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»Seelöwe hat ausgespielt«

Das Scheitern der deutschen Luftoffensive gegen England, Rommels Niederlage in Afrika, der Durchbruch der alliierten Invasionstruppen in der Normandie -- das waren nicht zuletzt Erfolge britischer Geheimdienstler, die mit einer deutschen Kodemaschine zahllose Befehle der Wehrmacht mitlesen konnten. Der Leiter des Unternehmens, Frederick Winterbotham, hat jetzt zum erstenmal Einzelheiten der »Aktion Ultra« preisgegeben.
aus DER SPIEGEL 36/1975

Die Meldung kündigte eine Katastrophe an: Deutsche Bomber, so hatte der britische Geheimdienst aus einem aufgefangenen Funkspruch des Gegners herausgelesen, würden sich in wenigen Stunden auf die Kathedralen-Stadt Coventry stürzen und sie in Schutt und Asche legen.

Der Funkspruch erreichte den zuständigen Geheimdienst-Offizier, Hauptmann Frederick Winterbotham, am 14. November 1940 gegen 15 Uhr. Noch blieben fünf Stunden bis zum deutschen Angriff, noch konnte die Bevölkerung von Coventry gewarnt, vielleicht sogar evakuiert werden. Der Hauptmann ließ sich sofort mit dem Büro von Premierminister Winston Churchill verbinden.

Churchill war im Augenblick unerreichbar, Stunde um Stunde verrann. Da endlich erhielt Winterbotham Nachricht vom Regierungschef: keine Warnung oder Evakuierung der Bevölkerung, nur Alarmierung der Luftverteidigungs-Verbände.

Ahnungslos wurden die Bewohner von Coventry den 449 deutschen Bombern ausgesetzt, die in der Nacht des 14. November große Teile der Stadt zerstörten. Die Verwüstungen waren so riesig, daß »to coventry« zu einer Schreckensvokabel für eine ganze Briten-Generation wurde.

Gleichwohl hält Winterbotham noch heute Churchills »furchtbare Entscheidung« für »fraglos richtig, wenn ich auch froh bin, daß ich sie nicht zu treffen hatte«. Denn noch wichtiger als der Schutz der Coventry-Bürger dünkte Churchill die Verschleierung dessen. was er »meine geheimste Quelle« nannte.

Churchilis Quelle: eine deutsche Chiffriermaschine vom Typ »Enigma«, die dem Secret Intelligence Service (SIS), Englands Geheimdienst, Einblick in die geheimsten Pläne der deutschen Militärführung verschaffte. In einem SIS-Lager im Norden Londons aufgestellt, von den besten Dechiffrierern und Analytikern des Geheimdienstes bedient, enträtselte Enigma fast alle deutschen Funksprüche, die von britischen Abhörstationen aufgefangen worden waren.

»Ultra« (so der Kodename des Unternehmens) kannte nahezu alles: Hitlers Befehle, deutsche Operationsabsichten, Stärken und Schwächen eingesetzter Verbände, Dislozierung der Divisionen, Kommandostrukturen, Führungspersonalien.

Kein Indiz aber durfte den Deutschen verraten, daß der SIS ihre Befehle mitlas -- daher Churchills makabre Entscheidung im Fall Coventry: Eine vorzeitige Warnung der Bevölkerung hätte die Deutschen mißtrauisch gemacht. Das Geheimnis von Ultra wurde gewahrt.

Selbst nach dem Krieg wachte die britische Zensur darüber, daß die Operation Ultra von keinem Geschichtsschreiber enttarnt wurde. Jahrzehntelang durften Historiker und Memoirenschreiber das Feldherrngenie angelsächsischer Militärs rühmen, ohne zu berücksichtigen, daß Ultra sie inspiriert hatte. Winterbotham ist sich denn auch sicher: »Wenn erst einmal alle britischen Geheimdokumente zur Verfügung stehen, wird die Geschichte über so manchen General des Zweiten Weltkrieges anders urteilen.«

Der inzwischen pensionierte Oberst hat bereits begonnen, die Geschichte zu revidieren. In seinem unlängst erschienenen Buch »The Ultra Secret«. dessen Veröffentlichung er nach jahrelangen Kämpfen mit der Zensur durchsetzte, erzählt Winterbotham zum erstenmal die Geschichte des Unternehmens*.

Winterbothams Bericht ist allerdings lückenhaft. Nach seiner Darstellung soll sich ein polnischer Arbeiter, der versehentlich in eine deutsche Chiffriermaschinen-Fabrik eingewiesen wurde, Details des Apparats gemerkt und ihn für die Briten 1938/39 nachgebaut haben; später hätten polnische Agenten auf Wunsch Londons eine deutsche Maschine gestohlen und britische Entschlüsselungs-Experten die Kodegeheimnisse der Enigma enträtselt. Tatsächlich hat sich die Geschichte erheblich anders abgespielt. Sie begann im Juli 1928, als das Chiffrierbüro der 11. Abteilung (Geheimdienst) des polnischen Generalstabes unter Oberst Gwido Langer Veränderungen im Funkverkehr des deutschen Heeres bemerkte. Die Frequenzen der verschlüsselten Buchstaben in den deutschen Texten wechselten so rasch, daß die Polen annahmen, die Reichswehr verwende Chiffriermaschinen.

Die Experten Langers vermuteten, es müsse sich bei der deutschen Maschine um eine stark verbesserte Version eines Apparats handeln, der seit langem im freien Verkehr war.

Das Gerät war den Fachleuten bekannt, seit Regierungen und Telegraphenämter dazu übergegangen waren, die Verschlüsselung ihrer Nachrichten zu mechanisieren. Das Aufschreiben immer längerer Zahlenkolonnen und immer komplizierterer Kodewörter erschöpfte Zeit und Kraft ihrer Benutzer. Erfinder in aller Welt begannen. Chiffriermaschinen zu basteln.

Das Problem der Kryptologen: jeden Tag ein neuer Kode.

Einer dieser Erfinder war der deutsche Ingenieur Arthur Scherbius, der nach dem Ersten Weltkrieg ein kryptographisches Gerät baute, mit dem er Kodezahlen in Kodewörter verwandeln konnte. Schließlich konstruierte Scherbius eine Maschine, die mittels eines Rotors sowohl Zahlen als auch Wörter ver- und entschlüsseln konnte. Er taufte seine Kreation Enigma, zu deutsch: Rätsel.

Seine Hoffnung indes, mit der Enigma das große Geschäft machen zu können, erfüllte sich nicht. Erst nach seinem Tod tat sich ein ungeahnter Absatzmarkt für die Chiffriermaschinen auf. Die Verstärkung der Reichswehr Ende der zwanziger Jahre machte die Enigma zu einem begehrten Objekt der militärischen Planungsstäbe; das Chiffriersystem der Enigma schien genügend Sicherheit gegen fremde Kode-Knacker zu bieten.

Später unterzogen die Kryptologen der Wehrmacht das Gerät noch einmal einer gründlichen Überprüfung. Die Maschine wurde erheblich verbessert, ihr Mechanismus vereinfacht, ihr Verschlüsselungssystem verfeinert. Das Endprodukt: ein mit kleinen Glühbirnen ausgerüstetes Gerät, das wie eine Schreibmaschine aussah.

Die Enigma hatte eine Tastatur, deren einzelne Tasten durch ein Walzensystem elektrisch miteinander verbunden waren. Je nach dem gerade geltenden Kodeschlüssel konnten die Tasten * F. W. Winterbotham: »The Ultra Secret Weidenfeld and Nicolson, London: 199 Seiten: 3,25 Pfund Sterling.

immer wieder andere Buchstaben produzieren; so konnte etwa die Taste B einmal ein G markieren, ein andermal ein H, dann wiederum ein K und so fort.

Das machte die Übermittlung geheimer Nachrichten zur Routine: Eine Meldung wurde auf der Enigma verschlüsselt, dann über Funk an einen Empfänger gesendet, der wiederum die chiffrierte Meldung auf seiner Enigma entschlüsselte.

Das System schien für den Gegner undurchdringlich -- dank zweier Sicherungen. Der ehemalige Abwehr-Oberstleutnant Franz Seubert erinnert sich: »Die elektrische Einstellung mußte täglich nach einem streng geheimgehaltenen Schlüssel geändert werden; vor jedem aufgegebenen Funkspruch mußten einige Kodewörter in die Maschine gefüttert werden. Dazu verwendeten die Funkstellen eine ganze Zeile aus einer Seite eines bestimmten Buches. Seite und Zeile wurden täglich gewechselt, bei längeren Sprüchen auch mehrmals am Tage.«

Seubert: »Ohne »Enigma' plus Kenntnis der elektrischen Daten plus Text aus dem Schlüsselbuch konnte kein Funkspruch entschlüsselt werden.« Doch eben dieses Kunststück traute sich das polnische Chiffrierbüro zu.

Polnische Geheimdienstier bauen »Enigma« nach.

Seine Agenten erwarben eine alte Enigma aus den zwanziger Jahren. die Experten auseinandernahmen, um erforschen zu können, was die Deutschen inzwischen an dem Apparat verändert hatten. Später begannen drei junge Mathematiker -- Marian Rejewski, Henryk Zygalski und Jerzy Rozycki

mit dem Versuch, durch Entwicklung einer Zyklentheorie das Geheimnis des deutschen Maschinenschlüssels zu lösen.

Sie hatten das Rätsel schon zur Hälfte gelöst, als ihnen Polens französischer Bundesgenosse zur Hilfe kam. Major Gustave Bertrand, Leiter der Abteilung »DY« des französischen Geheimdienstes, besaß Kodeunterlagen der Enigma, die ihm einer seiner Agenten namens Hans-Thilo Schmidt, Angestellter in der Chiffrierabteilung von Görings Forschungsamt, seit dem Sommer 1937 regelmäßig über Schweizer Deckadressen zusandte.

Bertrand hatte selber in achtjähriger Forschungsarbeit versucht, eine Enigma nachbauen zu lassen. Als er hörte, daß die Polen schon weiter seien, stellte er seine Unterlagen den Kollegen in Warschau zur Verfügung. So konnten Langers Experten endlich den Durchbruch erzielen: Im Sommer 1939 rekonstruierten sie die neue deutsche Chiffriermaschine.

Am 26. Juli holte sich Bertrand zwei Enigmas in Warschau ab, einen Monat später stellte er dem britischen Geheimdienst eine. Maschine zur Verfügung. Bald darauf händigte der Franzose den Briten auch alle seine Kodematerialien aus, die es den Entschlüßlern des Seeret Intelligence Service ermöglichten, auch die neuen Enigma-Kodes zu knacken.

Das Gerät kam nach Bletchley Park. einem unauffälligen Landsitz bei London, auf dem die Kryptologen ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Die Leitung des Unternehmens und die Weitergabe der in Bletchley ("Station X") entschlüsselten Enigma-Meldungen sollte Winterbotham übernehmen, der die Luftwaffen-Abteilung des SIS kommandierte und als intimer Deutschland-Experte galt.

Anfang 1940 war es endlich soweit: Die Briten kannten jede Kode-Variation der Enigma. Die Entschlüsseler riefen den in London gebliebenen Winterbotham nach Bletchley Park. Dort wurde er, erinnert sich Winterbotham. »mit großer Feierlichkeit an den Heiligenschrein geführt«, in dem das Gerät stand, »wie eine asiatische Göttin, dazu bestimmt, das Orakel von Bletchley zu werden«.

Zwei Monate später kam die erste Chance, das Orakel zu befragen. Ende Februar erfuhr der SIS, daß die deutsche Luftwaffe soeben mit Enigma-Geräten ausgerüstet worden sei und erste Probesendungen unternehmen werde. Die britischen Abhörstationen warteten auf die Funksignale. Anfang April ertönten sie, wurden aufgezeichnet und nach Bletchley übermittelt. Enigma entschlüsselte die Funksprüche: vier kleine Meldungen über Luftwaffen-Personalien, inhaltlich unwichtig und doch so begeisternd für die Briten. Winterbotham: »Das Wunder war geschehen.«

»Unternehmen Ultra« konnte beginnen. Winterbotham übernahm in London die Führung und hielt den Kontakt zu Churchill, Trupps ausgesuchter Geheimdienst-Offiziere informierten die Oberbefehlshaber der Armeen und hielten den Kreis der Eingeweihten möglichst klein.

Einen Monat später lief die Operation bereits auf Hochtouren. Immer zahlreicher wurden die deutschen Funksprüche, immer hektischer wurde die Entschlüsselungsarbeit -- die Deutschen funkten täglich bis zu 2000 Sprüche. Hitlers Frankreich-Feldzug brachte bald den ersten spektakulären Ultra-Erfolg.

»Jetzt ist es höchste Zeit, Frankreich zu räumen.«

Am Morgen des 23. Juni 1940 entschlüsselte Station X eine Weisung des Oberbefehlshabers des deutschen Heeres, Generaloberst von Brauchitsch, die den deutschen Heeresgruppen A und B befahl, den Einkreisungsring um das britische Expeditionskorps im Raum Ostende »mit äußerster Energie« zu schließen. Kurz darauf legte Winterbotham eine Abschrift der Brauchitsch-Weisung Churchill vor.

Der Premier erkannte, daß die britischen Verbände in tödlicher Gefahr waren. »Es war dieser Funkspruch«, weiß Winterbotham, »der Churchill zu der Auffassung kommen ließ, es sei höchste Zeit, Frankreich zu räumen.« Churchill gab Befehl, die britischen Truppen sollten sich auf Dünkirchen zurückziehen -- der britischen Bergungsflotte entgegen.

Den nächsten Akt britischer Selbstverteidigung eröffnete eine weitere Ultra-Meldung. Mitte Juli erhielt Winterbotham einen Funkspruch Hermann Görings an die Oberbefehlshaber seiner Luftflotten, ein ominöses Wort tauchte auf: »Seelöwe«, Deckname für eine deutsche Landung in England.

Das deutsche Invasionsheer kam jedoch nicht, bald kannte Station X auch den Grund: Görings Luftwaffe sollte zunächst Englands Luftverteidigung zerschlagen. So stand es in einem entschlüsselten deutschen Befehl vom 1. August. Funkspruch auf Funkspruch konnten die Briten verfolgen, wie sich die deutsche Luftwaffe zum Schlag gegen England rüstete.

Am 8. August 1940 hielt Winterbotham den am gleichen Tag erlassenen Einsatzbefehl Görings für die Luftoffensive gegen England in Händen. Die britische Luftverteidigung wurde alarmiert, doch die deutsche Bomber-Armada erschien nicht zur festgesetzten Zeit -- schlechtes Wetter verhinderte den Angriff.

Dann brach der Feuersturm los, die deutschen Bomber stürzten sich auf England. Oft aber wußten die Verteidiger dank Ultra« welche Ziele in welcher Stärke der Feind anflog. Ultras Meldungen erleichterten der Royal Air Farce, die deutschen Bomberschläge zu überleben.

Da lief am Morgen des 5. September ein Göring-Befehl ein, der dem britischen Generalstab zum erstenmal andeutete, daß die Deutschen aufgaben. Göring befahl, 300 Bomber der Luftflotte 3 sollten die Londoner Docks zerstören. Aus dem Krieg gegen Jäger und Flugplätze wurde eine Aktion des Bombenterrors. Von diesem Augenblick an wußte Winterbotham, »daß Seelöwe ausgespielt hatte«.

Der Schwerpunkt der Ultra-Arbeit verlagerte sich ins Mittelmeer, wo deutsche und italienische Truppen die Kriegsentscheidung zu erzwingen versuchten. Nach dem britischen Rückzug aus Griechenland im April 1941 erspähten Winterbothams Experten zum erstenmal die Chance, einen Feldzug mitzuentscheiden.

Station X dechiffrierte die Funksprüche, mit denen der Fallschirmjäger-General Student seine Verbände in alle Einzelheiten der bevorstehenden Landung auf Kreta einwies. Winterbotham alarmierte sofort den alliierten Kreta-Befehlshaber Sir Bernard Freyberg. »Er besaß«, erinnert sich Winterbotham, »die detailliertesten Angaben über eine feindliche Operation, die je einem Truppenführer zur Verfügung standen.«

Dank solcher Vorausinformation konnten Freybergs Truppen den Gegner fast überall zurückschlagen, als der am 20. Mai auf Kreta landete. Nur auf dem Flugplatz Malemes konnten sich die deutschen Fallschirmjäger halten. Freyberg unterließ einen Gegenangriff und gab so Student die Möglichkeit, Verstärkungen heranzuholen. Freyberg mußte die Insel räumen.

Der Siegeszug von Generalfeldmarschall Erwin Rommels Afrika-Korps trieb die Ultra-Entschlüsseler zu neuer Aktivität. Der Funkverkehr zwischen Rommel. dem in Italien sitzenden Oberbefehlshaber Süd, Generalfeldmarschall Kesselring, und dem Führerhauptquartier wurde bevorzugt beobachtet, jeder Befehl, jeder Lagebericht registriert und analysiert.

Als sich Rommel Mitte August 1942 zum entscheidenden Durchbruch nach Ägypten entschloß, meldete sich Ultra. Station X legte dem Oberbefehlshaber der britischen 8. Armee, General Bernard Montgomery, den gesamten Feldzugsplan Rommels vor, einschließlich einer detaillierten Aufstellung über Mannschaftsstärke, Bewaffnung, Ausrüstung und Versorgung des Afrika-Korps.

Ein entschlüsselter Bericht Rommels an Hitler ermöglichte Ultra« Datum und Stoßrichtung des deutschen Angriffs präzise vorauszusagen. Rommel hatte Hitler vorgeschlagen, die 8. Armee am südlichen Ende ihrer linken Flanke überraschend anzugreifen, von dort aus die Armee aufzurollen und ins Meer zu treiben.

Das hinderte freilich Montgomery später nicht, in einer Besprechung mit den ihm unterstellten Kommandeuren zu erklären, seine »Intuition« sage ihm, Rommel werde die Armee an der linken Flanke angreifen. Als Rommel tatsächlich, wie vorausgesagt, am 31. August angriff, hatten die Briten trotz aller geheimdienstlichen Schützenhilfe noch Mühe genug, die deutsche Attacke abzuwehren.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß Ultra-Meldungen allein nicht ausreichten, den Krieg zu gewinnen. Sie konnten Material und Menschen nicht ersetzen, die letzten Endes über Sieg oder Niederlage entscheiden -- ganz abgesehen davon, daß manchmal spontane Entscheidungen des Gegners auf dem Schlachtfeld von Ultra nicht wahrgenommen werden konnten. Nicht jeder alliierte Feldherr war so glücklich wie Montgomery, dem Ultra auch bei El Alamein half. Montgomery beabsichtigte, den Schwerpunkt seines Angriffs in den Norden zu legen, unweit des Meeres. Ultra aber meldete, Rommel habe soeben eine Division nach dem Norden in Marsch gesetzt und befohlen, mit deutschen Einheiten die unsicheren italienischen Verbände im Mittelabschnitt der Front zu verstärken.

Winterbotham führt die deutsche Abwehr in die Irre.

Schlußfolgerung: Rommel hielt den Mittelabschnitt für besonders gefährdet. Darauf schlug der Generalstab der 8. Armee vor, in der Mitte loszuschlagen. Montgomery widersetzte sich jedoch dem Vorschlag. Erst ein weiterer Ultra-Bericht über die katastrophale Brennstofflage des Afrika-Korps bewog ihn endlich, seinen ursprünglichen Plan zu ändern.

Von Ultra inspiriert, erzwang Montgomery den Sieg über Rommel. Von Stund an lenkten Ultra-Meldungen die Entscheidungen der britischen Kommandeure und ließen sie die Operationspläne Rommels mitlesen. Auch die Führer der US-Armee, die im November in Nordwestafrika landete und Rommels zurückweichendem Heer entgegenzog, profitierten von Ultra.

Ultra-Meldungen gaben den Briten auch die Möglichkeit, den empfindlichsten Nerv des Afrika-Korps zu treffen: seinen Nachschub. Viele Versorgungsschiffe, die Kesselring von italienischen Häfen aus dem Afrika-Korps schickte und zuvor über Funk (mit genauer Angabe von Kurs, Ladung und Bestimmungshafen) ankündigte, wurden von den Briten versenkt.

Die deutschen Geleitzüge gingen so häufig verloren, daß die Ultra-Männer schon befürchteten, die Deutschen könnten Verdacht schöpfen. Deshalb mußten vor jedem Angriff britische Flugzeuge den deutschen Schiffen entgegenfliegen, um den Gegner glauben zu machen, er sei durch Luftaufklärung entdeckt worden.

Als jedoch die Briten einmal einen Geleitzug trotz dichtesten Nebels vernichteten, alarmierte Kesselring die Abwehr und ließ sie untersuchen, ob der Geleitzug dem Gegner verraten worden sei. Winterbotham legte daraufhin eine falsche Spur: In einem für die Abwehr leicht zu entziffernden Funkspruch gratulierte der SIS einem fiktiven Agenten in Neapel, durch seine Arbeit zur Versenkung des Geleitzugs beigetragen zu haben. Winterbotham: »Wir hörten später, daß der für den Hafen von Neapel zuständige italienische Admiral abgesetzt worden sei unter dem Verdacht. selber der Informant gewesen zu sein.

Als die Generalstäbe der angelsächsischen Armeen im Frühjahr 1943 die Invasion Siziliens vorbereiteten, beeinflußte wieder Ultra-Material ihre strategischen Entscheidungen. Station X hatte einen Bericht Kesselrings an das OKW geliefert, in dem er die Aufstellung und Stärke der Insel-Verteidiger genau aufschlüsselte. Mehr noch: Kesselrings Funksprüche offenbarten, daß er sich nicht sicher war, wo der Gegner landen werde.

»Ultra entschied das Schicksal der deutschen Armeen.«

Weiteres Funkmaterial ließ Winterbotham folgern, »daß die Landungsgebiete nur leicht von italienischen Küstenbrigaden bewacht wurden und

vorausgesetzt, man konnte den deutschen Panzern die wenigen Küstenstraßen sperren -- die Landeoperationen nur auf geringen Widerstand stoßen würden«.

Entsprechend traf der alliierte Generalstab seine Maßnahmen. Die Eroberung Siziliens glückte in wenigen Wochen. Autor Winterbotham ist begeistert: »Das war Ultra in seiner ganzen Schönheit.«

Ultra war wieder dabei, als die westlichen Alliierten im Sommer 1944 ihren letzten, kriegentscheidenden Feldzug eröffneten: die Invasion in Frankreich. Ultra-Material überzeugte den Oberkommandierenden Eisenhower, daß die Deutschen seine Verbände an der falschen Stelle (am Kanal statt in der Normandie) erwarteten. Ultra-Meldungen enthüllten der vorstoßenden britischen 2. Armee die schwachen Stellen in der deutschen Abwehrfront. Ultra-Informationen signalisierten den geplanten Gegenschlag der deutschen 7. Armee, der im Bombenhagel der alsbald alarmierten anglo-amerikanischen Luftwaffe steckenblieb.

Auch die letzte Chance der deutschen Verteidiger wurde mit der Hilfe von Station X zerstört. Am 1. August 1944 wies Hitler den Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall von Kluge, an, eine Gegenoffensive zu beginnen, um der Wehrmacht die Initiative zurückzugewinnen. Kluge sollte die Stadt Avranches zurückerobern, die US-Verbände am Fuße der Halbinsel Cotentin aufspalten und ins Meer treiben. Kluge widersprach. Wenn der Angriff, funkte er zurück, nicht sofort Erfolg habe, könne dabei das ganze deutsche Westheer eingekreist werden.

Die Funksprüche -- von Station X vorgelegt -- bewogen Eisenhower, seine Taktik zu ändern. Statt eines frontalen Vormarsches beschloß er, die Masse der deutschen Verbände einzukreisen und zu vernichten. »Es war eine bizarre Situation«, kommentiert Winterbotham. »Eisenhower und Ultra entschieden mit Hitlers Hilfe das Schicksal der deutschen Armeen.«

Der Disput zwischen Kluge und Hitler, tagelang über Funk ausgetragen, ermöglichte Eisenhower, seine Armeen umzugruppieren. Gegen den Widerstand Kluges befahl der Diktator die Offensive am 8. August. Die Schlacht von Falaise endete, wie von Eisenhower geplant: Die Masse des deutschen Westheeres wurde vernichtet, die Abwehrfront der Wehrmacht brach zusammen. Es war »vielleicht Ultras größter Triumph«, wie sein Chef meint.

Gleichwohl werden die Historiker zögern, alle Urteile Winterbothams zu akzeptieren, der dazu neigt, Ultra für den eigentlichen Gewinner des Zweiten Weltkriegs zu halten. Schon Eisenhower kommentierte distanziert: »Ultra war wesentlich.« Das will sagen: Ultra hat zwar nicht den Krieg entschieden, aber es bot den Armeen der Alliierten eine noch nie dagewesene Führungshilfe.

So bleibt unbestritten, daß ohne Ultra der Krieg noch länger gedauert hätte. Winterbotham bringt es auf eine schlichtere Formel: »Die Hinterzimmer-Boys von Bletchley waren einfach Klasse.«

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