JUGENDKULTUR Sehnsucht nach Istanbul
Sonnenblumenkerne zu knacken ist mindestens so schwierig, wie Krabben zu pulen. Nur wenn man mit den Schneidezähnen an der richtigen Stelle zubeißt, bleibt der Kern heil, während die Schalen auf die Erde fliegen.
Seit kurzem sind das im Berliner Kino Çekirdek (Sonnenblumenkerne) besonders viele. Anfang Juli eröffnete dort das erste Freiluftkino für ausschließlich türkische Filme und ist damit selbst in Kreuzberg, das oft Klein-Istanbul genannt wird, eine Rarität. Hier werden Klassiker aus den siebziger Jahren gezeigt - bisher ohne Untertitel, denn deutsche Zuschauer verirren sich nur selten hierher.
Es sind vor allem Liebesfilme, deren Dialoge selbst die zweite und dritte Generation ehemaliger Einwanderer auswendig kennen, weil sie oft genug im türkischen Fernsehen gelaufen sind. Sie zeigen die Menschen am Bosporus, wie sie einmal waren - einfach und züchtig -, von der komischen Seite.
»Eigentlich geht es gar nicht so sehr um die Filme«, sagt Sascha Wilczek, 30, einer der Gründer des Kinos. »Wir möchten eine ausgestorbene Kultur wieder aufleben lassen.« Er meint die siebziger Jahre, als man in der Türkei Filme noch im Kollektiv anschaute, die Zeit vor Videokassette, DVD und dem Satelliten Eutelsat. Ganz wichtig dabei: »Hier wird noch gemeinsam geheult, und es werden Intrigen beklatscht«, sagt Wilczek. Dass die Filme unscharf sind, keinen Abspann haben und flackern, stört weiter nicht. So oder so bieten sie ein bisschen Urlaub in der Heimat - für Kopftuch- wie für Sneakers-Träger.
Die Sehnsucht gerade junger Deutschtürken nach der Heimatkultur der Vorfahren ist nicht nur ablesbar an den Besucherzahlen des nostalgisch orientierten Çekirdek Sinema. Auch moderne türkische Produktionen locken immer mehr Zuschauer in die Kinos, laufen nicht bloß als Sommer-Special auf türkischen Filmwochen oder Festivals wie dem Berliner »Simdi now« Ende August, sondern haben längst den Einzug in Deutschlands Multiplexe geschafft. So lockte die türkische Schülerkomödie »Hababam Sinifi - Die chaotische Klasse«, eine Art moderne »Feuerzangenbowle«, allein schon in diesem Jahr hier zu Lande rund 270 000 Besucher in die Kinos.
Auch Hürrem Tezcan, 26, und Asli Kasikyapan, 25, lassen sich kaum einen türkischen Film entgehen. Ob alt oder neu, Hauptsache türkisch, ist ihre Devise. »Nicht, weil ich die anderen ablehne«, sagt die Studentin Hürrem, »aber dafür hab ich einfach keine Zeit übrig. Da käme ich dann auch mit so 'ner anderen Stimmung raus.«
Türkei-Nostalgie ist für viele junge Deutschtürken reizvoller als die Heldensagen aus Hollywood - im Unterschied zu ihren Altersgenossen am Bosporus: »Die Jugendlichen in der Türkei sind voll gelangweilt von den alten Schinken«, sagt Asli, »für uns ist das Kult. Aber wir sind sowieso Istanbul-Junkies.«
Regelmäßig fahren die Freundinnen für ein Wochenende nach Istanbul. »Manchmal wird es mir hier zu eng, wenn ich das Gefühl hab, ich muss ohne Ende funktionieren. Dann geh ich einfach«, sagt Hürrem. Ihre Eltern dagegen »haben gar nicht mehr diese besondere Beziehung« zur Heimat.
Istanbul als magische Metropole - darum kreisen viele moderne türkische Filme, für die sich die jungen Deutschtürken begeistern. Die typischen Anpassungsprobleme türkischer Emigranten im Westen, die auch den Hintergrund für Fatih Akins Erfolgsfilm »Gegen die Wand« bilden, sind für dieses sinnhungrige Publikum kaum noch aktuell. Akin selbst scheint das zu wissen: Er dreht gerade den Dokumentarfilm »Crossing the Bridge - The Sound of Istanbul« - eine musikalische Liebeserklärung an die Stadt.
Dass überhaupt so viele türkische Filme auf deutschen Leinwänden zu sehen sind, ist vor allem einem Mann zu verdanken: Anil Sahin, 37. Der ehemalige Projektentwickler der Hamburger Cinemaxx-Spielstätten holt seit 2001 mit seiner Firma Maxximum gezielt türkische Kassenschlager nach Westeuropa.
Das lange vorherrschende düstere Bild der Türkei ist für den Filmverleiher eine »blutende Wunde": »Viele türkische und europäische Filme, vor allem die der siebziger und achtziger Jahre, haben jahrelang die Schmerzen der Türken in Deutschland oder in der Türkei erzählt«, sagt Sahin und schließt die Hamburger Kiez-Tragödie »Kurz und schmerzlos« von Fatih Akin in die Kritik ein: »Akin ist ein guter Regisseur, aber er muss langsam aufhören, immer diese Immigrantengeschichten zu erzählen.«
Großstädtische Gegenwart mit Handys und viel Rasanz, betont vergleichbar mit der in Europa - die vermitteln moderne türkische Produktionen besonders gern. Kurioses Detail am Rand: Aus den Werbetrailern mancher Filme wurden für die deutsche Vermarktung etliche Szenen mit nackter Haut herausgeschnitten. Offenbar kann man dem türkischen Publikum hier zu Lande weniger zumuten als den Kinobesuchern daheim. »In Europa«, erläutert Sahin, »leben die Türken geschlossener, abseits der Gesellschaft, so dass die Moralmaßstäbe der sechziger und siebziger Jahre erhalten blieben - anders als in der Türkei selbst.«
So gelten noch immer die feinen Unterschiede: »Ich bin Türke, er ist Deutschtürke«, sagt der Radiomoderator Erhan Merttürk über seinen Platznachbarn im Çekirdek Sinema. Es klingt, als wäre sein Freund nichts so richtig. ANTJE HARDERS