BONN / EUROPA-POLITIK Sehr eilig
Getrennt marschierten die Deutschen vergangene Woche in die Schlacht um Englands Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Kanzler Kiesinger (CDU) nach London zur verspäteten Antritts-Visite, Außenminister Brandt und Wirtschaftsminister Schiller (SPD) nach Luxemburg zum Ministerrat der sechs EWG-Staaten. Doch sie schafften es nicht, vereint zu schlagen.
Denn kaum war die Bataille eröffnet, da geriet die Bonner Schlachtordnung durcheinander.
Am Dienstag letzter Woche früh um neun Uhr ließ sich der deutsche Außen-Staatssekretär Rolf Lahr aus dem Hotel »Kons« am Luxemburger Hauptbahnhof mit der Nummer Belgravia 5033 in London verbinden. Dort kam, im dritten Stock der deutschen Botschaft am vornehmen Belgrave Square 23, Kanzler Kiesinger an den Apparat und nahm die Hiobs-Botschaft entgegen.
Frankreich, so meldete der deutsche Diplomat dem Regierungschef, habe am Nachmittag zuvor seine Kontinental-Sperre gegen die Aufnahme Englands in die EWG von neuem verschärft.
General de Gaulles Außenminister Couve de Murville habe seinen fünf in der Bürokraten-Festung »Centre Européen« auf dem Luxemburger Kirchberg versammelten EWG-Kollegen zu wissen getan, Paris wünsche jetzt, daß England noch vor dem Beginn offizieller Verhandlungen über sein Beitrittsgesuch
> die Wirtschaft des Landes in Ordnung bringe und das Pfund Sterling von einer Welt-Reserve-Währung zum rein nationalen Zahlungsmittel degradiere.
Kommentar des deutschen Staatssekretärs: Damit seien die in Bonn gehegten Hoffnungen zerstört, Frankreich werde zugestehen, daß Großbritannien diese Auflagen erst während der Verhandlungen über sein Beitrittsgesuch erfülle. »Was die Franzosen hier verlangen«, so Lahr zu Kiesinger.
* Briten-Premier Wilson (l.), rechts: Bonns Botschafter in London, Herbert Blankenhorn.
»das kommt praktisch einem neuen Veto gegen Englands Beitritt gleich.«
Der Kanzler ärgerte sich. Denn er hatte am Nachmittag zuvor, schon kurz nach seiner Ankunft in London, den britischen Gesprächspartnern Hoffnung auf eine baldige Zustimmung der Franzosen zu Beitritts-Verhandlungen zwischen England und der EWG gemacht.
Kiesinger, Außenpolitiker aus Leidenschaft, hatte sich dabei nicht auf seinen Außenminister, sondern auf Äußerungen aus privater Pariser Quelle gestützt, obwohl Willy Brandt noch eine knappe Woche vor dem Beginn der Luxemburger EWG-Konferenz zu offiziellen Konsultationen mit dem französischen Kollegen Couve de Murville an der Seine gewesen war.
Ein Vier-Stunden-Dialog am Donnerstag vorletzter Woche und eine einstündige Aussprache unmittelbar vor dem Abmarsch der beiden deutschen Delegationen hatten nicht vermocht, Kiesinger und Brandt auf eine gemeinsame Einschätzung der Konferenzlage für London und Luxemburg einzustimmen.
Mangelnde Abstimmung zwischen den beiden Kommando-Zentralen der deutschen Außenpolitik im Bonner Palais Schaumburg und dem Außenamt an der Adenauerallee war es auch, was dazu geführt hatte, daß Kiesingers lang hinausgeschobene London-Visite genau mit der ersten Beratung der EWG-Außenminister über Englands Aufnahmeantrag zusammenfiel.
Der Kanzler persönlich hatte im Juli aus einer vom Briten-Botschafter Sir Frank Roberts vorgelegten Liste mit Terminvorschlägen das Oktober-Datum ausgewählt, obwohl er von Amtsgehilfen auf eine mögliche Terminüberschneidung mit Luxemburg hingewiesen worden war. Als dann tatsächlich die ursprünglich für Anfang November eingeplante EWG-Sitzung vorverlegt wurde, akzeptierte das Auswärtige Amt den neuen Luxemburg-Termin, ohne sich mit dem Kanzleramt nochmals abzusprechen.
So kam es, daß der französische Außenminister am Montagnachmittag vergangener Woche in Luxemburg verschärfte Bedingungen für Englands EWG-Beitritt vortrug, während sich der deutsche Kanzler in einem bei der amerikanischen Firma Hertz für ihn ausgeliehenen grauen Daimler in die Londoner Downing Street chauffieren ließ, um Englands Premier Harold Wilson zu versichern: »Ich bin gewiß, daß die erste Runde in Luxemburg ermutigende Ergebnisse bringen wird.«
Aus einer zwar »inoffiziellen, aber verläßlichen privaten Quelle« in der französischen Hauptstadt, verhieß der Kanzler sodann, habe er heute Nachricht bekommen, daß de Gaulle bereit sei, den Jahresanfang 1968 als Starttermin für Verhandlungen zwischen EWG und England zu akzeptieren.
Die Botschaft kam an. Englands cleverer Europa-Unterhändler Lord Chalfont entnahm des deutschen Kanzlers Privat-Konfession flugs ein festes Versprechen, Kiesingers Regierung werde den General in Paris bei solcher Laune halten: »Wir erwarten jetzt von euch Deutschen ein dickes, fettes Weihnachtsgeschenk.«
Und Außenminister Brown, dessen politische Karriere mit Englands EWG-Beitritt steht und fällt, freute sich: »Na fein, da werde ich wohl noch eine Weile Außenminister bleiben.«
Zur selben Stunde freilich düpierte in der Grande Salle des nagelneuen Luxemburger Europa-Hochhauses der Franzose Couve de Murville seine fünf EWG-Partner, die für eine rasche Aufnahme der Verhandlungen mit England plädierten, mit einem arroganten Wortspiel: »L'entrée de la Grande-Bretagne ne sera possible que si elle sera effectivement possible*.«
Als Kronzeugen für seine Ansicht bemühte Couve ausgerechnet den Briten-Premier Wilson. Dieser habe sowohl am 10. Mai des vergangenen als auch am 8. Mai dieses Jahres im Unterhaus gesagt, Großbritannien werde nur auf der Grundlage einer gesunden Wirtschaft, einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz und eines soliden Pfundes um den EWG-Beitritt nachsuchen.
* »Der Beitritt Großbritanniens wird nur möglich sein, wenn er wirklich möglich ist.« In der Nacht vom Montag auf den Dienstag tickerten meterlange Fernschreiben aus Luxemburg die Schockmeldungen in das Londoner Kanzler-Hauptquartier, ergänzt durch halbstündige Nachttelephonate der Staatssekretäre Rolf Lahr und Fritz Neef (Wirtschaftsministerium).
Der Kanzler mußte erkennen, daß er sich bei der ersten Gesprächsrunde in Downing Street 10 zu weit vorgewagt hatte. Die letzten Zweifel verscheuchten am Dienstag das Telephonat mit Lahr und ein nachgereichtes Fernschreiben des AA-Staatssekretärs. Adressiert an »diplogerma london, citissime (sehr eilig), für bundeskanzler«, stand in dem vertraulichen Telegramm schwarz auf weiß: »Hier herrscht der Gesamteindruck vor, daß Frankreich ... gegenwärtig nicht bereit ist, der Aufnahme von Verhandlungen in absehbarer Zeit zuzustimmen.«
Zwar räumte Kiesinger nun ein, seine Spezial-Information aus Paris habe »sich leider nicht bestätigt«. Doch die Schuld daran, daß er über die französische Haltung nicht zutreffend informiert gewesen sei, gab er seinem Vize und Außenminister Willy Brandt.
Wäre er persönlich anstelle Brandts zur Konsultation beim französischen Außenminister gewesen, dann »hätte ich Couve direkt gefragt, was er in Luxemburg sagen will. Da war der Brandt wohl zu schüchtern«.
Hartnäckig aber widersetzte sich Kiesinger der englischen Meinung, die Übermacht der fünf pro-britischen EWG-Länder solle Frankreich unter Druck setzen. Er jedenfalls denke nicht daran, mit der Faust auf den Tisch zu hauen: »Abgesehen davon, daß das von schlechten Manieren zeugt -- es würde genau den gegenteiligen Effekt haben. Wer de Gaulle kennt, weiß das.«
Statt dessen riet der Deutsche zur Geduld: »Das Beste wäre, England würde jetzt eine Weile stillhalten. Eine Krise innerhalb der EWG muß gerade im Interesse Großbritanniens vermieden werden.«
Doch was der Großen Koalition in Bonn recht erschien -- Probleme, die man nicht lösen kann, eben auszuklammern -, das war den Labour-Leuten in London längst nicht billig. Hartnäckig heischten die Briten zum Abschluß des Kiesinger-Besuchs von den Deutschen eine schriftliche Beistandsverpflichtung für Englands EWG-Bemühungen -- was ursprünglich nicht vorgesehen war.
Beim Abschiedsdinner in der deutschen Botschaft am Dienstagabend kämpfte Wilsons Außenminister Brown verbissen um eine deutsche Festlegung, daß die Aufnahme Engtands in die Gemeinschaft das »Ziel« der Bonner EWG-Politik sei.
Kiesinger, der von Brown so heftig angegangen wurde, daß er kaum Zeit für die Mahlzeit fand ("Der Kerl hat mich nicht mal essen lassen"), wehrte sich energisch. Beim Kaffee setzte er sich durch.
Der Kanzler gestand lediglich zu, die Bundesregierung sei »der Auffassung, daß Großbritannien Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wenden sollte«.
Hinterher wiegelte er selbstgefällig ab: »Es ging mir im Grunde gar nicht mehr um die Sache; ich wollte es diesem hartnäckigen Burschen nur mal zeigen.«
Brown hingegen verhehlte seine Enttäuschung nicht. Nachdem er sich verabschiedet hatte, maulte er leise: »Lausiger Kompromiß.«