gefragt sind gediegene Verwalter, Mittelmaß regiert. Als im Bonner Parteirat die Meldung über die Kabinettsumbildung verlesen wurde, wollten sich die Genossen ausschütten vor Lachen über die mediokre Minister-Mannschaft.
Die Schmach trifft einen Hoffnungsträger Willy Brandts, den zweiten Mann der Bundes-SPD, dessen Mitarbeiter sich bisweilen schon damit vertraut machten, daß der Düsseldorfer Regierungschef eines Tages nicht nur »die Verantwortung für 17 Millionen«, sondern möglicherweise »sogar für 60 Millionen« tragen müsse.
Aber allererste Wahl ist Rau in der Bundespartei nicht mehr. Als es im vergangenen Jahr um die Schmidt-Nachfolge ging, stellten die NRW-Genossen verblüfft fest, daß ihr Mann gegen Hans-Jochen Vogel keine Chance gehabt hätte. Spitzengenossen vermissen bei Rau, der von der Gesamtdeutschen Volkspartei kam, den Stallgeruch. In Wirtschaftsfragen fehlt ihm die Kompetenz, auf internationalem Parkett kennt er sich nicht aus.
Bei der Landtagswahl 1980 hatte Rau mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit geholt, Infas wertete die Partei im Sommer dieses Jahres noch immer mit respektablen 45,5 Prozent. Sein Gegenspieler Bernhard Worms von der Union schöpft als rheinischer Katholik zwar die »Kraft aus der Geschichte unseres Volkes«, aber einen Wahlsieg garantiert das noch nicht.
Verständlich, daß Rau nach den Ergebnissen in Bremen und Hessen seine Parteifreunde im Bonner Ollenhauer-Haus zu begeistern suchte: »Ich bin optimistisch, daß wir bei der nächsten Wahl noch was drauflegen.«
Leichtfallen wird ihm das nicht: Die Arbeitslosigkeit liegt bei 10,4 Prozent, Stahl- und Kohlekrise treiben das Revier ins wirtschaftliche Elend. Kumpel aus dem Kohlenpott erwägen schon, ob sie nicht nach Solidarnosc-Vorbild unter Tage eine Sole besetzen sollen, um die Politiker zum Handeln zu zwingen.
Schon das bisherige Kabinett Rau, aus Bonner Sicht »eine Regierung voller Talente« (Willy Brandt), wies erhebliche Verschleißerscheinungen auf. Bei den Veteranen ist der Schwung dahin.
Arbeitsminister Friedhelm Farthmann, 52, träumt davon, von 1985 an »als Landwirt auf einem Trecker« zu sitzen. Finanzminister Diether Posser, 61, wollte schon mehrmals aussteigen. Und Girgensohn, der seit Frühjahr den Abgang vorbereitete, hat sich zuletzt nicht mehr ernst genommen gefühlt: »Sie nennen mich 'den Doofen'.«
Ob integrierte Gesamtschule, Lehrplanreform oder Einführung des zehnten Schuljahres, an Girgensohn nörgelten alle rum, zuletzt auch noch wegen seiner Vergangenheit als Hitlerjunge und Mitglied der Waffen-SS.
Bei den Junioren gewann auch keiner Profil. Haak, den sie den »Klassiker« nennen, weil er immer nach einem klassischen Ressort drängelte, blieb als Bundesratsminister schon deshalb blaß, weil Rau ihn nicht leiden mag und in Bonn lieber alles selber regelte.
Städtebauminister Christoph Zöpel, 40, »Willy Wichtig« genannt, weil er immer so bedeutend daherredet, machte
nur mit Rücktrittsdrohungen auf sich aufmerksam, die keiner ernst nahm. Im Kabinett erklärte er, er sei dort der einzige Mann der neuen Politikergeneration. Und ein Spitzengenosse weiß, daß er Rau nach dem Amte trachtet: »Der hat schon das Beil in der Tasche.«
Der Ministerpräsident spürte seit langem, daß er eine Mannschaft ohne Erstliga-Format führt. Monatelang grübelte er über ein großes Revirement. Rau praktizierte dabei, was ihn einst stark gemacht hatte: Er kann, wie ein altgedienter Gewerkschafter bei Tarifrunden, so lange warten, bis die anderen passen. Dann präsentiert er die Lösung. Skeptiker beruhigte er stets: »Was wollt ihr denn, es läuft doch.«
Auch diesmal hatte er die Lösung eigentlich im Kopf. Jürgen Schmude, vor der Wende Justizminister in Bonn, die hessische Landesministerin Vera Rüdiger und den früheren Berliner Senator Frank Dahrendorf wünschte sich der Ministerpräsident nach Düsseldorf. Obwohl Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel eingeschaltet wurden, blieben alle lieber dort, wo sie sind.
Gelungen war nur, den Kieler Abgeordneten Matthiesen zu keilen. Doch als der nach Düsseldorf kam und fast gleichzeitig Girgensohn seinen Rücktritt ankündigte, ging in der SPD das Gerenne los. Die Landtagsfraktion macht zwar kaum Politik, in ihren Reihen fühlen sich aber mehr Genossen ministrabel, als Posten zu vergeben sind.
Der Fraktionsvorsitzende Karl Josef (Juppi) Denzer spielte dabei, auch zu Raus Verblüffung, eine dubiose Schlüsselrolle. Denzer, der auf dem Weg vom heimischen Bielefeld nach Düsseldorf lieber Egerländer Blasmusik als Nachrichten hört und mit dem Spruch »Kinders, tut doch den kalten Kaffee in der Tasse lassen« immer alles abbügelt, ist nicht gerade ein politisches Schwergewicht. Aber er versteht sich wie kaum ein anderer aufs Klüngeln.
Montag vergangener Woche machte Juppi sein Meisterstück. Er verlangte von Rau, die Umbesetzung des Kabinetts, die seit Monaten kommen sollte, müsse »jetzt und hier«, und zwar ausschließlich mit Leuten aus dem Lande, vollzogen werden: »Wir müssen da durch.«
Rau verlor die Orientierung. Die Runde entwarf immer neue Kabinettsmodelle. Um 23 Uhr rief Rau bei der ehemaligen Gesundheitsministerin Anke Fuchs in Köln an: »Willst du Wissenschaftsministerin werden?« Sie bat um Bedenkzeit und lehnte schließlich ab.
Kurz vor Mitternacht klingelte bei der früheren Berliner Senatorin Anke Brunn das Telephon. Rau offerierte einen Staatssekretärsposten. Das genügte der begehrten Genossin nicht, sie wollte Ministerin werden.
Schließlich wurde eine Notlösung als Durchbruch gefeiert. Gegen halb eins kam einer auf den Gedanken, den verläßlich formschwachen Chef der Staatskanzlei, Rolf Krumsiek, auf elegante Weise loszuwerden. Der ehemalige Wuppertaler Oberstadtdirektor rückte beim Revirement ins Wissenschaftsressort.
Matthiesen-Vorgänger Hans Otto Bäumer fand diese Personalentscheidung »absurd«. Sein Kommentar: »So eine Ernennung kann man nur begreifen, wenn man davon ausgeht, daß Rau und Krumsiek gemeinsame Leichen im Keller haben.«
Auch für Krumsiek selbst kommt die Beförderung überraschend. Erst kürzlich hatte er das Wissenschaftsressort abschätzig als »Hochschulverwaltungsamt« qualifiziert, und mehr wird es unter seiner Leitung auch nicht sein.
Rau, blaß wie nie, bat am Ende der anstrengenden Nacht um Verständnis: »Was glaubt ihr, welchem Druck ich ausgesetzt war.« Ende letzter Woche schrieb er Entschuldigungsbriefe an führende Genossen, die in der Eile nicht konsultiert worden waren.
Gleichzeitig machte er klar, daß die gefundene Lösung nur eine vorläufige ist. Im Frühjahr 1984 will er eine neue Mannschaft vorstellen - das Revirement war sozusagen ein Doppelbeschluß: Rau ist jetzt der einzige Regierungschef mit einem Kabinett und einem Schattenkabinett.