USA / KRIEGSVERBRECHEN Sein Bestes
Die Richter betreten den Gerichtssaal. Die Angeklagten und ihre Verteidiger stehen auf. Die Welt schaut zu, als der Vorsitzende das Urteil spricht: lebenslänglich für Lyndon B. Johnson, Ex-Präsident der USA, lebenslänglich für Richard M. Nixon, Ex-Präsident der USA. Beide sind schuldig, Kriegsverbrechen begangen zu haben, in Vietnam, zwischen 1963 und 19.
Der Prozeß, man weiß es, wird niemals stattfinden. Er würde Amerikas moralisches Fassungsvermögen überfordern und die Erfahrung mißachten, daß das Tun der Mächtigsten kaum justiziabel ist, es sei denn vor Sieger-Tribunalen.
Aber gedanklich gestreift, respektvoll genannt und zaghaft gerufen wird das Phantom -- ein Nürnberger Prozeß gegen Amerikas Führer, vor Amerikanern, in Amerika -- neuerdings, nicht von den Aposteln einer gänzlich guten Welt, noch auf den Plakaten kriegerischer Friedensfreunde, nicht von Studenten, Hippies, Kommunisten.
Das Undenkbare -- ein US-Präsident samt höchsten Beratern als Kriegsverbrecher angeklagt -- geistert durch die großen Zeitungen und die Köpfe der geistigen Elite einer Nation, deren kritische Vertreter sich bislang zwar nicht gescheut haben, auch häusliche Gebrechen zu beschauen, die Diagnose Kriegsverbrechen jedoch per definitionem nur bei Nichtamerikanern -- Deutschen, Japanern, Kommunisten -- stellen mochten.
Das Undenkbare scheint selbst am begrenzten Horizont jener US-Bürger aufzutauchen, die Gewissenserforschung gemeinhin als entbehrlich und Selbstbesinnung als Schwäche ansehen.
Denn einer der ihren, der kleine Oberleutnant William Calley mit dem Kind-Gesicht und der strammen Haltung, soll büßen für eine Verirrung, deren -- wenn überhaupt -- nach ihrer Ansicht andere schuldig sind: für Vietnam.
Der Vietnamkrieg dreier US-Präsidenten hatte die stärkste Nation der Welt gespalten und verunsichert. Falken begriffen ihn als zeitgenössischen US-Beitrag zum Wohl der Welt, Tauben verabscheuten ihn als Quell aller Leiden, andere Amerikaner nahmen ihn als unabwendbare Verstrickung hin. Präsident Nixon schien entschlossen, das verhängnisvollste Abenteuer der US-Geschichte zu »beenden -- da brachen, am 29. März 1971, alle Wunden, die dieser Krieg dem amerikanischen Selbstverständnis schlug, jählings wieder auf.
An diesem Tag um 16.31 Uhr sprach die sechsköpfige Jury des Militärgerichts in Fort Benning den Oberleutnant William Calley, 27, des Mordes an 22 vietnamesischen Zivilisten schuldig. Wenig später, am 31. März um 14.36 Uhr, verkündete der Sprecher der Jury, Colonel Clifford Ford, das Strafmaß: lebenslängliche Zwangsarbeit.
Stehend, mit aschfahlem Gesicht, vernahm Calley den Richterspruch. »Ich werde mein Bestes tun, Sir«, sagte er leise zu Colonel Ford. Dann salutierte er. Der Prozeß, das mit viereinhalb Monaten Dauer längste Verfahren in der Geschichte der amerikanischen Armee, war beendet -- in erster Instanz.
Das Calley-Urteil spaltete Amerika: »In einer erstaunlichen krankhaften Verrenkung ihres Moralbewußtseins« -- so »Time« -- »versuchten viele Amerikaner, Calley zum Helden zu machen«. Sie feierten ihn wie seit General Douglas Mac Arthur keinen ihrer Soldaten. Innerhalb weniger Tage trafen 100 000 Telegramme im Weißen Haus, weitere 40 000 bei den Kongreßabgeordneten und abermals Tausende im Gerichtsort Fort Benning ein.
Richard Nixons Stab mußte, wegen der Briefe, Telegramme, Telephonanrufe Sonderschichten einlegen. Eiligst sandte der Präsident Kundschafter aus, die Stimmung im Land und im Kongreß zu sondieren. Aus dem Kapitol meldete ein Nixon-Späher: »Der Calley-Protest »geht quer durch alle Lager, Demokraten und Republikaner, Liberale und Konservative, Falken und Tauben.
Der Präsident reagierte. Wie im Prozeß Manson, als Nixon den Angeklagten vor der Verurteilung öffentlich einen Mörder » nannte, ignorierte der Präsident auch im Fall Calley die übliche Rechtsprozedur -- diesmal allerdings gesetzlich gedeckt. Er ordnete an, William Calley sei für die Dauer der Berufungsverhandlungen aus dem Gefängnis zu entlassen.
Der Oberleutnant, der zur Erledigung seiner umfangreichen Post eine Sekretärin beschäftigt, durfte In seine Wohnung mi Militärstützpunkt Fort Benning zurückkehren, wo er seither, von einem Militärpolizisten bewacht, unter Hausarrest steht.
Am 3. April gab Nixon bekannt, daß er persönlich den Fall überprüfen und die letzte Entscheidung treffen werde. Dazu ist der Präsident nach der amerikanischen Verfassung ermächtigt. Zusätzlich wird er aber noch die Möglichkeiten nutzen, die er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte hat. Präsidenten-Berater John Ehrlichman: Nixon könne »nach eigenem Ermessen« auf jeder Stufe in das (langwierige) militärische Berufungsverfahren eingreifen.
Mit seinem Eingriff zugunsten von Calley wollte Richard Nixon die öffentliche Meinung beruhigen. Dennoch ebbte die Protestflut zunächst kaum ab: Leutnant Calley, so kabelten drei empörte Hausfrauen aus Alabama, »wurde zum Sündenbock gemacht. Das Übel ist aber der Krieg selbst«. Ein Major aus Kalifornien telegraphierte: »Calley-Urteil widerlich.« Ein anonymer Postkarten-Schreiber sah im Prozeß von Fort Benning nur »Schande, Schande, Schande«.
Hunderttausende von Bürgern machten ihrem Zorn über das Urteil in Anrufen an die örtlichen Behörden oder Funkhäuser Luft. Bei der Radiostation WLIL in Lenoir City (Tennessee) meldeten sich in den ersten zweieinhalb Stunden nach dem Calley-Verdikt 1137 Hörer -- bis auf einen lehnten alle das Fort-Benning-Urteil ab.
»Free Calley« (Befreit Calley) fordern neuerdings Aufkleber an amerikanischen Auto-Stoßstangen; in Dalias, Kansas City und Los Angeles
zogen Demonstranten mit diesem Ruf durch die Straßen. Vor dem Militärgefängnis von Fort Henning verlangten etwa 100 Calley-Kameraden die Freilassung des Verurteilten und riefen: »Der Krieg ist die Hölle.«
Der Gouverneur von Indiana, Weltkrieg-lT-Veteran Edgar Whitcomb, ließ alle Fahnen seines Bundesstaats auf halbmast setzen. Sein Urteil über den Richterspruch von Fort Benning: »Ein Tiefschlag für Amerika und für dessen System militärischer Verteidigung.«
Dem Bauunternehmer B. F. Taylor aus Indianapolis genügte Flaggen-Trauer nicht. Er offerierte 100 000 Dollar für Calleys Freilassung -. das Urteil gegen den My-Lal-Täter erschien ihm als »lächerliche Fehlgeburt der Justiz«.
Im fernen südvietnamesischen Stützpunkt Khe Sanh, dem Ausgangspunkt der Laos-Invasion, verkündete ein Plakat: »Der Zug A der Ersten Kompanie des Ersten Kavallerie-Bataillons grüßt Leutnant William Calley.«
Vor allem Amerikas meist konservative, oft antikommunistische Kriegsveteranen hatten sich von Anfang an mit dem Angeklagten solidarisiert. Auf Kundgebungen der amerikanischen Veteranenverbände -- 28 Millionen Mitglieder -- war »Rusty« Calley der Held. Den Hauptmann Ernest Medina, Calleys Chef, der gleichfalls angeklagt wird, empfing seine Heimatstadt Montrose in Colorado mit Blasmusik.
Eine Schallplattenfirma nahm sich Calleys an. Nach der Melodie der berühmten »Battle Hymn of the Republic« ließ sie bitten:
Mein Name ist William Calley. Ich bin Soldat dieses Landes.
Ich habe versucht, meine Pflicht zu tun und zu siegen.
Aber sie haben aus mir einen Schurken gemacht. Sie haben mich gebrandmarkt. Und wir marschieren weiter. Nur der Soldat, der lebt, kann weiterkämpfen. Es gibt keinen anderen Weg, dann Krieg zu fuhren, wenn der einzige, von dem du sicher sein kannst, daß er kein Vietcong ist, der Kamerad an deiner Seile ist. Wir nahmen das Dschungeldorf, genau wie es befohlen war. Wir antworteten auf ihr Gewehrfeuer mit allem, was wir hatten. Und als der Rauch sich verzog, lagen hundert Menschen tot
Am Schluß kommt Calley in den Himmel und rechtfertigt sich:
Und wenn der Große Befehlshaber fragt: Hast du gekämpft oder bist du davongerannt?
Dann steh' Ich grade und aufrecht, entblößt von Orden, Rang, und Waffen, und dies ist's, was ich sage. Sir, ich befolgte alle Befehle und gab mein Bestes.
Allein am Tag nach dem Richterspruch in Fort Benning kauften 154 000 Calley-Fans das Lied vom braven US-Mann; insgesamt wurden über 300 000 Schlachtgesang-Hits verkauft. »Er ist gekreuzigt worden«, jammerte eine Hildegard Crochet aus New Orleans. »Er allein hat 100 Kommunisten getötet ... er sollte zum General befördert werden.«
Raymond Hufft, Generalmajor Im Ruhestand, bezichtigte sich selbst, um Calley zu helfen: Seine Einheit habe 1945 am Rhein auf alles geschossen, was sich bewegte. Wenn die Deutschen gesiegt hätten, »wäre statt der Krauts ich in Nürnberg angeklagt worden«.
Robert Marasco, ehedem Mitglied der Spezialtruppe Green Berets, gab aus Zorn über Calleys Verurteilung zu, auch er habe In Vietnam einen wehrlosen Zivilisten erschossen.
Stanley Gertner, ehemals Marine Corps Sergeant, ließ sich vorübergehend von der Polizei einsperren -, denn wenn Calley schuldig sei, »dann ist er schuldig für dieselben Dinge, die wir taten. Wir schossen Dörfer auf Befehl zusammen und töteten zahllose Zivilisten«.
Auch der Veteran Carl Savard in Coventry (Rhode Island) verlangte, eingesperrt zu werden. Denn 1945 habe er in Deutschland »eine Mutter mit einem Kind in den Armen« erschossen.
Amerikas Rechtsaußen, Alabama-Gouverneur George Wallace, im Weltkrieg II Crew-Mitglied einer B-29« verlangte: »Wenn man Calley einsperrt, muß man mich auch einsperren.« Demonstrativ stattete Wallace dem verurteilten Vietnam-Killer einen zwölfminütigen Besuch in Fort Benning ab, wo Leutnant Calley zu diesem Zeitpunkt freilich schon nicht mehr im Gefängnis, sondern in seiner Wohnung saß.
Ein anderer Südstaatler, der Abgeordnete Don Fuqua aus Florida, schlug vor, der My-Lai-Täter Calley solle in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses seinen Fall darlegen.
Kriegsveteran Digger O'Dell war für den Oberleutnant schon vor dem Urteilsspruch sogar ins Grab gegangen: Aus Protest gegen die My-Lai-Prozesse und weil er Spenden für den Calley-Verteidigungsfonds sammeln wollte, legte er sich in einen Betonsarg zwei Meter unter der Erde. Durch einen Sehschacht, per Radio und Fernsprecher blieb er mit der Oberwelt verbunden,
Die Schuld für My Lai -- so O'Dell telephonisch aus dem Grab zum SPIEGEL -- liege »bei den höheren Chargen«. Calley sei bloß ein »schutzloses Kind. Man hat ihm den Schwarzen Peter zugeschoben«.
Den Schuldspruch im Calley-Prozeß, so ergab eine Gallup-Umfrage Anfang April, mißbilligten 79 Prozent der Amerikaner. 83 Prozent stimmten dem Beschluß Präsident Nixons zu, Calley vorerst von der Haft zu verschonen.
In Calley, so stellt »New York Times«-Kolumnist James Reston melancholisch fest, habe »Vietnam wenigstens einen Offizier hervorgebracht, den jeder anerkennt -- einen Anti-Helden für einen Krieg ohne Ruhm und Noblesse, das Symbol für eine Zelt moralischer Verwirrung«.
Amerikas Falken trafen sich mit Amerikas Tauben: Viele Vietnam-Kriegsgegner halten es für unfair und heuchlerisch, allein den Oberleutnant Calley zu bestrafen. Doch anders als die Rechten wollen sie den Fall Calley zu einer Selbstanklage Amerikas erweitern.
»Wir als Nation«, betonte denn auch der demokratische Senator Frank Moss aus Utah, »können diesen Schandfleck (Vietnam) nicht einfach aus unserem nationalen Gewissen ausmerzen, indem wir einen einzigen Mann für schuldig erklären.«
32 Prozent der Amerikaner sind der Ansicht, daß die wirklich Schuldigen wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden sollten -- »Dutzende oder Hunderte Offiziere und Politiker« (so die »Washington Post").
Letzte Woche machte sich Amerika auf den langen Marsch, die Schuldigen zu orten. »Wer sonst ist schuldig?«, »Wer hat Anteil an der Schuld?«, fragten »Newsweek« und »Time« mit dem Datum des 12. April auf den fast sechs Millionen Exemplaren ihrer Titelblätter. »Diese Frage wird die amerikanische Politik der nächsten zehn Jahre beherrschen«, sagte Nathar Glazer, Soziologie-Professor an der Harvard-Universität. voraus. Elf liberale Abgeordnete verlangten, der Verteidigungs-Ausschuß des Repräsentantenhauses solle die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam untersuchen.
Bis dahin hatte Amerika seinen Asien-Krieg vorwiegend unter dem Gesichtswinkel politisch-strategischen Nutzens oder Schadens diskutiert. »Zum erstenmal sahen sich viele Amerikaner jetzt gezwungen, den Krieg moralisch zu betrachten«, stellte »Newsweek« fest. »My Lai hat uns gezwungen, den Krieg anders anzusehen als bisher -- unter dem Gesichtspunkt Kriegsverbrechen. Vor My Lal fand diese Überlegung nicht statt, außer in einem ganz kleinen Kreis«, sagte ein Diskussionsredner im NBC-Fernsehen.
Der frühere Vietnam-Oberbefehlshaber und jetzige Armee-Stabschef Westmoreland sprach sich gleich selber frei. Der General letzte Woche: »Nein, ich fühle keine Schuld, nicht im geringsten. Das wäre ein absurder Vorwurf.«
Im Calley-Prozeß hatten sich alle Beteiligten -- erstaunlicherweise auch Verteidiger Latimer -- gehütet, derlei Absurditäten gründlich zu erörtern. Dabei hätte Calley, gemäß Paragraph 509 des amerikanischen Field Manual von 1956 ("The Law of Land Warfare"), zumindest mildernde Umstände zugebilligt bekommen können, da er sich auf Befehle seines Kompaniechefs Hauptmann Medina berief: Wer Calley als unglückliches Ende einer militärischen Befehlskette begriff, mußte auf der Suche nach dem wirklich Schuldigen gemäß der Rechtsregel »Respondeat superior« in der militärischen Hierarchie nach oben steigen -- und konsequent beim Verteidigungsminister, schließlich gar beim Präsidenten der USA ankommen.
Solche Kausalkette zu knüpfen, die den Prozeß vom Mordverfahren gegen einen kleinen schießwütigen Oberleutnant zum Tribunal über erlauchte Schreibtischtäter gemacht hätte, schien dem Verteidiger offenbar -- und wohl zu Recht -- nicht opportun.
Spätestens an dieser Stelle geriet Amerikas Versuch, die allfällige Gewissenserforschung seiner Vietnam-Taten durch ein Urteil über die Vietnam-Tat My Lal zu kompensieren, in Widerstreit mit jenen Normen, die amerikanische Richter in den großen Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg aufstellten.
In dem spezifisch amerikanischen Glauben, »eine tiefe Wirkung ... auf das Recht und die Moral der internationalen Gemeinschaft zu haben« (so Walter Lippmann am 3. März 1945 in der »New York Herald Tribune"), mühten sich die alliierten Richter in Nürnberg, den Nazismus justiziabel zu machen. In insgesamt 13 Prozessen klagten sie 199 Deutsche an, vom Reichsmarschall Hermann Göring bis zum Stellvertretenden Betriebsleiter der Kruppschen Gußstahlfabrik, Max Ihn. 38 Angeklagte wurden freigesprochen, 30 zum Tode verurteilt, 23 zu lebenslanger Haft, der Rest zu begrenzten Freiheitsstrafen. Zeitweilig arbeiteten in Nürnberg 900 Alliierte für die neue Gerechtigkeit, die von den Deutschen vielfach als Rache, von den Amerikanern aber als Justiz begriffen wurde.
Ein Urteil freilich, nicht in Nürnberg, sondern in Manila gefällt, schien auch damals schon amerikanischen Juristen eher Rache als Recht, das Urteil gegen den japanischen General Yamashita, Ex-Kommandeur auf den Philippinen. Yamashita war nicht eingeschritten, als seine Soldaten 25 000 Zivilisten mordeten.
Nach Paragraph 501 des amerikanischen »Army Manual« durfte Yamashita nur verantwortlich gemacht werden, wenn er von den Taten gewußt hätte oder hätte wissen können und dennoch gegen die Täter nicht eingeschritten wäre. Obschon Yamashita nachweisen konnte, daß er wegen der zerstörten Nachrichtenverbindungen auf den Philippinen über die Tat nichts hatte erfahren können, wurde er abgeurteilt und gehenkt.
Das Yamashita-Urteil ist seither Teil des amerikanischen Rechts, und
* 1946 während seines Prozesses in Manila. General Westmoreland, schreibt »Time« jetzt, hatte im Gegensatz zu Yamashita »hervorragende Nachrichtenverbindungen zu seiner Truppe«. Den US-Oberbefehlshaber in Vietnam deshalb des Verbrechens von My Lai anzuklagen, erschien der »Time«-Redaktion dennoch »gleichermaßen undurchführbar und absurd«.
Kritische Amerikaner wollen Amerikas höchste Politiker und Militärs denn auch gar nicht mit der Schuld speziell für My Lai befrachten. Denn: »My Lai war vielleicht eine Übertreibung, eine extreme Tat, stand aber durchaus im Zusammenhang mit der Art, in der der Krieg angelegt ist«, urteilt Richard A. Falk, Rechtsprofessor an der Princeton-Universität.
Wie die erste Industrie- und Militärmacht der westlichen Welt ihren Krieg im asiatischen Bauernland Vietnam führt -- auch wenn ihre Soldaten nicht gerade einen My-Lai-Exzeß begehen -· hat die amerikanische Öffentlichkeit in den letzten Monaten besonders schmerzhaft erfahren. Zumal über die rechtliche Qualität dieser Kriegführung erschien eine umfangreiche Literatur. 33 dieser Bücher besprach der amerikanische Journalist Neil Sheehan am 28. März in einem fast sieben Seiten langen Essay der »New York Times Book Review«.
Der brillant geschriebene Sheehan-Essay, von neun US-Zeitungen nachgedruckt, erlangte inzwischen Berühmtheit. Sheehans Ergebnis: Wenn man auch nur einem Bruchteil des in der Literatur ausgebreiteten Materials glaubt, »können die Führer der Vereinigten Staaten, zumindest die der letzten sechs Jahre, eingeschlossen der derzeitige Präsident Richard Milhous Nixon, sehr wohl schuldig sein, Kriegsverbrechen begangen zu haben«.
Anfangs hatten die Amerikaner geglaubt, sie könnten den Antiguerillakrieg in Vietnam mit einer kleinen Zahl gut ausgebildeter, leicht bewaffneter Soldaten führen. Da sich aber laut Mao der Guerilla im Volk bewegt wie ein Fisch im Wasser, war die amerikanische Konklusion 1965, man müsse das Wasser -- mithin das Volk -- trockenlegen.
Diesem Ziel dienten vor allem die »free fire zones": In einem Gebiet, in dem Vietcong operierten, landeten Hubschrauber mit Bodentruppen. Die Vietnamesen in den Dörfern wurden zwangsevakuiert, ihre Hütten und Vorräte vernichtet, ihre Dörfer unbewohnbar gemacht. Alsdann galt das gesamte Gebiet als operationelle »free fire zone«, in der ohne Warnung, unbeschränkt und überallhin gefeuert werden konnte.
Andere unkontrolliert eingesetzte Kampf mittel:
* »preplanned air strikes« (vorbeugende Luftangriffe);
* »harassing and interdiction fire« (Stör- und Sperrfeuer);
* Flächenbombardements mit achtstrahligen strategischen B-52-Bombern, die so hoch fliegen, daß die Dorfbewohner die Maschinen nicht hören;
* die chemische Entlaubung von insgesamt rund 20 000 Quadratkilometern Vietnams.
In der Provinz Quang Ngai, in der My Lai liegt, wurden durch diese Kriegführung etwa 70 Prozent der 450 Weiler zerstört. Dabei mußten, für jeden erkennbar, mehr Zivilisten ums Leben kommen als in bisherigen Kriegen, seit 1965 in Vietnam nach (wahrscheinlich zu niedrigen) Schätzungen mindestens 150 000, das sind 68 pro Tag.
Ein amerikanischer General antwortete 1966 auf die Frage, ob ihn die Verluste unter den Zivilisten nicht bedrückten: »Ja, das ist ein Problem, aber damit berauben wir den Feind seiner Bevölkerung.« Geheime militärische Dokumente verwenden den gleichen Ausdruck: »deprive the enemy of the population resource«.
Eine solche Kriegführung verstößt für Amerikaner wie Sheehan nicht nur gegen die Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung von 1949, sondern auch gegen die Normen des eigenen »Law of Land Warfare« im U.S.-Army Manual.
Danach ist es beispielsweise rechtswidrig, Hospitäler anzugreifen. Sheehan: »Wir bombten und beschossen sie routinemäßig.« Danach -- ebenso wie nach der Genfer Konvention -- muß eine Besatzungsmacht Flüchtlinge und Evakuierte -- in Vietnam fünf Millionen Menschen, fast ein Drittel des Volkes -- schonen und versorgen.
Vor allem verbietet das »Manual« jede Zerstörung, die nicht durch das unmittelbare Kriegsziel bedingt ist. Die Zerstörungen aber, die Amerika in Vietnam anrichtete, waren laut Sheehan nicht einmal dann erforderlich, wenn man als Kriegsziel die Trockenlegung des Wassers Volk ansieht, in dem der Guerilla schwimmt.
Um dies zu bewerkstelligen, hätten die USA auch mobil machen und ganz Vietnam besetzen können -- was sie aus innenpolitischen Gründen vermieden, nicht aber weil das Kriegsziel via Zerstörung besser oder schneller zu erreichen gewesen wäre. Ergebnisse laut Sheehan:
* Amerikas Kriegführung war in sich ein Kriegsverbrechen, auch ohne My Lai.
* »Wenn die Generäle Kriegsverbrechen begangen haben, taten sie es mit Wissen und Zustimmung der Zivilisten.«
* Nach den seit den Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozessen gültigen Normen könnte jedes Kabinettsmitglied, das Kenntnis von den Verbrechen hatte, angeklagt werden, also beispielsweise auch Orville Freeman, Präsident Johnsons Landwirtschaftsminister. Ein anderer Amerikaner, prominenter als Sheehan, hatte diese Konklusionen schon 1970 gezogen, wenngleich etwas zurückhaltender. Es war Telford Taylor, US-Chefankläger in Nürnberg, heute Rechtsprofessor an der Columbia-Universität und Brigadegeneral der Reserve. Taylor schrieb unter dem Titel »Nuremberg and Vietnam: an American Tragedy« ein Buch, das auf jeder Seite den Schock erkennen läßt, dem ein Rechtssetzer von Nürnberg angesichts des Vietnamkriegs unterliegen muß.
Laut Taylor haben die USA in Vietnam »die teuerste und tragischste Dummheit der amerikanischen Geschichte« begangen: »Der Friedensgeist von Nürnberg und der Uno-Charta wurde benützt, um unseren Einfall in Vietnam zu rechtfertigen, das wir verwüstet haben. Irgendwie haben wir es versäumt, selbst die Lektionen zu lernen, die wir in Nürnberg gelehrt haben, und dieses Versäumnis ist heute Amerikas Tragödie.«
Taylor forderte die Amerikaner auf sie sollten ihren Vietnamkrieg nach den in Nürnberg und im Yamashita-Prozeß aufgestellten Prinzipien beurteilen: »Die Frage Ist, ob die Regierung der Vereinigten Staaten bereit ist, den Konsequenzen der Anwendung dieser Prinzipien (auf den Vietnamkrieg) entgegenzusehen.«
Zur Illustration stellte Taylor auf den Seiten 124 und 125 seines Buches »Zwei Augenzeugenberichte aus zwei Kriegen« einander gegenüber: links den Judenmord von Dubno in der Ukraine, begangen 1942 durch die SS, rechts den Vietnamesenmord von My Lai, begangen 1968 von GIs.
Taylor: »Das Rad hat sich ganz herumgedreht, und die Finger der Anklage zeigen auf niemand anderen als auf uns. Schlimmer noch: Viele der Finger sind unsere eigenen.«
Während des Calley-Prozesses befragt, ob er meine, daß Berater Präsident Johnsons wie Rusk, McNamara, Bundy und Rostow wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden sollten, antwortete Taylor: »Wenn Sie auf die erwähnten Leute oder auf hohe Kommandeure wie General Westmoreland die Maßstäbe des Yamashita-Prozesses anzuwenden hätten, bestände eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß sie dasselbe Ende nehmen würden wie Yamashita.
Frage: »Dann unterstellen Sie also, daß diese Leute für schuldig befunden würden?«
Taylor: »Für schuldig befunden werden könnten.«
Für die Angeklagten Im My-Lai-Prozeß entwickelte Taylor die »letzte Frage nach der Schuld: Inwieweit taten sie etwas, was sich von der allgemeinen amerikanischen Kriegführung in Vietnam unterschied«? Mithin: Unterscheidet sich das Töten von Zivilisten durch Gewehrschüsse eines Infanteristen nicht vom Töten durch Luftangriffe In einer free fire zone, dann wären entweder alle schuldig oder niemand.
Kurioserweise griff Calley-Anwalt Latimer auch dieses Entlastungsargument nicht auf. »Time": »Daß der Verteidiger diese Themen nicht behandelte, mag ein berechnetes Weglassen gewesen sein. Denn eine gründliche Untersuchung der in Vietnam üblichen Kampfpraktiken hätte die Befehls-Hierarchie der Armee auf die Anklagebank und die Jury der Berufsoffiziere gegen ihn aufgebracht.«
Viele Amerikaner scheuen sich, derartige Konsequenzen In Kauf zu nehmen. Selbst dem kritischen Sheehan kamen keine grundsätzlichen Zweifel, als er in Vietnam miterlebte, wie amerikanische Granaten vietnamesische Zivilisten zerfetzten. Die Attacke erschien ihm »dumm, unnötig, unmoralisch«, aber nicht als Verstoß gegen die Kriegsgesetze.
Sheehan: »Amerikaner begehen einfach keine Kriegsverbrechen. Das war Teil unserer Überzeugung, unserer Kultur -- wir verteilen Schokolade. Deutsche, ja, das glauben die Amerikaner, große fette Deutsche, die bauen Konzentrationslager, aber nicht Amerikaner.«
»Gewohnheitsgemäß glauben wir, daß die amerikanischen Absichten gut sind, daß Amerika nie einen Krieg begonnen hat, daß Amerika immer auf der Seite von Demokratie und Gerechtigkeit und Freiheit steht, daß Amerikaner ungewöhnlich unschuldig, großzügig und gut gegenüber anderen
Links: Judenmorde durch die SS in Dubno 1942; rechts: Vietnamesenmorde in My Lai.
Völkern sind«, fand der katholische Philosoph Michael Novak.
Kriege, wie der Erste und der Zweite Weltkrieg, das »Polizeiunternehmen« in Korea und der Guerillakampf in Vietnam, gerieten in den Augen vieler Amerikaner zu Kreuzzügen für die Freiheit gegen den Kaiser, gegen Hitler und gegen den Kommunismus -- gegen das Böse.
Amerikanern, die so denken, mußte es unverständlich erscheinen, daß Calley im eigenen Lande für etwas gerichtet wurde, das sein Land von ihm zu fordern schien: Kampf gegen den Kommunismus. Daß Calley einen Säugling tötete und einem alten Mann das Gesicht mit dem Gewehrkolben zertrümmerte, ehe er ihn erschoß, fiel für sie nicht Ins Gewicht.
Viele Amerikaner vermochten sich offenbar um so leichter über moralische Zweifel zu erheben, als die Opfer nicht weiß, hochgewachsen und blauäugig, sondern gelb, klein und schlitzäugig waren. »Viele der GIs würden niemals auf den Gedanken kommen, einen Menschen zu töten«, erklärte der Vietnam-Freiwillige Michael Bernhardt aus Calleys Kompanie in My Lai, »das heißt einen weißen Menschen, denn nur ein solcher ist gewissermaßen ein menschliches Wesen.«
Die Feinde der Amerikaner in Vietnam hießen für Calley und seine Kameraden »gooks«, »dinks« oder »slopes« -- »Gelbe«, »Gnome« oder »Abschaum«.
Robert Jay Lifton, Vietnam-Veteran und Professor für Psychiatrie an der Yale-Universität, hält die Rassenfrage im Vietnamkrieg für »einen wichtigen Gesichtspunkt«. Die Amerikaner, so findet er, haben »eine zu ausgeprägte Tradition der Entmenschlichung nichtweißer Rassen« -. und In der Tat führten die USA ihre brutalsten Kriege gegen Indianer und Filipinos, Mexikaner und Japaner, Koreaner und Indochinesen.
Bisher gewannen sie alle. Der drohende Verlust des Vietnamkriegs aber verletzte das Selbstverständnis der Amerikaner -- und das Selbstvertrauen Ihres Präsidenten. Richard Nixon hatte geglaubt, er könne für Amerika einen zumindest halbwegs ehrenhaften Abzug vom asiatischen Kontinent erreichen. Halbwegs ehrenhaft, das hieße zwar ohne Sieg, aber auch ohne eklatante Niederlage und vor allem ohne unmittelbar folgenden Zusammenbruch des südvietnamesischen Bundesgenossen.
Die Vietnamisierung des Vietnamkriegs glaubte der Präsident durch die Invasion Kambodschas und die Offensive gegen den Ho-Tschi-minh-Pfad in Laos beschleunigen zu können. Die Kambodscha-Operation bescherte Amerika zwar die blutigsten Demonstrationen des Vietnamkriegs -- vier Tote an der Kent-Universität in Ohio -, sicherte aber zeitweise den Süden Südvietnams.
Umgekehrt war die Laos-Aggression an der amerikanischen Helmatfront für Nixon ein Erfolg -- kaum jemand protestierte. Militärisch dagegen enthüllte sie die Schwäche der südvietnamesischen Armee und damit das zu erwartende Scheitern der Vietnamisierung.
Als die Südvietnamesen auf den Kufen amerikanischer Hubschrauber aus Laos flohen, tat sich für Präsident Nixon daheim erstmals jenes »Credibility gap« auf, an dem sein Vorgänger Johnson gescheitert war: 66 Prozent der Amerikaner glaubten nicht mehr, daß der Präsident ihnen über Vietnam die Wahrheit sage.
Zur gleichen Zeit verurteilten im US-Fort Benning die sechs Geschworenen den Angeklagten Calley im ersten großen My-Lai-Prozeß wegen Mordes an mindestens 22 vietnamesischen Zivilisten zu lebenslanger Haft.
Das Urteil, von der überwiegenden Mehrheit der Amerikaner abgelehnt, bot dem angeschlagenen Richard Nixon unvermittelt die Chance, sich mit seinem Volk zu solidarisieren. Er milderte das Calley-Urteil und lenkte damit von der Frage ab, ob statt des Oberleutnants nicht eigentlich andere für das Verbrechen von My Lal verantwortlich seien.
Doch »Time« präsentierte die Befehlskette von My Lal: Sie beginnt bei Calley und endet bei dessen Oberbefehlshaber Johnson. Ein -- freilich verdächtiger -- Zeuge ist der gleichen Ansicht: Calley-Vorgesetzter Hauptmann Medina, der seinen eigenen My-Lai-Prozeß erwartet. Medina: »Die Schuld liegt ganz oben.«
Senator Fulbright nannte die in seinen Augen Verantwortlichen: die Generale William Westmoreland und Creighton Abrams, die Präsidenten Lyndon Johnson und Richard Nixon.
Eric Sevareid, Star-Kommentator der Fernsehgesellschaft CBS, prophezeite: »Der Calley-Prozeß ist erst der Anfang eines anderen Prozesses, der Anfang bei der Suche nach der vollen Wahrheit: Was haben wir den Asiaten und uns selbst angetan?«