BUNDESTAG Sehr angepaßt
Zweieinhalb Jahre lang hatten Rainer Barzel und Helmut Schmidt allein am runden Tisch gesessen und Staatsgeschäfte besprochen. Am Dienstag letzter Woche saß ein dritter Mann dabei: Helmut Schmidts neuer Partner, FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick.
Bei Kaffee und Fruchtsaft berieten die drei über die Ausschüsse des neuen Bundestags. Vom einstigen »Tarifpartner« (Barzel) der zerbrochenen Großen Koalition verlangte Schmidt Konzessionen zugunsten seines neuen Verbündeten: Die kleine FDP müsse in allen Ausschüssen vertreten sein, weil nur so die Regierungsmehrheit im Gesetzgebungsverfahren gesichert werden könne.
Mit dieser flankierenden Maßnahme will es Helmut Schmidt einer Linkskoalition unter Kanzler Willy Brandt ermöglichen, ihr Regierungsprogramm trotz der knappen Mehrheit von zwölf Stimmen im Parlament durchzubringen.
Ohnehin läßt es die Zusammensetzung des sechsten Deutschen Bundestages fraglich erscheinen, ob dieses Parlament die taugliche Legislative für Brandts »innere Reformen« sein kann. Den Aufbruch in die siebziger Jahre soll ein Parlament bewältigen, das nicht wesentlich anders ist als seine Vorgänger.
Zwar: Noch nie war ein Bundestag so jung wie dieser; das Durchschnittsalter der Abgeordneten sank von 51 Jahren (1965) auf 49 Jahre. Aber: Weniger denn je ist die Volksvertretung ein Spiegelbild des Volkes, mehr denn je repräsentiert sie die einflußmächtigen Interessengruppen der Nation.
Die Verjüngung des Hohen Hauses rührt vor allem daher, daß ein großer Teil der Uralt-Parlamentarier von den Segnungen der vor Jahresfrist eingeführten Abgeordneten-Pension Gebrauch machte. Nur noch 28 Mitglieder des ersten Bundestages von 1949 bilden ein verlorenes Häuflein unter ihren 490 Kollegen. Umgekehrt sind 155 Abgeordnete, fast ein Drittel, Parlaments-Neulinge überwiegend jüngeren Jahrgangs. Die SPD hat 42 Fraktionsmitglieder unter 40 Jahren, die CDU/CSU 35, und die FDP hat einen Abgeordneten. Am stärksten ist im sechsten Bundestag die Altersgruppe der Vierziger vertreten, bisher waren es stets die Fünfziger.
Allerdings: Wer keinem über 30 traut, wird auch am neuen Bundestag keine Freude haben. Nur drei Twens, für die CDU der Universitäts-Assistent Dieter Schulte, 28, für die SPD der Instituts-Leiter Dr. Volker Hauff, 29, und der Sozialwirt Björn Engholm, 29, konnten sich den Weg in den Bundestag erkämpfen.
Die zornige Zwanziger-Generation darf auch kaum hoffen, in vier Jahren besser abzuschneiden, denn nur noch 63 MdB sind älter als 60 Jahre und lassen somit erwarten, daß sie bei der nächsten Kandidaten-Aufstellung ihre Plätze frei machen.
Trotz der fallenden Alterskurve sind die jungen Deutschen im Parlament immer noch unterrepräsentiert: 40 Prozent der Wähler, aber nur 15 Prozent der Abgeordneten sind jünger als 40 Jahre.
Auch sonst entspricht das soziologische Bild des Bundestages nicht der Gesellschaft, sondern eher gesellschaftlichen Vorurteilen:
* Die Frauen stellen 55 Prozent der Wähler, aber nur sieben Prozent der Abgeordneten; ganze zwölf von 518 Volksvertretern bezeichnen sich als Arbeiter. Dagegen erreichten angesehene und einflußreiche Gruppen eine unverhältnismäßig starke parlamentarische Vertretung:
* Akademiker, in der Bevölkerung nur knapp zwei Prozent, stellen mehr als die Hälfte der Abgeordneten, bei den Neulingen sind sogar zwei Drittel akademisch gebildet;
* 16 Adlige, sechs mehr als im letzten Bundestag, dekorieren das bürgerliche Parlament;
* Wirtschafts- Manager oder Unternehmer ist jeder neunte Bundestagsabgeordnete, aber nur jeder hundertste Wähler.
Fast alle großen Interessen-Verbände konnten ihre Stärke von 1965 entweder halten oder sogar noch vergrößern.
Die Unternehmer sind in der SPD-Fraktion nur durch den Porzellan-Fabrikanten Philip Rosenthal, den Spediteur Hermann Haage, den Industrieberater Adolf Scheu sowie den Versicherungs-Manager und langjährigen Genossen Alex Möller vertreten. Selbst bei der FDP hat die Wirtschaft Boden verloren; Hoechst-Direktor Dr. Alexander Menne und das Präsidiumsmitglied des Textil-Industrie-Verbands Dr. Hans Werner Staratzke wurden Opfer der konservativen FDP-Wählerflucht in Hessen.
In der CDU/CSU-Fraktion hingegen verbuchte der christdemokratische Wirtschaftsrat ein Plus von fünf Mandaten bei seiner Kerntruppe der Wirtschaftsbosse und selbständigen Unternehmer: Vor vier Jahren gehörten 41 Abgeordnete zu dieser Gruppe, heute sind es 46.
Für ausgeschiedene Alte Herren -- etwa den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Professor Siegfried Balke, oder den Oetker-Direktor Alexander Elbrächter -- rückten bei den Wirtschafts-Christen andere Senioren nach: Dr. Gisbert Kley, 65, Siemens-Manager und bewährter Streiter wider die Mitbestimmung, sowie Dr. Philipp von Bismarck, Vorstandsmitglied der Kali-Chemie AG, der sich auch als Vertriebenensprecher hervorgetan hat.
Auch hoffnungsvolle Jungaktive stießen zur christlichen Unternehmer-Fraktion, so der Bayer-Direktor Günter Böhme, 43, der Weinhändler Elmar Pieroth, 34, und der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Bekleidungsindustrie, Dr. Hermann-Josef Unland, 40. Sogar einen eigenen Angestellten brachte der
Wirtschaftsrat in den Bundestag: seinen Beauftragten in Südbaden und Südwürttemberg, Julius Steiner.
Die linke CDU-Mannschaft, ohnehin nie sehr einflußreich, hat in der neuen Fraktion selbst ihren Zahlenvorsprung vor den Unternehmern fast eingebüßt. Dr. Norbert Blüm, Hauptgeschäftsführer der CDU-Sozialausschusse, unverdrossen: »Wir haben unsere Stärke von 55 bis 60 Leuten gehalten und uns erheblich verjüngt.«
Große Erwartungen setzen die »Sopos« (Parteijargon) auf die neu in den Bundestag gewählten Journalisten Ferdi Breidbach, 31, bisher Pressereferent beim DGB-Bundesvorstand, und Wolfgang Vogt, 39, Chefredakteur der katholischen Arbeiterzeitschrift »Ketteler Wacht«.
Für die Sozialausschüsse, die bisher zwischen dem DGB und den dahinkümmernden christlichen Gewerkschaften laviert hatten, bedeutet der neue Bundestag eine Wendemarke: Fünf der sieben neuen Sopos im Bonner Parlament gehören dem Deutschen Gewerkschaftsbund an. Somit könnte Willy Brandt erstmals auf linke CDU-Stimmen für sozialdemokratische Gesellschaftspolitik hoffen.
Schwer wird es der als Ernährungsminister ausersehene FDP-Oberlandwirtschaftsrat Josef Ertl haben, denn fast vollzählig ist die Bauern-Lobby bei CDU und CSU versammelt, angeführt vom Veteranen der agrarischen Subventionsjäger Detlev Struve, MdB des Wahlkreises Rendsburg seit 1949. Sechs freidemokratische Landwirte schieden aus, nur einer, Bauer Wilhelm Helms, 45, rückte dafür neu ein. Bei der SPD sind statt bisher vier nur noch zwei Abgeordnete, die Niedersachsen Dr. Martin Schmidt und Heinz Frehsee, der Landwirtschaft durch berufliche Herkunft verbunden.
Insgesamt haben die Bauern acht parlamentarische Interessenvertreter eingebüßt. Von den 51 »Agrarpolitikern im weitesten Sinne« (Deutscher Bauernverband) sitzen im neuen Bundestag 46 bei den Christdemokraten.
Ähnlich eindeutig, nur nach der anderen Seite, ist eine weitere Interessengruppe orientiert: 19 der 22 hauptamtlichen Funktionäre aus DGB-Gewerkschaften gehören zur SPD-Fraktion. Auch von den 196 einfachen DGB-Mitgliedern im neuen Bundestag sind 90 Prozent Sozialdemokraten. Sie vertreten jedoch nicht einheitlich die Politik der Gewerkschaften.
Allerdings könnten linke DGB-Vertreter, wie der IG-Metall-Bildungs-Obmann Hans Matthöfer oder der Düsseldorfer Kreisvorsitzende Helmut Lenders, von Fall zu Fall in der Fraktion Widerstand mobilisieren, wenn die SPD-Spitze dem bürgerlichen Koalitions-Partner zu viele Zugeständnisse macht. Dafür stünden auch einige neugewählte Jung-Sozialisten bereit -- etwa der Lübecker Björn Engholm oder Dietrich Sperling, 36, aus Hessen-Süd.
Freilich machen sich die SPD-Neulinge keine allzu großen Hoffnungen. Engholm: »Wenn man als neuer Abgeordneter mit Illusionen in den Bundestag geht, dann wird man von der gut geölten Fraktionsmaschine einfach überrollt.«
Noch nie haben sich die Jungen im Bundestag erfolgreich organisieren können. Nach vier Jahren Bundestag resümierte CDU-MdB Dr. Hansjörg Häfele, 37: »Um vermeintlicher oder wirklicher Vorteile willen haben wir uns zu sehr angepaßt.«
Im neuen Parlament planen die Neulinge der CDU/CSU einen neuen Anlauf: 80 Abgeordnete, darunter 45 von der Jungen Union, formierten sich letzte Woche unter ihrem Anführer Dr. Manfred Wörner, 35, in der CDU-Akademie Elchholz bei Bonn.
Quer durch die Fraktionen zieht sich wie stets die stärkste Phalanx von Berufsvertretern -- die der Staatsdiener. 163 Abgeordnete sind Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst, 14 mehr als im letzten, 45 mehr als im vorletzten Bundestag. Die Beamten-Lobby im engeren Sinn, repräsentiert durch Mitglieder des Deutschen Beamtenbundes, hat sich zwar von 27 auf 24 verringert, dafür aber gelang ihr erstmals der Einbruch in die SPD-Fraktion. Der Bayreuther Oberstudienrat Christoph Schiller und der Krefelder Obermedizinairat Dr. Ferdinand Schmidt vertreten nun als Sozialdemokraten im Bundestag die Interessen der bislang bei den Genossen schlecht gelittenen Standesorganisation.
Das Überwuchern der eher auf störungsfreies Funktionieren denn auf Veränderungen bedachten Beamtenschaft im Parlament wird vom Gesetz begünstigt. Beamte, die in den Bundestag einrücken, werden nicht -- wie in England und den USA -- aus dem Staatsdienst entlassen, sondern nur in den einstweiligen Ruhestand versetzt; ohne etwas für ihren Beruf zu tun, beziehen sie neben den Diäten ein Ruhestandsgehalt und bewahren zugleich ihre Ansprüche auf Pension oder Wiedereinstellung.
Das Bonner Parlament der Beamten und Akademiker, der Gewerkschafter, Unternehmer und Bauern, das Parlament der Männer in den mittleren Jahren soll nun das moderne Deutschland schaffen. Schon jetzt ist abzusehen, daß die neue Regierung dabei harte Kämpfe mit den unverändert fest etablierten Interessenten-Bünden auf der Rechten austragen muß.
Deren Erfolgskatalog in 20 Jahren CDU-Herrschaft ist lang. Die Parlaments-Lobby der Industrie, regelmäßig unterstützt durch Mittelständler, Agrarier und Beamte, verhinderte unter anderem
* das Verbotsprinzip im Kartellgesetz;
* die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung über die Montanindustrie hinaus;
* wirksame Gesetze zur Vermögensbildung der Arbeitnehmer;
* eine grundsätzliche Reform des Unternehmensrechts;
* Steuerreformen, die große Einkommen und Vermögen stärker belastet hätten.
Sie bewirkte zu ihrem eigenen Nutzen
* unternehmerfreundliche Steuergesetze, zum Beispiel bei Abschreibungen;
* Subventionen für krisenanfällige
Wirtschaftszweige;
* Sondergesetze wie die »Lex Münemann« von 1959, ein Instrument der Großbanken gegen die Konkurrenz des Münchner Finanziers Rudolf Münemann.
Die Grüne Front im Bundestag verhinderte erfolgreich jede nachhaltige Strukturbereinigung der westdeutschen Landwirtschaft und zapfte statt dessen Jahr für Jahr Milliarden-Subventionen aus der Staatskasse.
Die Interessenten-Zirkel im Parlament entschieden nicht nur über große Gesetzesprojekte. Noch stärker beeinflußten sie in den Bundestagsausschüssen die Detailkorrekturen an Regierungsvorlagen. Der Wirtschaftsausschuß des letzten Bundestages bestand mindestens zu 52 Prozent aus Interessenvertretern von Industrie und Mittelstand.
Bevor eine SPD/FDP-Koalition den Kampf mit der Ausschuß-Lobby aufnehmen kann, muß sie zunächst einmal mit der künftigen CDU/CSU-Opposition um die rechnerische Mehrheit für die Regierungsparteien in den Ausschüssen feilschen. Denn nach dem geltenden System wäre die geschrumpfte FDP-Fraktion in sechs kleineren Ausschüssen -- darunter dem für Geschäftsordnungsfragen -- gar nicht vertreten gewesen. Die CDU! CSU hätte dort sogar die Mehrheit gestellt. Nach dem d"Hondtschen Verfahren, das kleine Gruppen benachteiligt, können die Freidemokraten nur in Ausschüssen mit mindestens 17 Mitgliedern einen Sitz beanspruchen.
Auf der Suche nach einem Ausweg schlugen die sozialdemokratischen Parlamentsstrategen den Christdemokraten ein Tauschgeschäft vor:
Die SPD werde ihren Plan aufgeben, einen Sozialdemokraten mit Hilfe der FDP zum Bundestagspräsidenten zu wählen, und stat. dessen Kai-Uwe von Hassel (CDU) im Amt bestätigen, wenn die künftige Opposition eine geringere Zahl von Ausschüssen und diese mit höheren Mitgliederzahlen akzeptiere.
Um nach dem Verlust von Bundespräsidentschaft und Kanzleramt wenigstens das nach der Verfassung zweithöchste Staatsamt für die Union zu retten, stimmte Rainer Barzel grundsätzlich zu. Der christdemokratische Fraktionschef wollte sich durch seine Kooperations-Bereitschaft von den kampfeslüsternen Parteichefs Kiesinger und Strauß abheben und als besonnener Parlaments-Pragmatiker profilieren.
Die Sozialdemokraten nahmen Barzel beim Wort. Am letzten Dienstag präsentierte Fraktionschef Helmut Schmidt seinem CDU-Kontrahenten einen von den SPD-Fraktionsassistenten entworfenen Organisationsplan für ein neues Ausschußsystem.
Anders als im fünften Bundestag mit seinen 24 Ausschüssen sollen im sechsten nur noch 18 Ausschüsse die parlamentarische Kleinarbeit bewältigen. Jedem der geplanten 14 Bundesministerien wollen die Sozialdemokraten einen Parlamentsausschuß gegenüberstellen. Daneben sollen die Ausschüsse für Petitionen, Geschäftsordnung, Haushalt und Strafrechtsreform bestehen bleiben.
Die geplante Ausschuß-Reform würde den Freidemokraten zwar Zutritt zu allen Ausschüssen verschaffen, zugleich aber die liberale Mini-Fraktion in Besetzungs-Schwierigkeiten bringen. Auf die 31 FDP-Abgeordneten warten neunzehn Ausschuß-Sitze (plus neunzehn Stellvertreter-Posten), drei Minister-Sessel, drei Parlamentarische Staatssekretariate und eine Bundestags-Vizepräsidentschaft. FDP-Fraktionschef Mischnick: »Es wird ein hartes Geschäft für uns. Aber in unserer Fraktion hat es noch nie Hinterbänkler gegeben, die sich ausruhen konnten.«