KATASTROPHEN See von Schlamm
Die Morgenzeitung »El Tiempo« prophezeite nur mäßig Schlimmes: »In einem Regen von Asche und Gasausbrüchen« werde der Vulkan explodieren, schrieb das Blatt am vorigen Mittwoch, dann würden »die Schneemassen am Gipfel schmelzen und Schlammlawinen auslösen«.
Die Wahrscheinlichkeit eines »baldigen Ausbruchs« des Nevado del Ruiz liege zwar bei 67 Prozent, doch zur Panik bestehe kein Anlaß, beruhigte der »Tiempo«-Autor seine Leser. Der Schlamm rutsche nur »sehr langsam« zu Tal, so daß »eine Evakuierung leicht durchzuführen« sei. Die 50 000 Einwohner von Armero beispielsweise, einer Stadt am Fuß des Berges, könnten »innerhalb von zwei Stunden« in Sicherheit gebracht werden.
Bereits Stunden später traf die Voraussage aus »El Tiempo« ein. Panische Schreie schreckten die 19jährige Kolumbianerin Hortensia Oliveros aus dem Schlaf. Sie weckte Ehemann, Mutter und ihre elf Monate alte Tochter und rannte auf die Straße.
Die Oliveros kamen nur bis zur nächsten Straßenecke. Dort wurden sie von einer Schlammlawine erfaßt, »die meinem Mann das Baby aus dem Arm riß«. Über Hortensia ging die Schlammlawine
hinweg, sie konnte wieder auftauchen, fand Halt an einem Baum und sah, daß »alle Lichter der Stadt erloschen waren«. Ihr Mann war verschwunden.
Die junge Frau, im achten Monat schwanger, überlebte einen der gewaltigsten Vulkanausbrüche des Jahrhunderts: In einem »strahlenden Feuerball, der den Nachthimmel erleuchtete«, so ein Überlebender, war um 22.20 Uhr der Vulkan Nevado del Ruiz ausgebrochen, 160 Kilometer nordwestlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogota.
Die Eruption hatte sich monatelang angekündigt. Bereits Ende letzten Jahres erwachte der Vulkan mit starken Erdbeben. Seither registrierten die Seismologen durchschnittlich 35 Erschütterungen im Monat. Wochen vor dem Ausbruch stieß der Nevado del Ruiz Rauch- und Gaswolken in die Atmosphäre. Kurz nach Mittag schneite Asche auf die Andentäler, die sich mit später einsetzendem Regen als grauer, schmieriger Matsch auf Häuser, Baumwollplantagen, Straßen und Bäume legte.
Das Feuer im Innern des Berges, das den Ascheregen verursachte, erwärmte die Flanken des Gipfels und den Schnee. Dann, so erzählte ein Überlebender, »hörten wir einen schrecklichen Krach, ein Windstoß fegte durch Armero, und Feuer fiel vom Himmel«. Als die Eruption stattfand, kamen die Schneemassen ins Rutschen und schmolzen.
Eine Schlammlawine wälzte sich von dem 5400 Meter hohen Berg in die Täler, vereinte sich mit den Wassermassen des angeschwollenen Rio Lagunilla, riß auf ihrem Weg Häuser, Brücken, Bäume, Felsbrocken, Vieh und Menschen mit und begrub das 50 Kilometer entfernte Armero sowie sieben weitere Ortschaften.
»Die Stadt existiert nicht mehr«, sagte ein Rot-Kreuz-Helfer: »Dort ist nur noch ein See von Schlamm, aus dem vereinzelt Bäume und Hausdächer ragen.« 85 Prozent der Stadt waren zerstört, 20 000 Menschen erstickten in den Erd- und Wasserfluten, so schätzte Ende letzter Woche der kolumbianische Katastrophendienst.
Für die Geologen war der Ablauf der Eruption ein klassisches Beispiel aus der Vulkanologie. Gemeinhin droht von ausbrechenden Vulkanen Gefahr vor allem durch Lavaströme, Schockwellen oder superheiße Gas- und Dampfstürme. Schnee-, Eis- oder Erdlawinen, sogenannte Lahars, die wie am Nevado del Ruiz von der Hitze ausgelöst werden, sind dennoch selten. Der letzte Lahar wurde 1902 beim Ausbruch des Santa Maria in Guatemala bekannt.
Im Vulkangürtel Lateinamerikas gilt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Lahars dennoch als besonders groß. Nach Meinung des amerikanischen Vulkanologen Derrell Herd ist dort das Magma zähflüssig, die für andere Vulkanregionen typischen Lavaströme gelten daher als ungewöhnlich.
Auch die kolumbianischen Wissenschaftler hatten mit einem Lahar am Nevado del Ruiz gerechnet und begonnen, Katastrophenpläne auszuarbeiten. »Die Vorhersagen waren richtig und auch die Einschätzung der möglichen Gefahren«, befand Herd, »nur, die Eruption kam zu früh.«
Der US-Experte kennt den Berg gut. Der letzte große Ausbruch des Vulkans im Jahre 1595 war Thema seiner Dissertation. Beide Eruptionen, so Herd letzte Woche, seien nach dem gleichen Schema verlaufen und hätten zu überraschend ähnlichen Resultaten geführt. Nur die Zahl der Opfer war damals geringer.
Nicht ausschließen wollen die Experten, daß der Ausbruch vorige Woche nur ein weiteres Anzeichen für stärkere geologische Aktivitäten an der amerikanischen Pazifikküste ist. Die Explosion des Mount St. Helens im Mai 1980, das Erdbeben von Mexiko im September dieses Jahres und nun die Eruption des Nevado del Ruiz haben nach Ansicht der Wissenschaftler dieselben Ursachen: die tektonischen Pazifikplatten, die ständig in Bewegung sind und sich unter die Kontinentalplatten schieben. Dabei entstehen gewaltige Temperatur- und Druckveränderungen, die sich an der Erdoberfläche in Form von Beben und Eruptionen auswirken.
»Erhöhte Aufmerksamkeit« vor allem gegenüber den »zwei Dutzend Vulkanen in den Anden« hält Herd denn auch für angezeigt. Im US-Staat Washington steht der Mount Rainier bereits unter ständiger Beobachtung.
Dessen Ausbrüche waren, in prähistorischen Zeiten, nach dem gleichen Muster verlaufen wie die Eruption des Nevado del Ruiz. Auch vom Mount Rainier hatten sich mächtige Schlammlawinen ergossen - dorthin, wo heute die Großstadt Seattle liegt.