SECHSMAL IM JAHR NACH MOSKAU
Wie macht man in der Sowjet-Union Karriere? Machtkampf und Interessengruppen, Führungstypen und Sozialstruktur der obersten Klasse, die Chancen des Aufstiegs -- und des Sturzes -- in der sowjetischen Gesellschaft beschreibt der gebürtige Russe Michael Morozow, Journalist in der SPIEGEL-Dokumentation, in einer Untersuchung über »Das sowjetische Establishment«. Aus dem Buch, das im Seewald Verlag Stuttgart (12 Mark) erscheint, veröffentlicht der SPIEGEL als Auszug das Bild des Parteifunktionärs
Der durchschnittliche sowjetische Parteifunktionär, der es im Laufe der letzten 18 Jahre dazu gebracht hat, Parteichef eines wichtigen Gebiets in werden oder gar bis in die Moskauer Parteizentrale vorzudringen und damit die Provinz hinter sich zu lassen und in das Zentralkomitee einzuziehen, steht gewöhnlich an der Schwelle des 60. Lebensjahres. In der flegel ist er ein im europäischen Rußland geborener Russe.
Handelt es sich um einen Ukrainer, so sind seine Aufstiegschancen etwa viermal kleiner wie die Möglichkeiten eines Russen, was auch ungefähr dem Bevölkerungsanteil der Ukraine entspricht. Ist er ein Belorusse, sind seine Chancen mehr als zehnmal geringer als die eines Russen. Gehört er zu den 70 Millionen Asiaten in der sowjetischen Völkerfamilie, so sind seine Aussichten, eines Tages an der politischen Willensbildung der zweiten Weltmacht teilzunehmen, gleich Null.
Geld spielt bei seinem Aufstieg eine untergeordnete Rolle: Wendig, anpassungsfähig und gehorsam, aber hellhörig, klettert er den Weg nach oben.
Für den führenden Parteifunktionär der Gegenwart waren das bestimmende Erlebnis seiner Kindheit und frühen Jugend die Revolutions- und Bürgerkriegsjahre, also Zeiten des Hungers, des Umsturzes und der Zerstörung, dann der langsamen und mühsamen Besserung in den ersten Jahrzehnten des Industrieaufbaus.
Das bestimmende Erlebnis seiner Jugend waren die Jahre der ersten beiden Fünfjahrespläne, in denen Rußland den Sprung vom Holzflug zum Mähdrescher wagte. Das bestimmende Erlebnis seiner jungen Mannesjahre war die große Säuberung unter Stalin in den dreißiger Jahren. In dieser Zeit trat er in die Partei ein.
Aber in diesen Jahren war er noch nicht politisch aktiv; das schien ihm zu gefährlich. Erst nach dem Kriege betätigte er sich in der Partei- und Offentlichkeitsarbeit. Da er den aktiven Jahrgängen angehörte, wurde er Soldat, oft vom ersten Kriegstage irrt.
Das bestimmende Erlebnis seiner Mannesjahre war somit der Zweite Weltkrieg, der »Große Vaterländische Krieg« gegen die Deutschen, der Krieg, der jenen Teil Rußlands verwüstet hatte, in dem er geboren und aufgewachsen war. Das bestimmende Erlebnis seiner reifen Mannesjahre, in denen er zum Parteichef eines Gebietes aufrückte, waren die letzten Jahre vor und die ersten Jahre nach dem Tode Stalins, in denen er in das ZK einzig oder gar nach Moskau übersiedeln konnte; Jahre, in denen die Sowjet-Union zur Weltmacht wurde. So erreichte er zwischen seinem 40, und seinem 44. Lebensjahr einen Anteil der Macht.
Die Tür für den Aufstieg ist in aller Regel die Tür eines Hörsaals gewesen, die Zeit der Proletarier ist vorbei. Es sind dies die folgenden Ausbildungswege:
* technische Hochschulbildung mit dem Berufsziel Ingenieur;
* landwirtschaftliche Hochschulbildung mit dem Berufsziel Agronom;
* Pädagogisches Institut mit dem Berufsziel Lehrer,
Aus diesen Berufen des Ingenieurs, des Diplom-Landwirtes und des Lehrers kommen heute alle sowjetischen Parteisekretäre, wobei die größeren Aussichten das Diplom des Ingenieurs bietet, wie ein Blick auf die Berufe der Parteisekretäre im ZK von 1966 beweist. Das Schlagwort von den Technokraten an der Spitze der Partei- und Staatsführung der Sowjet-Union ist also durchaus begründet, Es ist unzweifelhaft, daß diese technische Elite der Elite der westlichen Ländler auf allen Gebieten durchaus ebenbürtig ist.
Die Ausbildung eines künftigen Parteisekretärs dauert -- manchmal durch praktische Arbeit oder Berufs-wechsel unterbrochen -- bis zu zehn Jahren. Der Besuch, der Parteihochschule heim ZK der KPdSU in Moskau oder einer anderen Parteischule ist nicht obligatorisch und auch nicht immer berufs- oder laufbahnfördernd. Fast jeder künftige Parteiarbeiter steigt nach der Erlangung des Diploms zum Abteilungsleiter in einem Werk, zum Werkdirektor oder Schuldirektor auf; eigentlich ist ohne diese Bewährung im erlernten Beruf eine Parteikarriere gar nicht möglich. Der Eintritt in die Partei erfolgt meist vor dem Abschluß der Hochschule.
Erst nach der praktischen Arbeit, dem Studium, der Bewährung ins zuletzt ausgeübten Beruf beginnt die eigentliche Parteikarriere, der ein Parteifunktionär in zwei Dritteln aller Fälle auch bis an sein Lebensende oder bis zur Pensionierung treu bleibt:
Abteilungsleiter und Parteisekretär in einem Rayon- (Stadt- oder Landkreis-) Parteikomitee, Abteilungsleiter und Parteisekretär in einem Gebietsparteikomitee, Zweiter Parteisekretär, Erster Parteisekretär, Erster Parteisekretär in einem wichtigen Gebietsparteikomitee sind die häufigsten Stationen des Aufstiegs.
Zwei Drittel der Parteisekretäre bleiben für immer in der einmal von ihnen eingeschlagenen Laufbahn. Sieht man von der Kriegszeit und dem Besuch der Parteihochschule in Moskau ab, verläuft ihr Leben in der Provinz recht eintönig in der Atmosphäre der Parteiversammlungen, Kampagnen und Schulungsabende, auf denen die jeweilige Generallinie Moskaus erläutert wird.
Alles andere ist Routine, Verwaltungsarbeit und Personal-(Kader-)Politik. Einen Teil ihrer an der Hochschule und durch praktische Arbeit gesammelten Fachkenntnisse können sie im täglichen Leben eines Provinzstatthalters verwerten; der Rest ist ein Stück Menschenkenntnis und Erfahrung im Umgang mit den Untergebenen am Ort und im Verkehr mit den Vorgesetzten im fernen Moskau.
Diese Parteisekretäre kommen im Durchschnitt mindestens sechsmal im Jahr zu Sitzungen des ZK oder des Obersten Sowjet in die Hauptstadt. Gehören sie den Ständigen Kommissionen der beiden Obersten Sowjets an, so fahren sie öfters nach Moskau. Eine weitere Gelegenheit zu einem Besuch in der Metropole bieten die Parteitage, die in aller Regel im Abstand von vier Jahren abgehalten werden. Diese Gebietsparteisekretäre bilden die mächtigste, in sich geschlossene Kaste der sowjetischen Gesellschaft.
Ein Beispiel für einen Gebietsparteisekretär, der bis zur Stellung des Generalsekretärs der KPdSU aufstieg, ist Leonid I. Breschnew.