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Sehnsucht nach dem Happy End

Fresswelle und Reisewut, Tütenlampen und Heimatfilme - die Alltagskultur der Aufbaujahre zeigte ein neues, oft etwas verkrampftes Selbstbewusstsein. Und alles sollte sauber sein - im Haushalt wie auf der Kinoleinwand. Von Hellmuth Karasek
aus DER SPIEGEL 3/2006

Da die Deutschen das Jahr 1945 als »Zusammenbruch« erlebten (und nicht das Jahr 1933), das Kriegsende als »Stunde null«, konnte es eigentlich nur aufwärtsgehen.

Und in den fünfziger Jahren ging es stürmisch bergauf. Gründerstimmung, Gründeroptimismus lag in der Luft. Man sah das Ziel und konnte deshalb den Weg übersehen.

Fresswelle hieß die erste Etappe: Der Kuchen mit Schlagsahne wurde wiederentdeckt, wiedererobert. Der spätere Udo-Jürgens-Hit »Aber bitte mit Sahne« erinnert uns an die glückliche Zeit, als wir wieder was auf die Rippen bekamen. Und als Essen noch kein Diätproblem war, sondern eine Kalorienbeschaffungsmaßnahme für den rasanten Wiederaufbau und gegen den kalten Winter.

Als die 68er mit den fünfziger Jahren aufräumten, stürzten sie sich in West-Berlin auf die Sahnekuchen essenden Damen mit Hütchen im Kempinski am Ku'damm-Eck. Günter Grass hat ihnen einen Roman, »Örtlich betäubt«, gewidmet.

Rudi Schuricke besang die »Capri-Fischer«, die Deutschen erreichten den Lago Maggiore. Die D-Mark im Visier, konnte man alles Verstörende leicht verdrängen. Hatte man nicht eben in der Nazi-Zeit, die man euphemistisch nur als »jene dunklen furchtbaren Jahre« umschrieb, ein Übermaß an Politik erlebt? Also zog man sich von der Politik, soweit es die Geschäfte erlaubten, zurück.

Das erste Land, in das sich die deutsche Reiselust, die deutsche Reisewut, ergoss, war der Nachbar Österreich. Das durch die Operette aufgeschlossene Salzkammergut ("Da kamma gut lustig sein"), der Wörthersee in Kärnten ("Du bist die Rose, die Rose vom Wörthersee"), die Wachau mit Wein, Weib und Gesang und »Wien, Wien nur du allein« waren die nahen Ziele des deutschen Fernwehs, der eine Schritt von Berchtesgaden in ein anderes Land. In Österreich war man in der Ferne und doch zu Hause, bei sich und doch außer sich.

Man brauchte keine fremde Sprache zu erlernen und war trotzdem nicht in der eigenen. Topfenknödel und Topfenstrudel sagten sie, wo sie Quarkklößchen oder Quarkstrudel meinten. Der deutsche Tourist fand in Österreich etwas, was gleichzeitig seinen Neid wie seine Überheblichkeit herauskitzelte, den Neid auf das Urtümliche, Gemütliche, Bodenständige und die Überheblichkeit, weil die da noch so putzig waren, im Janker und im Dirndl und »Küss die Hand, gnä' Frau!«

Nach 1945 hatte es Österreich geschafft, sich den siegreichen Alliierten als das erste Opfer der Hitlerschen Annexionen darzustellen. »Den Österreichern ist es gelungen, aus Beethoven einen Österreicher und aus Hitler einen Deutschen zu machen«, spottete der Ex-Österreicher Billy Wilder.

Der »Anschluss«, der einmal verboten, dann unter dem Jubel der Österreicher vollzogen worden war, stellte nie wieder ein Thema dar - kein Wunder, da der Massentourismus, der bald den spaßigen »kleinen Grenzverkehr« mit Operetten-Zöllnern produziert hatte, die beiden Länder sozusagen im Omnibusverkehr vereinte.

Aus Kärnten, der Heimat Jörg Haiders wie Peter Handkes, stammt das Lied von der Rose vom Wörthersee. Man sieht: Heimat war der Wunsch- und Traumbegriff der fünfziger Jahre. Heimat im Heimatfilm, Idylle, die man sich an die Pinnwand des Gemüts heften konnte - wie einen Kalender mit Bergen und Seen in eine graue Neubausiedlung in einem Industriegebiet bei Essen, Rüsselsheim oder Wanne-Eickel.

Und im Heimatfilm, dem nostalgischsten Produkt der deutschen Sehnsucht nach gestern, war Österreich die Inspirationsquelle der Deutschen.

1955 vermählte sich Österreich mit Deutschland, zumindest auf der Leinwand. Ernst Marischka drehte den Schmachtfilm der Epoche: »Sissi«. Es ist die Liebesgeschichte des jungen Kaisers Franz Joseph und der bayerischen Prinzessin Elisabeth. Mit »Sissi« traten Millionen die Flucht aus der Gegenwart an in eine verklärte, heile Welt, in der Kaiser und Prinzessinnen in unsere Gefühle herabstiegen, auf dass wir in ihre Gefühle hinaufsteigen konnten.

Sissi mit Korkenzieherlocken, in ihre gehobenen Dirndlkleider gesteckt wie ein Praliné in eine Konfektschachtel, der junge Kaiser mit akkuratem Scheitel und kurzem Messerschnitt, das glatte Gesicht aus einer weißen Uniform ragend, die eine rot-weiß-rote Schärpe dem ewigen Österreich zuordnet - die schwere Süße des Films macht deutlich, welcher Säuernis und Bitternis die damaligen Zuschauer zu entrinnen hatten.

Und da waren die Capri-Fischer, die »rote Sonne«, die im Meer versinkt, die »bleiche Sichel des Mondes«, die blinkt - den wohl erfolgreichsten Schlager der fünfziger Jahre sang Rudi Schuricke mit seinem schaurig-hellen Tenor, einer Stimme, die so viel sexuelles Timbre hatte wie eine Glatze Haare.

Das Lied ist ein Tango. Wie jeder Tango handelt er von der Liebe. Wie fast jeder Tango handelt er von der Eifersucht. Aber was für eine Liebe ist das? Es ist eine Liebe ohne Nähe, ohne Vollzug, die Liebe eines Nachtarbeiters, der zur Zeit, da der Mond malerisch am Himmel steht, nicht bei seiner »bella Marie« sein kann - also kommt auch kein Zuhörer auf dumme Gedanken.

Die Beliebtheit der Capri-Fischer hat ihren Grund in der klinischen Reinheit der Liebesgedanken. Denn der glockenrein singende Fischer geht seiner Nachtschicht nicht bei Krupp in Essen und nicht bei VW in Wolfsburg und nicht bei Ford in Köln nach. Sondern er arbeitet vor der deutschen Traumkulisse schlechthin: bei Capri.

Er arbeitet da, wo die Deutschen ihre Freizeit verbringen wollten. Und er arbeitet,

damit sie ihre Freizeit so angenehm wie möglich verbringen können: im »ristorante« am Meer, wo sie »vino bianco« oder »rosso« trinken und die »frutti di mare« essen, »Spaghetti alle vongole«, gegrillten »pesce«, die Nacht davor gefangen, vom Freund der »bella Marie«, die auch im Lied vorkommt.

Das zweite Reiseziel der Deutschen war Italien.

Die meisten, die der beginnende Massentourismus in Bussen und vollgestopften Familienautos in endlosen Schlangen über den Brenner oder den Gotthard nach Italien presste - man kann sich den Leidensweg nicht mühevoll genug vorstellen -, wollten die Sonne, »o sole mio«, das Nichtstun und den Gesang. Es zog sie an die Strände der Adria, nach Rimini, Bibione, Riccione, wo sie bald in der Sonne grillten, nebeneinanderliegend wie Sardinen in der Büchse.

Auch ihr Übervater Adenauer machte im Süden Urlaub, und wie er reisten viele an die oberitalienischen Seen. Sie folgten dem Beispiel ihres greisen Kanzlers und spielten, das Pepitahütchen auf dem Kopf, Boccia oder Minigolf.

Italien sollte die deutsche Nachkriegskultur entscheidend prägen, von den Essgewohnheiten, den Tropfkerzen in Chianti- und Lambrusco-Flaschen bis zur Toskana-Sehnsucht.

Die Spaghetti bekamen sogar einen deutschen Plural: »Spaghettis«. Der Pizzabäcker wie der Gemüsehändler wurden tragisch-komische Figuren in Filmen von Rainer Werner Fassbinder und als Gastarbeiter bei Werner Schroeter.

Um Politik schienen sich die Deutschen bei der fast besinnungslosen Erfolgsstory ihres Aufstiegs kaum zu kümmern. Die Außenpolitik, die besorgte ohnehin der große allmächtige Bruder, dessen Korea-Krieg man soeben zähneklappernd überstanden hatte, ängstlich in den Windschatten gedrückt. Für innere Angelegenheiten hatte man seinen Adenauer, der zwar manchmal streng und christlich tat, aber glücklicherweise Rheinländer und Rosenzüchter war. Und er hatte auch noch einen Ludwig Erhard zur Seite, der uns den Konsum als höchste Moral empfahl: Die D-Mark muss rollen ...

Im Rückblick gleichen die Fünfziger einer Familie, die mit viel Eifer umzieht, sich über jede neumontierte Lampe in der neuen Wohnung freut. Sie kann und darf noch nicht wissen, dass auch ihre Probleme mit ihr umgezogen sind. Besonders wenn sie sich auf den Wiederaufbau ihrer alten Gewohnheiten kapriziert. Verdrängen macht Spaß, eine Weile.

Als das Erinnern wie ein böses Erwachen über die Deutschen kam, nach den fünfziger Jahren, da hatte sich Deutschland, wie es bis heute fortlebt, schon fest etabliert.

Der Slogan eines heutigen, elchigen, gewaltig wachsenden Möbelkonzerns - der von Ikea: »Wohnst du noch? Oder lebst du schon?« - wäre uns, die wir in den fünfziger Jahren lebten und beengt wohnten oder auf ständiger Wohnungssuche waren, wie der reine Hohn vorgekommen. Wir lebten noch - und hatten zunächst nichts zu wohnen.

Ich war erst Vertriebener, dann Republikflüchtling. Ich weiß, wovon ich rede.

In einer gewaltigen Aufbauleistung wurden Siedlungen für Flüchtlinge gebaut (sie folgten den Barackenlagern), die sich am Ideal des Eigenheims im Grünen notdürftig orientierten. Die Besiedlung Deutschlands (Stichwort: Eigenheim) begann, und sie begann in den Kleinstädten und Vorstädten. Deutschland wurde »Provinz« - mit allen Vor- und Nachteilen, die diesem Begriff innewohnten.

Die Wohnungen der fünfziger Jahre wirkten seltsam leer, obwohl sie klein, eng, niedrig waren. So als hätten ihre Bewohner noch keine Vergangenheit, die sich in den Räumen hätte ablagern können. Auf den Bücherregalen des Modells »String« (einzelne Bretter, in lockerer Anordnung an die Wand gehängt, entweder hell oder braun gebeizt) standen nur wenige Bücher, so dass sie schräg ineinanderfielen.

Die Kleiderschränke waren schmal, Tische und Stühle hatten dünne, nach außen gespreizte Beine. Die Treppen - freitragend - hatten luftige Zwischenräume, das Geländer wirkte wie locker verschnürt. Auf die kleinen Zimmer drückten Tapeten in schweren Farben und mit wilden, großen Mustern oder wuchtigen Streifen - als ob die Räume nicht ohnedies eng genug gewesen wären. Eine Wand kontrastierte mit drei anderen, waren drei gelb oder rot, so war die vierte schwarz: Die Muster waren durch Miró angeregt oder durch Jackson Pollocks wilde, heftig hingekleckste Tropfenbilder (Spitzname: »Jack the Dripper"). Es gab Labyrinthe mit schwarzen Gängen, dicke, schwarze Punkte auf gelbem Grund.

Die extremen Tapetenmuster haben sich mir offenkundig so auf die Seele gelegt, dass ich, nachdem ich den Fünfzigern entkommen war, nie mehr andere als weiße,

musterlose Tapeten an meinen Wänden ertragen konnte.

Berühmt-berüchtigt ist die Zeit für ihre Tische und Lampen geworden, als Nierentisch- und Tütenlampen-Epoche. Beide, die Nieren- wie die Tütenform, stellen eine Absage an die klaren, geometrischen Formen dar, an Kreis, Oval, Gerade, Kegel und Zylinder. Pflanzen mit nierenförmigen Blättern schlängelten sich von Bambusregalen, man versank in drahtverbundenen Schalensitzen ("Mauser-Muschel"), in flaffigen Schaumgummifüllungen der Stühle und Sofas. Die Stühle hatten buntgepunktete oder schwarz-weiß gestrichelte Plastikbezüge. Resopalplatten, die bunte Muster wie unter Glas zeigten, waren oft von Messingleisten eingerahmt.

Alles war abwaschbar. Die Kunststoffböden, rot, gelb oder schwarz, meliert und gemustert, das versiegelte Kleinstparkett - Staubfänger war eines der schlimmsten Schimpfwörter. Alles, was Staub fing, war alt und verstaubt - es war ein gebohnertes, gemopptes, staubgesaugtes Ambiente, in das sich die biegsamen, biegbaren Blütenarme der Tütenlampen streckten. Blumenvasen erinnerten an den überwältigenden Einfluss Picassos auf die Epoche, von den Decken hingen die ageometrischen luftigen Mobiles, wie sie Calder geschaffen hatte.

Plastiken orientierten sich entweder an den wuchtig fließenden, durchlöcherten Urzeit-Figurinen Henry Moores oder an den staksigen, spindeldürren, spitzen Giacometti-Kunstwerken. Die von moderner Kunst sich bedroht Fühlenden wehrten sich mit dem Spruch: »Lieber vom Leben gezeichnet als von Picasso gemalt.«

Die Fünfziger sind auch als Teakholz-Zeit in die Designgeschichte eingegangen. Natürlich gab es daneben jene barocke Überladenheit, die sich für gemütlich hält. Das »Gelsenkirchener Barock« lebte auf, bei besseren Leuten wurden wurmstichige Madonnen neben Bauerntruhen und Bauernschränke gestellt. Mit dieser überladenen Gemütlichkeit erholte man sich vom »Stil« der Moderne, den in Deutschland vor allem die Ulmer Hochschule für Gestaltung bestimmte.

In diesen Spießerhöhlen weicher Gemütlichkeit gab es röhrende Hirsche und Kuckucksuhren, Seestücke und Alpenlandschaften mit cremig-weißen Berggipfeln, eine Nivea-Welt der Berge und Firne. An den Wänden hingen abgesägte Baumscheiben (vorwiegend Birke), in die Sprüche eingebrannt waren: »Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.« Der Dackel, zweifellos neben dem weißgelockten Foxterrier der Hund der Epoche, klein genug für kleinere Körbchen in schmalen Fluren, hob dazu dankbar den Dackelblick.

An eine poetische Leistung (Dichter unbekannt) jener Epoche erinnere ich mich besonders gern. Der Spruch hing in Telefonnähe des damals schon luxusweißen klobigen Telefons und lautete: »Lass Dich durch einen Fernspruch nicht aus der Ruhe bringen! Denk immer an den Kernspruch des Götz von Berlichingen!«

Welche Reime, welche Bildung!

So gab es den schlechten, gemütlichen Geschmack, der sich noch bis weit in die Sechziger hielt und dessen Nonplusultra-Ausdruck die gewaltigen Grundig-Musiktruhen waren, die als Krönung einen Zehn-Platten-Wechsler hatten. Man saß dann neben der mit Mixer, klobigem Tischfeuerzeug und eventuell betropften Bastflaschen ausstaffierten Hausbar und ließ Platte für Platte ablaufen - sei es Beethoven, sei es Schuricke. Übrigens wurden im Jahr 1955 eine Million Plattenspieler in Deutschland verkauft. Das Koffer- und Kleinradio im Plastiklook aus Bakelit kam auf, für die geplagte Hausfrau stand es, wieder in den unvermeidlichen Pastellfarben Grün, Rosa und Blau, aber auch knallbunt, frechbunt, in Küche und Bad. In den Freibädern entwickelte es seine lärmbelästigende Kraft.

Merkwürdigerweise galt es lange als chic, in den engen, kleinen, hellhörigen Neubauwohnungen zu leben - und nicht in der übriggebliebenen Gründerzeitpracht der Altbauten. Die verstuckten Fassaden waren meist vom Rost der Zeit angefressen, von Kriegsnarben gezeichnet - man hatte für die Renovierung noch kein Geld. Innen waren die riesigen Wohnungen, Wohnpaläste des wilhelminischen Großbürgertums, oft aus Nachkriegsnot in mehrere Kleinwohnungen unterteilt, die Installationen waren heruntergekommen, die großen Herde, die Badkacheln herausgerissen, die Decken künstlich mit Sperrholzplatten heruntergezogen.

Nein, der großzügige Altbau war kein begehrtes Wohnobjekt einer kleinkarierten Zeit. Das kam erst, als sich die Wirtschaftswunderjahre einen neuen Luxus gönnen konnten - zum Ende der Epoche. Nichts war den Fünfzigern so verhasst und so suspekt wie das ausgehende 19. Jahrhundert, das als plüschig, verschnörkelt, bärtig, schnurrbärtig galt. Man verachtete schlicht die schweren Stoffe, die Stukkaturen, die gedrechselten Möbel.

Als die fünfziger Jahre vorbei waren, wollte man sie ebenso schnell vergessen. Die Abrissbirne schlug gnadenlos zu. Die sechziger Jahre kündigten sich in den Großstädten mit Sperrmüll-Abräumungsorgien an. An den avisierten Sondermüll-Abfuhrtagen glichen die Straßen wilden Flohmarktlagern, die fliegende Händler, meist Südländer, mit abgestellten Lastwagen bei laufendem Motor durchkämmten. Es war eine Zeit, die sich schnell ihrer selbst schämte.

Der Zweite Weltkrieg hatte die Gesellschaft vor allem in Deutschland völlig durcheinandergewirbelt. Der

Krieg und der Bombenkrieg hatten die Wohngegenden egalisiert, die Menschen zu Hausierern gemacht; Fluchten und Vertreibungen würfelten Menschen aus verschiedenen Regionen, mit verschiedenen Religionen und Dialekten durcheinander, machten die sozialen Unterschiede platt. Adlige wohnten in Flüchtlingsbaracken, Eigentum war verbrannt, geplündert, verloren, Heimat aufgegeben worden.

Adenauers große Tat Mitte der Fünfziger war die Rückholung der Kriegsgefangenen. Doch als die Männer, lange für vermisst, für tot gehalten, zurückkamen, hatten sich ihre Frauen längst emanzipiert - sie schmissen den Haushalt, sie ernährten ihre Kinder, sie reparierten die gebrochenen Rohre, schleppten die Kohlen, flickten kaputte Sicherungen, klebten Fahrradschläuche.

Wie die Heimkehrer stärker und erst nach und nach wieder als Paterfamilias akzeptiert wurden, hält Sönke Wortmanns Film »Das Wunder von Bern« paradigmatisch fest. Mit dem Fußball konnte der Vater wieder das häusliche Regiment übernehmen. Adenauers Heimführung der Kriegsgefangenen und der Sieg der Deutschen 1954 in Bern über die Ungarn (3:2) sind Dreh- und Angelpunkt der deutschen Restauration.

Wie entscheidend wichtig der Fußballsieg, das »Wunder von Bern«, für das nationale Selbstbewusstsein der Bundesrepublik war, wurde vier Jahre später, bei der Niederlage in Schweden, deutlich. Nach Bern glaubten wir, den Weltmeistertitel gepachtet zu haben. Aber am 24. Juni 1958 schlugen die Schweden im Göteborger Nya-Ullevi-Stadion die Deutschen schon im Halbfinale 3:1.

Und da war dann in der »Saar-Zeitung« zu lesen: »Das offizielle Schweden hat hämisch genießend zugelassen, dass rund 40 000 Repräsentanten (gemeint waren die ihre Mannschaft mit »Heja, Heja«-Rufen anfeuernden Zuschauer) dieses mittelmäßigen Volkes, das sich nie über nationale und völkische Durchschnittsleistungen erhoben hat, den Hass über uns auskübelte, der nur aus Minderwertigkeitskomplexen kommen kann ... Es ist der Hass eines Volkes, dem man das Schnapstrinken verbieten muss, weil es sonst zu einem Volk von maßlosen Säufern würde.« Goebbels war da 13 Jahre tot, sein Ton aber noch lebendig, glücklicherweise traute er sich nur auf dem Felde der Fußball-Ehre hervor. Eine Welle antischwedischer Ressentiments brach über Deutschland herein. Noch in der gleichen Nacht wurde in Aachen im »Quellenhof«, dem Quartier der schwedischen Teilnehmer am internationalen Reitturnier, die schwedische Flagge heruntergerissen. Schwedischen Autos, die durch Deutschland fuhren, wurden in der Folgezeit die Reifen des Nachts, wenn sie im deutschen Fußball-Feindesland parkten, zerschnitten.

Und die »Schwedenplatte« verschwand, jedenfalls was ihren Namen anbelangt, von den deutschen Speisekarten.

Als ich 1952 aus der drei Jahre jungen DDR, die durch den über sie herrschenden sklerotischen End-Stalinismus auch altersstarr war, in die junge, unter dem Wirtschaftsboom der Erhard-D-Mark aufblühende Bundesrepublik floh (was damals noch leicht über Berlin per S-Bahn zu bewältigen war), »wählte« ich natürlich »auch die Freiheit«, »mit den Füßen«, wie es

hieß. Aber ich wählte zugleich den Konsum, die Freiheit zu konsumieren.

Die Jahre von 1945 bis zur Währungsreform (im Westen) und bis in die frühen fünfziger Jahre im Osten waren Schwarzmarktjahre. Es wurde geschoben und getauscht, unter der Hand und an der offiziellen Bürokratenwelt der Lebensmittelkarten und Bezugsscheine vorbei. Wer sich heute davon ein Bild machen will, sollte sich Billy Wilders Film »A Foreign Affair« von 1948 anschauen.

Nicht bloß als »Black-Market«-Song von Friedrich Hollaender, gesungen von Marlene Dietrich, sondern als Tausch der Wünsche und Begierden: Ein amerikanischer Captain tauscht da die Liebestorte, die ihm seine Verlobte aus Iowa geschickt hat, gegen eine Matratze, auf der er mit seiner deutschen Geliebten, einer »Nazisse« (gespielt von Marlene Dietrich), liegen und lieben will. Kein Wunder, dass der Film, der realistisch das Nachkriegsfraternisieren zwischen Ami-Soldaten und deutschen Frauen, »Veronicas« genannt, beschreibt, weder in den Vereinigten Staaten noch in Deutschland reüssierte. So genau wollte man es nicht wissen, bei aller Liebe.

Die Hauptwährung für all die Liebe war die Ami-Zigarette, die wichtigste Währungseinheit war die »Stange«. Für eine Stange »Amis« gab es einen Haufen Liebe, eine Menge »Frauleins«, für Ami-Lullen gab es Teppiche für die Besatzer, Gemälde, Antiquitäten, Kunstwerke. Zigaretten konnte man gegen Schokolade und Butter tauschen und umgekehrt. Zigaretten betäubten den Hunger, Zigaretten lähmten die Angst.

Noch heute gibt es die »Lucky Strike«-Werbung, allerdings mit dem Zusatz der Todeswarnung! Auch die »Camel« mit dem

Kamel. Die Tabake stammten aus Kentucky, waren »sun mellowed«; Worte wie »American blend« hatten einen magischen Klang. Es gab die »Pall Mall«, dunkelrot mit weißer Schrift, länger als die anderen, und kundige Deutsche stritten sich darüber, dass die »Päll Mäll« und nicht »Poll Moll« ausgesprochen wurde - wie die Straße in London, »you know!«

Bei der Flucht in den Westen kam ich aus einer Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, die aus Bürokratie mit Bezugsscheinen, Lebensmittelkarten, Zulagen, Rationalisierungen bestand (eine veraltete Welt, wie sie der durch die Arbeitslosigkeit gebeutelte Sozialstaat, in Teilen, sich jetzt wieder einzuführen anschickt), in das boomende Wirtschaftswunder, das gleich auch die Auswüchse der Überflussgesellschaft mitproduzierte und damit die Wegwerfgesellschaft - mitsamt ihren Müllproblemen, die bis zu Trittins Dosenpfand in der rot-grünen Welt führten.

Das erste Wegwerfprodukt der sich anbahnenden Wegwerfgesellschaft war das Papiertaschentuch. Die Nürnberger Vereinigten Papierwerke hatten es schnell geschafft, dass ihr Artikelname in Deutschland zum Sachbegriff avancierte: Das Papiertaschentuch wurde zum »Tempo"Taschentuch oder einfach »Tempo«, wie das »Kleenex«-Tuch in den USA.

Aus Amerika waren ohnehin die neuen Grundsätze einer makellosen Sauberkeit nach Europa herübergeschwappt: Dusche anstelle von Badewanne mit Schmutzkruste und gekrümelten Schmutz-Seifen-Partikeln. Man munkelte mit bewunderndem

Kopfschütteln, dass in den USA Wäsche, vor allem Unterwäsche, täglich gewechselt und Socken mit Löchern gar weggeschmissen würden - eine gefährliche Attacke auf das deutsche Stopfei in der Hand der deutschen Hausfrau.

Vertreter trugen blitzend, ja glänzend weiße Nyltest-Hemden, die sie nachts in ihren Hotelzimmern durch eine Lauge im Waschbecken drückten, dann auf einen Plastikbügel tropfend über die Badewanne, so vorhanden (meist hatten die Hotels damals bestenfalls ein Badezimmer pro Stockwerk), hängten, sonst eben über das Waschbecken. Oder über den Fußboden, wo sich ein Rinnsal auf den Spuren anderer Rinnsale bildete.

Die Hotelleitungen schritten mit mahnenden Schildern dagegen ein, so wie sie mit der Aufforderung, sich die Schuhe nicht mit der Gardine zu putzen, gegen einen anderen Sauberkeitsfanatismus von Vertretern ankämpften, jenem neuen klinkenputzenden Berufsstand, der die Konsumgesellschaft ankurbelte.

Die weißen Kunstfaserhemden waren bügelfrei. Einmal über dem Bügel getrocknet, knitterten sie nicht. Ihr Nachteil: Man schwitzte unter ihrem schweißdichten makellosen Weiß. Man kann der Versuchung kaum widerstehen, das als moralisches Symbol zu sehen.

Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« war das entsprechende Bühnen-

stück (wie übrigens Martin Walsers Roman »Halbzeit« von 1960, der ebenfalls die Gründerjahre in der Figur eines Vertreters chiffregleich einzufangen trachtete).

Millers Willy Loman, der Handlungsreisende, ist, auch was die Hygiene anbetrifft, eine Schlüsselfigur jener Jahre. Die Figur macht klar: Hygiene ist gleich Moral, Sauberkeit ist sexuelle Sauberkeit, »Rein bleiben und reif werden« hatte schon der völkische Idealist Walter Flex den Deutschen während des Ersten Weltkriegs in die Pubertät buchstabiert.

Der Sieg über den Schnupfen, das war eines der ersten zu hoch tönenden Versprechen der Werbung, die sich immer mehr in einer Vorher-nachher-Dramatik bewegte - Tragödien mit Happy End. Vorher Schnupfen, dann Tempo, dann Schnupfen weg. Vorher Akne, ein leidzerfurchtes, punkteübersätes Antlitz, dann Anti-Akne-Creme, danach ein befreites Lächeln, das Gesicht keine Kraterlandschaft mehr, vielmehr glatt und glücklich.

Nur merkwürdig, dass die Werbung ihre Happy-End-Versprechen Jahr für Jahr wiederholend steigern musste: weiß, blütenweiß, schneeweiß und schließlich das weißeste Weiß. Oder: Weißer geht's nicht.

Ich las in jenen Jahren begeistert Karl Kraus, vor allem die Sammelbände »Sittlichkeit und Kriminalität«, »Die Chinesische Mauer« und »Untergang der Welt durch schwarze Magie«, in denen der Satiriker die Doppelmoral, die Pressemoral und den Zusammenhang zwischen Sittlichkeitsskandalen und ihrer Veröffentlichung aufdeckte, anprangerte und vor seine Sprachrichterschranken stellte:

»Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.« Der Satz, auf das Wiener Fin de Siècle gemünzt, hatte in den Zeiten der fünfziger Jahre nichts von seiner Richtigkeit eingebüßt. Vielleicht nur, dass die Anlässe kleinlicher, kleinkarierter waren, eben aus den geräumigen, großzügigen, hohen Jugendstilwohnungen mit ihren schweren Samtvorhängen in die piefigen Neubauwohnungen mit ihren lackierten Jalousetten verlegt - aus einer Donaumonarchie in eine Adenauer-Republik, von Wien nach Bottrop. Und moralisch war auch München ein bisschen Bottrop.

1950/51 gab es im deutschen Kino eine Reihe von Filmen, die sich schon in ihrem Titel der Sünde verschrieben hatten. »Sünde« hieß die »Unzucht« in der (Kino-)Kunst, wo gezeigt wurde, dass sie Spaß macht, aber meist ins Verhängnis führt: »Das kommt davon!« Die Filme, alberne Plotten und Schrott, hießen beispielsweise »Auf der Alm, da gibt's koa Sünd'«, »Die Nacht ohne Sünde« oder »Der alte Sünder«.

Für den größten deutschen Filmskandal der Nachkriegsjahre sorgte »Die Sünderin« des Wiener Routiniers Willi Forst. Hildegard Knef spielte darin ein durch Nazi-Herrschaft verstörtes Mädchen, das auf die schiefe Bahn gerät: Es wird Prostituierte. (Mein Gott, haben sich damals die Männer ihre Puffbesuche dämonisiert!) Erst durch die wahre Liebe zu einem todkranken Maler lernt sie, wieder an Gefühle zu glauben.

Der Skandal, den der Film auslöste, obwohl sein sentimentaler Flachsinn keinen Skandal verdient hatte, beruhte auf zwei Fakten: Einmal war die Knef als Modell für Sekundenbruchteile nackt zu sehen, im Hintergrund, während der Künstler sie mit dem Pinsel im Vordergrund auf die Leinwand zu bannen sucht. Übel nahm man auch, dass das arme nackte Mädchen am Schluss Selbstmord begeht.

Wo bleibt das Positive? Die leicht zu neurotisierenden Kirchenvertreter protestierten mit heftigem Glockengeläut gegen den Film und machten damit natürlich Reklame. Jeder wollte rein, um sich hinterher entrüsten zu können. Vor den Filmtheatern kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen.

Die Knef, bis dato ein Trümmerkind mit großen unschuldigen Augen, war zum Vamp arriviert. Ein kurzer Blick auf einen eher verschwommenen nackten Körper, der vage kurz ins Bild rückt - eine neurotische Gesellschaft war ein letztes Mal in Raserei versetzt.

* Mit seiner Tochter Libeth (l.).

Hellmuth Karasek
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