Sehnsucht nach Klarheit
Das Kauderwelsch klingt wie die fiese Textaufgabe eines Mathematiklehrers, der gewisse Vorlieben für praxisorientierten Unterricht pflegt:
Einem Angestellten wird gekündigt. In dem entsprechenden Jahr hat er insgesamt
30 000 Euro Gehalt und zudem eine Abfindung von 20 000 Euro erhalten. Wie viel davon muss er versteuern?
Als Hilfestellung steht da der für die Berechnung relevante Paragraf 34, Absatz 1, Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG): »Die für die außerordentlichen Einkünfte anzusetzende Einkommensteuer beträgt das Fünffache des Unterschiedsbetrags zwischen der Einkommensteuer für das um diese Einkünfte verminderte zu versteuernde Einkommen (verbleibendes zu versteuerndes Einkommen) und der Einkommensteuer für das verbleibende Einkommen zuzüglich eines Fünftels dieser Einkünfte.«
Alles klar?
Nichts ist klar, und das betrifft nicht nur dieses Beispiel: Ähnlich unverständlich,
verwirrend und holprig sind viele der übrigen von der rot-grünen Regierung in den vergangenen sieben Jahren beschlossenen 35 Steuergesetze, weswegen Finanzminister Hans Eichel seinen Beamten in sogenannten BMF-Schreiben erläutert, wie die Gesetze gemeint sind.
Insgesamt 455 solcher Papiere haben er und sein Vorgänger Oskar Lafontaine bislang verschickt - die Bürger dagegen erhalten keine Hilfestellung. Sie sind mit dem nicht enden wollenden Schwall an Fachchinesisch völlig überfordert.
Zu Lafontaines und Eichels Hinterlassenschaft kommt die bürokratische Erbmasse früherer Regierungen: 118 Steuergesetze gibt es mittlerweile, verteilt auf Tausenden engbedruckten DIN-A5-Seiten. Die Finanzämter haben 185 Vordrucke zur Verfügung, mit denen sie Auskunft über Einkommen, Besitz und Gewinne der Steuerpflichtigen verlangen. Eventuelle Unklarheiten werden in weiteren 96 000 Vorschriften geregelt.
Selbst Experten blicken kaum noch durch - und die Bürger verstehen »die Steuer« schon lange nicht mehr. Zudem empfinden sie das gesamte System als ausgesprochen ungerecht.
Zu Recht, denn heute ist es schon ein großer Zufall, wenn Arbeitnehmer mit gleichem Gehalt auch gleich viel Steuern zahlen. Ein Dschungel von Ausnahmen, Sonderregeln und Individualvergünstigungen verhindert eine gleichmäßige und damit gerechte Belastung von Einkommen.
Oft drücken gutverdienende Manager mit Hilfe eines findigen Beraters ihre Belastung gleich um mehrere Gehaltsstufen nach unten. Wer dagegen die Schlupflöcher nicht kennt, kann sich gegenüber dem Fiskus nicht künstlich armrechnen: Er zahlt den vollen Satz - und ist der Dumme.
»Weil das System so undurchschaubar ist, haben viele Leute das Gefühl, übervorteilt zu werden«, sagt der Vorsitzende des Rates der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup. Außerdem vermischen viele Bürger in ihrer persönlichen Wahrnehmung Steuern und Sozialabgaben.
Jahrelang wollte Hans Eichel den Zusammenhang zwischen Steuerbürokratie und Akzeptanz des Steuersystems nicht wahrhaben - »eine komplexe Gesellschaft braucht nun mal ein komplexes Steuerrecht«, dozierte er gern. Doch mittlerweile hat auch ihn die Einsicht ereilt: »Die Menschen werden erst dann wieder bereit sein, mehr Steuern zu zahlen, wenn sie Vertrauen in das Steuersystem haben. Dafür müssen die Gesetze einfach, transparent und gerecht sein«, betont der Kämmerer in jüngster Zeit immer wieder.
Denn auch der Chef aller deutschen Finanzämter musste eingestehen, dass er bei seiner eigenen Steuererklärung nicht mehr durchblickt - und sie von einem Berater aufstellen lässt.
Dennoch wartet die Republik noch immer sehnsüchtig auf die große Steuerreform. Seit Mitte der neunziger Jahre diskutieren die Parteien mittlerweile darüber, wie der Wirrwarr an Paragrafen und Sonderregeln beseitigt werden könnte. Einen regelrechten Wettlauf um das beste und einfachste Steuermodell gab es zuletzt vor knapp zwei Jahren.
Der CDU-Finanzexperte Friedrich Merz forderte damals einen dreistufigen Steuertarif, hohe personenbezogene Freibeträge - und die Abschaffung aller Subventionen. Jeder, so die eingängige Formel, solle seine Steuerbelastung auf einem Bierdeckel ausrechnen können.
Hans Eichel hatte zwar schon ab dem Jahr 2000 die Steuersätze in mehreren Stufen gesenkt - den Spitzensteuersatz beispielsweise von 53 auf 42 Prozent und damit mehr als jede
andere Regierung vor ihm -, doch die Systematik und Komplexität des Steuerdschungels ließ er unangetastet.
Eichels Kalkül, mit den Erleichterungen den privaten Konsum anzukurbeln und damit Wachstum zu schaffen, ist jedoch nicht aufgegangen. Und auch sein Plan, durch die von ihm durchgesetzte Entlastung der Unternehmen - beispielsweise die Einführung der Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne - die Investitionen anzukurbeln, ist gescheitert.
Deshalb liebäugeln Eichel und Teile der SPD nun mit einer Nachbesserung - nämlich dem Modell der dualen Einkommensteuer. Kapitalerträge werden dabei mit einem einheitlichen Satz von beispielsweise 25 Prozent besteuert, während sich der Steuersatz für Löhne und Gehälter weiterhin nach der Höhe dieser Einkommen richtet.
Radikalreformer wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof legten eigene Konzepte vor. Ginge es nach ihm, würde jegliche Steuervergünstigung gestrichen und ein einheitlicher Satz erhoben. »Jeder muss von einem verdienten Euro nur 25 Cent am Kassenhäuschen des Fiskus abliefern. Mit dem Rest wird er in den Garten der Freiheit entlassen«, schwärmte der heutige Leiter der Forschungsgruppe Bundessteuergesetzbuch in Heidelberg.
Doch nichts hat sich bisher geändert. Nicht einmal die wenigen Vorschläge von Finanzminister Eichel zum Abbau von Steuersubventionen haben den Weg ins Gesetzbuch gefunden - sie scheiterten an der Bundesratsmehrheit der Opposition.
Rechtzeitig zum Bundestagswahlkampf starten die Parteien nun einen neuen Anlauf, das Steuersystem grundlegend zu reformieren (siehe Grafik Seite 58). Neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Steuerdebatte das zentrale Thema der politischen Auseinandersetzung.
Bis auf die Linkspartei plädieren alle politischen Lager für eine Vereinfachung des Steuerrechts - wobei die Vorschläge von CDU/CSU und FDP deutlich weiter gehen als die der SPD, die sich wenig ambitioniert auf den »Abbau von Subventionen« sowie eine schlichte, aber abstrakte »Vereinfachung des Steuerrechts« beschränkt.
Die jetzigen Oppositionsparteien dagegen trumpfen mit radikaleren Vorschlägen auf. Einig sind sich alle Parteien offenbar nur in ihrem Respekt vor der Aufgabe - niemand verspricht eine Reform vor 2007.
Tatsächlich gibt es vorher einiges zu klären: Welche gesellschaftlichen Gruppen sollen be- und welche entlastet werden? Wie tief können die Steuersätze fallen? Sollen Familien steuerlich stärker gefördert werden? Wie viel sollen Unternehmen zum Gemeinwohl beitragen - und wie viel sind sie, angesichts der steuerlichen Belastung in anderen Ländern, bereit zu tragen? Wo ist die Schwelle, bei der sich die Verlagerung von Gewinnen oder gar Produktionsstätten ins Ausland lohnt?
Am Anfang jeder Reform aber sollte eine gründliche Analyse der Lage stehen. Und die brächte vor allem zwei Erkenntnisse, die in der Diskussion bisher kaum eine Rolle spielen:
* Die Belastung der Deutschen ist im internationalen Vergleich nicht überdurchschnittlich hoch. Das gilt sogar, wenn die Abgaben für die soziale Sicherung, die in vielen Ländern aus der Steuerkasse finanziert werden, mitberücksichtigt werden.
* Die Steuereinnahmen des Staates sind keineswegs dramatisch eingebrochen. Betrachtet man beispielsweise die gesamten deutschen Steuereinnahmen seit 1950 (siehe Grafik Seite 53), so zeigt sich, dass die Zuflüsse in die Staatskasse fast permanent gestiegen sind, im Durchschnitt um sieben Prozent im Jahr.
In der gesamten Nachkriegsgeschichte gingen die Einnahmen des Fiskus nur in vier Jahren zurück. Selbst 2001, nach dem Zusammenbruch der New Economy, sanken sie um nicht mehr als vier Prozent - und das war das größte Minus seit Gründung der Bundesrepublik.
Doch auch die Ausgaben stiegen und steigen weiterhin - und zwar stärker noch als die Einnahmen. Sparsamkeit war zu allen Zeiten unpopulär. Stattdessen machten die Regierungschefs, oft gegen den Widerstand ihrer Finanzminister, weitreichende Geschenke an das Wahlvolk - die zudem vor allem in der Zukunft wirken.
So ging der Bund etwa bei den Pensionsverpflichtungen für die Beamten langfristige Verbindlichkeiten ein, aus denen er sich nicht von heute auf morgen lösen kann. Im Gegenteil: Die Kosten dafür werden immer höher, weil die Zahl der Beamten im Ruhestand kontinuierlich steigt - und die Menschen zudem immer älter werden.
Mit über 1,4 Billionen Euro sind Bund, Länder und Gemeinden inzwischen verschuldet, auf jeden Deutschen, vom Säugling bis zum Greis, entfällt eine Staatsschuld von über 17 000 Euro.
So kann es nicht weitergehen - da sind sich alle Parteien einig. Aber wie sie das Problem der Staatsfinanzen lösen wollen, sagen sie im Wahlkampf nicht. Stattdessen versprechen sie weitere teure Wohltaten, die zusätzliche Löcher in die Staatskassen reißen würden (SPIEGEL 31/2005).
Eine solide Finanzpolitik sieht anders aus. Sie müsste zuerst, wie bei jeder Unternehmenssanierung auch, an den Kosten
ansetzen. Denn Deutschland hat in erster Linie kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Nach wie vor verschwendet der Staat Milliarden, er leistet sich ein Sozialsystem, das nicht mehr finanzierbar ist, er verteilt unsinnige Subventionen an die Wirtschaft, er fördert zum Wohle privilegierter Steuerzahler die Windenergie im Inland, den Schiffbau in Korea und die Filmproduktion in Hollywood.
Die Sozialsysteme müssen reformiert, die Subventionen radikal gestrichen werden. Zusätzlich ließen sich aber auch die Einnahmen - und damit der finanzielle Spielraum der Regierung - noch erheblich steigern, wenn alle die Steuern zahlten, die ihren Einnahmen tatsächlich entsprechen.
Zwar bewegt sich der Spitzensteuersatz derzeit noch immer im europäischen Mittelfeld. Die Steuerquote aber, also der Anteil der Steuereinnahmen an der jährlichen Wirtschaftsleistung, ist mit nur noch knapp 22 Prozent praktisch die niedrigste der OECD-Staaten. Nur in der Slowakei bezahlen die Menschen, gemessen an der Wirtschaftsleistung, weniger als hierzulande.
Diese 22 Prozent sind zudem höchst ungleich verteilt: Der Anteil der vom Arbeitgeber einbehaltenen Lohnsteuer stieg stetig - erst seit 1989 stagniert er beziehungsweise ist er leicht rückläufig. Der Anteil der tatsächlich bezahlten Einkommensteuer dagegen geht seit Jahrzehnten kontinuierlich zurück. Schon seit 1963 klafft die Schere immer weiter auseinander.
Der Grund dafür sind immer neue Steuerschlupflöcher, die der Gesetzgeber aus unterschiedlichsten Gründen geschaffen hat. Sie mindern nicht nur die Einnahmen, sondern haben zudem oft unerwünschte Folgen, volkswirtschaftliche Verzerrungen etwa oder ökologische Schäden.
So führten die Abschreibungsmöglichkeiten bei Immobilien dazu, dass es selbst bei niedrigen Zinsen in vielen Gegenden der Republik günstiger war, sein Haus oder seine Wohnung zu vermieten - und selbst zur Miete zu wohnen.
Der im europäischen Vergleich unterdurchschnittlichen Eigenheimquote begegneten die Politiker mit einer Eigenheimpauschale - die für Neubauten höher ausfiel als für die Sanierung bestehender Objekte. Damit sollte auch die Bauwirtschaft angekurbelt werden. Tatsächlich führte die Regelung zu einer großflächigen Zersiedelung der Landschaft. Die Städter zogen aufs Land und hinterließen verödete Innenstädte, zur Arbeit fuhren sie zurück in die City und konnten dafür steuerlich die Pendlerpauschale geltend machen.
Viel Widersinniges wurde so gefördert - vor allem auch die Kreativität der Steuerzahler.
Denn Hunderte Vergünstigungen, wie sie das deutsche Steuerrecht kennt, bieten enorme Spielräume, dem Fiskus ein Schnippchen zu schlagen.
Mal wird die Entfernung zum Arbeitsplatz um ein paar Kilometer länger angegeben, um Geld über die Pendlerpauschale zu kassieren. Mal werden Mietverträge gefälscht oder ein paar Heimfahrten erfunden, um von der Subventionierung einer doppelten Haushaltsführung zu profitieren. Das Geburtstagsessen mit Freunden wird als dienstliches Gespräch deklariert und die Rechnung von der Steuer abgesetzt.
Die Komplexität sorgt auch dafür, dass die Menschen das System nicht mehr verstehen - und ihm deshalb nicht trauen. Und das wiederum fördert die Bereitschaft zur Steuerhinterziehung. »Viele Menschen sehen das System wegen seiner Intransparenz in Gänze als ungerecht an«, sagt der Wirtschaftsweise Rürup, »und deshalb empfinden sie es subjektiv als gerecht, wenn sie den Fiskus beschummeln.«
Steuerhinterziehung ist in der öffentlichen Meinung längst zum Kavaliersdelikt verkommen. Die Schwarzarbeit - auch sie ist eine Form der Steuerhinterziehung - hat mittlerweile ein Volumen von jährlich 350 Milliarden Euro erreicht.
Wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Steuerzahlern und -eintreibern mittlerweile ist und wie unsinnig und teuer die Folgen der daraus resultierenden Kleinkriege sind, zeigt das Beispiel von Richard Nier:
Mit 50 Mitarbeitern betreibt er eine Fleischerei im ostwestfälischen Bad Salzuflen. Seit ihm Finanzbeamte während einer Betriebsprüfung vorgehalten haben, dass »alle Steuerpflichtigen den Fiskus bescheißen« würden und er deshalb pauschal Steuern nachzahlen solle, lässt der Unternehmer Unklarheiten immer öfter über die Finanzgerichte klären. »Weder ist es mein Job, noch habe ich Lust, mit den Finanzämtern zu streiten«, sagt Nier.
Zur steuerpolitischen Posse hat sich beispielsweise Niers Nebentätigkeit mit einem eigenen Partyservice entwickelt. Die zuständige Finanzverwaltung wirft ihm vor, zu wenig Umsatzsteuer für dieses Catering-Geschäft verlangt zu haben.
So gelte zwar für den Verkauf von Speisen der reduzierte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent. Wenn aber darüber hinaus Geschirr und Besteck mitgeliefert würden, sei für das komplette Geschäft die volle Umsatzsteuer von 16 Prozent zu erheben, so die Argumentation der Steuerbehörde, die sich auf eine Anweisung des Bundesfinanzministeriums beruft. »Ich kann meinen Kunden doch nicht sagen«, ärgert sich Nier, »dass das Essen um fast zehn Prozent teurer wird, wenn ich ihnen noch ein paar Dessertteller mitbringe.«
Die Klage, die der genervte Unternehmer mittlerweile beim Finanzgericht Münster eingereicht hat, ist noch nicht entschieden. Derweil hofft der 50-Jährige, dass sich die Richter an einer Entscheidung des Finanzgerichts Köln von Ende Dezember orientieren. Darin bezweifeln die Richter, dass ein Umsatzsteuerbescheid rechtmäßig ist, wenn mit ihm die Leistungen eines Partyservice dem Regelsteuersatz unterworfen werden, weil neben der Essenslieferung geringfügige Leistungen erbracht werden, etwa die Anlieferung von Geschirr.
Noch ist völlig offen, wie der Rechtsstreit ausgeht. Niers Steuerberater hat ihm jedoch empfohlen, eine neue Firma zu gründen, die ausschließlich Teller, Tassen und Besteck verleiht. »Jetzt bekommen meine Kunden eben zwei Rechnungen, eine fürs Essen mit halbem Steuersatz und eine für Geschirr und Besteck mit vollem Steuersatz«, sagt Nier. Offenbar lege es der Fiskus darauf an, überlistet zu werden.
Je mehr Ausnahmen das deutsche Steuerrecht macht, desto mehr Spielraum gibt es für legale und illegale Tricks, Streitereien und Interpretationen beziehungsweise Auslegungen. Jahr für Jahr gehen bis zu 80 000 steuerrechtliche Verfahren bei den 19 deutschen Finanzgerichten ein, 3500 davon beim Bundesfinanzhof in München. »Es wäre wünschenswert, wenn im Rahmen einer großen Steuerreform streitanfällige Regelungen vermieden würden«, sagt Wolfgang Spindler, Präsident des obersten Finanzgerichts.
Spindler, der bereits seit 28 Jahren als Finanzrichter arbeitet, sieht den Hauptfehler vor allem in der ausgeprägten Sehnsucht nach Einzelfallgerechtigkeit und den permanenten Änderungen des deutschen Steuerrechts: »Damit muss möglichst bald Schluss sein.«
Doch wie soll das gehen - ohne eine radikale Entschlackung der Regeln?
Längst hat der Steuerdschungel ein kaum zu kontrollierendes Eigenleben entwickelt. Viele Gesetze und Regeln lassen Platz für unterschiedlichste Interpretationen. Also folgen neue Anordnungen, wie die Paragrafen zu verstehen sind. Je höher jedoch der Ausstoß an Gesetzen, Verordnungen und Anweisungen ist, desto mehr
Fehler schleichen sich ein. »Mit jedem neuen Gesetz ist das Steuerrecht undurchsichtiger geworden, heute ist es ein Sammelsurium von Kuriositäten«, sagt Steuerberater Winfried Becker aus Lemgo, der seit 1966 jede Anhebung der Einkommen-, Körperschaft- oder Umsatzsteuer miterlebt hat.
Von den 16 Finanzministern, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am deutschen Steuerrecht gewerkelt haben, ist Becker einer besonders negativ in Erinnerung geblieben: Oskar Lafontaine. Vor allem das Einkommensteuergesetz habe der damalige Sozialdemokrat chaotisiert. Viele Rechtsnormen, wie das zur Begrenzung von Verlustverrechnungen bei privaten Einkommen, »waren überhaupt nicht anwendbar«, so Becker, Nachfolger Eichel »musste deshalb etliche Vorschriften wieder einkassieren«. Das ewige Hin und Her in der Steuerpolitik ist für Becker einer der Hauptgründe für den Frust der Bürger mit dem Steuerrecht.
So sehen das auch die fünf Wirtschaftsweisen. Bereits in seinem Jahresgutachten 2003 mahnte der Beraterkreis der Regierung eine Reform des Fiskalsystems an. »Die deutsche Steuerpolitik«, schrieben die Wissenschaftler damals, »hat aufgrund ihrer Sprunghaftigkeit erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt.« Für die Planungssicherheit von Konsumenten und Investoren und für den Standort Deutschland sei dies eine fatale Entwicklung. Nach Ansicht des Chefs der Wirtschaftsweisen Rürup hängt deshalb die Wachstumsschwäche in Deutschland auch mit der Verunsicherung der Bürger zusammen, die das verworrene Steuerrecht produziert.
Ähnlich chaotisch wie für die Bürger und kleine mittelständische Unternehmer ist das Steuerrecht für große Firmen und Konzerne - nur dass die sich den Wust an Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften geschickt zunutze machen. Die Folge: Potentielle Staatseinnahmen in Höhe von vielen Milliarden Euro versickern in den Löchern des Systems.
Obwohl die deutschen Konzerne gern über ihre hohe Belastung klagen, geht der Anteil der Körperschaftsteuer am Gesamtsteueraufkommen - analog zur Entwicklung der bezahlten Einkommensteuer - seit Anfang der sechziger Jahre kontinuierlich zurück. Das Gleiche gilt für die Gewerbesteuer.
Ein verblüffendes Ergebnis - vor allem wenn man bedenkt, dass die Wirtschaftsleistung in Deutschland permanent steigt.
Der Grund für die paradoxe Diskrepanz: Wie in kaum einem anderen Land drücken Konzerne wie Siemens, Deutsche Bank oder DaimlerChrysler ganz legal ihre Unternehmensgewinne und damit ihre effektive Steuerlast auf ein Minimum. Mal mindern die Kosten für die Gründung einer ausländischen Tochter den Jahresgewinn, mal wird der Überschuss gleich zu Konzerngesellschaften in Ländern mit niedrigeren Steuersätzen verschoben.
Darin jedenfalls sind sich alle Experten einig: Zu einer radikalen Vereinfachung des Abgabensystems und vor allem zu einer Streichung der gut 400 Einkommensteuer-Schlupflöcher gibt es eigentlich keine Alternative.
Im Gegenzug empfehlen viele dieser Experten, die Steuersätze, teils drastisch, zu senken. Das klingt verlockend, realistisch ist es nicht: Der Staat wird in den kommenden Jahren die zusätzlichen Einnahmen dringend brauchen. So müssen
* die Staatsschulden abgebaut werden, weil die immensen Zinszahlungen den Staat strangulieren und künftige Generationen unzumutbar belasten,
* zusätzliche Milliarden in die Zukunft des Landes, vor allem in Bildung und Forschung, investiert und
* die Sozialsysteme umgebaut werden, vor allem dürfen deren Kosten nicht länger einseitig über die Sozialabgaben den Arbeitskosten zugeschlagen werden. Eine stärkere Finanzierung aus Steuermitteln würde den Faktor Arbeit entlasten.
Mittelfristig, so die Hoffnung, führe eine solche Politik zu mehr Arbeitsplätzen und damit auch zu mehr Staatseinnahmen. Kurzfristig aber lässt sie keinen Spielraum für Steuersenkungen, vielleicht könnten sogar Steuererhöhungen notwendig sein.
Selbst wenn man mehr Steuern auf Einkommen oder Gewinne ausschließt, gibt es genügend Möglichkeiten, die Einnahmen
des Staates ohne große wirtschaftliche Verzerrungen nachhaltig zu steigern.
Eine Erhöhung der Verbrauchsteuer ist dabei nur die zweitbeste Lösung. Ihr Anteil am Gesamtsteueraufkommen ist seit Jahrzehnten stark gestiegen.
Die Einnahmen aus der Umsatzsteuer kletterten seit Ende der siebziger Jahre von unter 21 Prozent des gesamten Steueraufkommens auf mittlerweile über 30 Prozent. Insgesamt spült die Umsatzsteuer der öffentlichen Hand 137 Milliarden Euro jährlich in die Kasse. Noch dramatischer ist der Anstieg bei der Mineralölsteuer. 1950 steuerte sie gerade mal 0,4 Prozent zum gesamten Steueraufkommen bei - heute sind es inklusive Stromsteuer mit 48 Milliarden Euro gut 10 Prozent.
Jede Veränderung der Sätze dieser beiden Steuerarten wirkt sich zudem auf die Konjunktur aus. Das spricht gegen den Plan der CDU, die Mehrwertsteuer anzuheben. Schon bei der letzten Erhöhung im Jahr 1998 - von 15 auf 16 Prozent - zeigte sich: Die Einzelhändler konnten die höheren Preise nicht vollständig auf die Verbraucher umlegen, was kurzfristig zu Gewinneinbrüchen und damit zu geringeren Profitsteuern der Unternehmen führte. Eine Anhebung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte hat es dagegen in der Geschichte der Republik noch nie gegeben - viele Experten bezeichnen das Vorhaben deshalb als gefährliches Experiment.
Eindeutig unterbesteuert sind in Deutschland dagegen die Gewinne aus Kapitalanlagen, da gäbe es durchaus Spielraum für die Politik. Die sogenannte Spekulationsteuer für Aktien, Anleihen und andere Wertpapiere greift nur innerhalb eines Jahres - danach sind Kursgewinne vollständig steuerfrei. Bei Immobilien beträgt die Frist mittlerweile zehn Jahre.
Eine solch großzügige Behandlung durch den Fiskus gibt es in anderen großen Industrieländern kaum. Volkswirtschaftlich macht sie nicht nur keinen Sinn, sie schadet sogar: Jeder, der Aktien steuerfrei verkaufen kann, trennt sich viel eher von seinen Papieren als jemand, dem der Fiskus vom Gewinn noch ein Fünftel oder ein Viertel abknöpft. Sein Interesse und seine Bereitschaft, eine absehbare Delle in der Aktienkursentwicklung auszusitzen, ist viel größer. Die Folge: Die Finanzmärkte sind volatiler, also schwankungsanfälliger.
Nach Ansicht vieler Experten ist das auch ein Grund, warum der Dax zwischen Anfang 2000 und März 2003 um über 70 Prozent abgestürzt ist, der Dow Jones dagegen nur um 36 Prozent.
Volatile Finanzmärkte sind jedoch gefährlich: Gerade Banken und Versicherungen halten traditionell hohe Bestände an Aktien. Stürzen die ab, müssen die Finanzkonzerne ihre Portfolios wertberichtigen - und den Verlust ausgleichen. Der aber schmälert das Eigenkapital der Bank. Doch eine Bank muss für jeden neuvergebenen Kredit acht Prozent Kapital zurücklegen. Schmelzen die Rücklagen, kann das Institut weniger neue Kredite vergeben. Unter dieser Entwicklung hat in den vergangenen Jahren vor allem der deutsche Mittelstand gelitten.
Die Steuerfreiheit für Spekulationsgewinne trägt somit auf verschiedensten Ebenen zur Verstärkung wirtschaftlicher Krisen bei - und nicht zu ihrer Abmilderung.
Selbst für den Kauf von Aktien zur Altersvorsorge ist die Steuerfreiheit nach nur zwölf Monaten schädlich. Denn wer nach einem Jahr kostenlos Kasse machen kann, wird das im Zweifelsfall auch für den Kauf eines Autos oder die Finanzierung eines Urlaubs tun - selbst wenn es zur Rente noch über 20 Jahre hin sind.
Sinnvoll ist dagegen - gerade unter dem Gesichtspunkt einer zusätzlichen privaten Geldquelle im Alter - eine Regelung wie in den USA. Dort sind die Steuersätze zeitlich gestaffelt. Wer Aktien oder Anleihen nur kurz hält, zahlt mehr als jemand, der sie für die Altersvorsorge einsetzt.
Rund 14 Milliarden Euro könnte eine Börsenumsatzsteuer von 0,5 Prozent bringen, wie sie etwa die PDS fordert. Eine solche Steuer wurde bis 1991 in Deutschland erhoben, in Großbritannien gibt es sie bis heute - und zwar ebenfalls mit 0,5 Prozent, dennoch floriert dort der Aktienhandel.
In den Mutterländern des Kapitalismus, den USA und Großbritannien, wird außerdem Vermögen generell wesentlich stärker besteuert als in Deutschland, Grund- und Erbschaftsteuern zum Beispiel sind wesentlich höher als hierzulande.
Vieles spricht in Deutschland für eine Erhöhung der Erbschaftsteuer - zumindest ab einer bestimmten, relativ hohen Vermögensgrenze von beispielsweise 500 000 Euro. Denn noch nie wurde in Deutschland so viel vererbt wie im vergangenen und im jetzigen Jahrzehnt.
Warum sollten solche Vermögen nicht zum Gemeinwohl beitragen? Warum sollten sie nicht herangezogen werden, um den Faktor Arbeit zu entlasten, um die Belastung künftiger Generationen zu verringern und um mehr in die Zukunft zu investieren? Auch das würde zu mehr Gerechtigkeit im Steuersystem führen.
Solche Mehreinnahmen aber dürfen die Politiker nicht dazu verleiten, ihre Hauptaufgabe zu vernachlässigen. Und die heißt: sparen, sparen, sparen.
SVEN AFHÜPPE, WOLFGANG REUTER
* Mit den Kabinettskollegen Wolfgang Clement (l.), Ulla Schmidt (2. v. r.) und Brigitte Zypries (r.) im Bundestag.