FAMILIE Seins oder nicht seins
Da war dieses Gerede im Dorf. Die Art Tratsch, ein wenig schlüpfrig, ein wenig schadenfroh, die sich überträgt wie eine Epidemie, gegen die es kein Mittel gibt. Keines, außer man hätte einen Gegenbeweis, eindeutig, unbestreitbar. Damals, im Sommer 2003, beschloss Franz Zirnstein aus Altforweiler im Saarland, den heimlichen Vaterschaftstest zu machen, über den seine zweite Frau schon so lange mit ihm gesprochen hatte, wegen der grünen Augen, die der Junge hat.
Grüne, nicht braune, wie er selbst. Der Tratsch nämlich sagte, dass seine erste Frau, von der er seit 1995 geschieden ist, nachts oft tanzen ging, wenn er als Schlosser auf Schicht war. Zirnstein aber war sicher: Der Test würde den Lästerern schon den Mund stopfen, er würde allen beweisen, dass sein Sohn aus erster Ehe, für den er im Monat noch 247 Euro Unterhalt zahlte und der noch jeden zweiten Freitag zu ihm kam, tatsächlich von ihm stammt.
Allerdings war der Sohn nun schon 16, geboren im Dezember 1986, kein Alter mehr, in dem man Kindern einfach ein Wattestäbchen in den Mund steckte, so wie es das Labor in Wiesbaden empfahl. Ein Pflaster mit Blut gehe stattdessen auch, wenn keine Salbe daran klebe, auch ein gebrauchtes Taschentuch, nur bitte keine Haare. Haare ausreißen kann als Körperverletzung gewertet werden.
Zirnstein hat seinem Sohn dann einen Kaugummi gegeben, einen Orbit, weil der ohne Zucker war, auch das hatte das Labor ihm geschrieben. Er lief mit blankgeputztem Aschenbecher hinter dem Jungen her, bis der ausgekaut hatte, und als er den Knubbel endlich im Ascher hatte, ließ er ihn trocknen, wie man es ihm geraten hatte, und schickte ihn samt eigener Probe ein.
Am 3. Juli 2003 kam der Brief, und das Dorf hatte Recht: In 6 von 15 untersuchten DNA-Regionen stimmten die Allele nicht überein. »Eine Vaterschaft ist daher offensichtlich unmöglich«, stand dort lapidar. »Da hätte ich mir ein Messer in den Arm stechen können, ohne das Blut rausgelaufen wäre, so erstarrt war ich«, sagt Zirnstein.
So also fühlt sich der schlimmste Alptraum aller Väter an. Wenn die jahrtausendealte Urangst, das Kind, das geliebte, könnte von einem anderen sein, wahr wird und die ewige Furcht vor dem ultimativen Vertrauensbruch der Gewissheit weicht, dass man zum lächerlichen Opfer des ältesten Betrugs der Welt geworden ist - zum gehörnten Depp, der sich ein Kind hat unterschieben lassen.
Was seit Adam und Eva verschleiert werden konnte, wird nun mit Hilfe moderner Technik gnadenlos offen gelegt. Für ein paar hundert Euro kann sich mittlerweile jedermann bei DNA-Testlabors ganz diskret Klarheit über seine Vaterschaft kaufen. Keine Frau kann dem Falschen mehr ein Kind unterschieben, kein Erzeuger seine Vaterschaft verleugnen. Nie wieder sollte es heißen: »Mother''s baby, father''s maybe.«
Doch so lange die Männer auf ihren Triumph über die Natur warten mussten, so kurz könnte er sein, wenn Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) ihre Ankündigung wahr macht und heimliche Vaterschaftstest verbietet. Bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe soll jedem drohen, der ohne Einwilligung der Mutter einen solchen Erbgutabgleich vornehmen lässt. Ein solches Vorgehen verletze das »informationelle Selbstbestimmungsrecht« des Kindes, argumentiert Zypries. In ähnlicher Weise, aber mit weniger weitreichenden Konsequenzen urteilte der Bundesgerichtshof am Mittwoch vorvergangener Woche, dass heimlich durchgeführte Vaterschaftstests nicht gerichtsverwertbar seien. Der Kläger, ein Anwalt aus Thüringen, muss nun weiter für ein Kind zahlen, das er nachweislich nicht gezeugt hat. Rechtsstaat paradox?
Seither herrscht Panik unter deutschen Papas. »Degradiert Deutschlands Männer nicht zu Bürgern zweiter Klasse!«, appellierte der Schriftsteller Rafael Seligmann, »gehörnte Ehemänner verdienen Schutz, sie dürfen nicht zum Freiwild betrügender Frauen gemacht werden.«
Im verunsicherten Vaterland rennen die Zweifler den DNA-Labors die Türen ein, mit der quälenden Frage: Meins oder nicht meins? Der Abbau traditioneller Moralvorstellungen und stabiler Familienstrukturen hatte die männliche Angst ohnehin schon gewaltig angefacht.
Es geht um sehr viel Geld, um Unterhalt und Erbe. Seit Partnerschaften selten länger halten als ein Gebrauchtwagen, werden aus Vätern immer öfter
pure Geldgeber, schlimmstenfalls ohne jede Beziehung zum Kind. Zieht einer die Vaterschaft in Zweifel, hat er - materiell - nichts zu verlieren. Das Kind wird zur Ware: mit Rückgabegarantie bei falschem Erbcode.
Es geht auch um tiefsitzende Ängste und männlichen Stolz, um den dreisten weiblichen Betrug und blanke Existenzangst. Vor allem aber geht es um die Uralt-Frage, was schwerer wiegt: die richtige DNA oder ein richtiger Vater, eine schöne Lüge oder die hässliche Wahrheit.
Franz Zirnstein hat es seinem Jungen ein paar Tage später gesagt. Er wollte ihm irgendwie klar machen, dass er zwar nicht der Vater sei, aber weiter so etwas wie ein Vater bleiben wolle, wenigstens ein guter Freund. Er ahnte nicht, welchen Preis er für seine Wahrheitssuche zahlen sollte. Das Gespräch war das letzte Mal, dass er seinen Jungen traf, obwohl sie immer noch im selben Dorf wohnen, nur tausend Meter voneinander entfernt.
Der Junge sagte, er sei ja wohl im falschen Film, er müsse das erst mal verdauen, und als Zirnstein nichts mehr hörte und ihn deshalb später mal anrief, kam die Frage zurück, wie Zirnstein der Mutter so etwas nur habe antun können. So einen Test. Und die anschließende Klage, die Zirnstein eingereicht hatte, die Klage auf Anfechtung der Vaterschaft.
Das Amtsgericht Saarlouis hat dem 43-Jährigen inzwischen bestätigt, dass er nicht der Vater ist und nicht mehr zahlen muss. Er hätte allerdings sowieso nicht mehr lange gezahlt, weil der Junge ein paar Monate später in die Lehre ging und selbst verdiente. Und Geld zurück bekommt Zirnstein nun auch nicht; dazu müsste erst mal klar sein, wer damals die Mutter geschwängert hat; seine Ex-Frau hat nur zugegeben, dass es im Zeitraum der Empfängnis noch einen anderen Liebhaber gab, mit dem sie aber heute nichts mehr zu tun habe.
Geld, irgendwie geht es immer auch ums Geld, und wenn der Junge irgendwann mal von Sozialhilfe leben sollte, dann wird Zirnstein jetzt nicht mehr für ihn einspringen müssen. Das war ihm schon wichtig, schließlich hat er jetzt eine andere Frau, sie schwimmen ja nicht im Geld. Aber mehr als das Geld beschäftigen ihn die irrlichternden Gefühle: das Gefühl des Verlustes, weil er mit seiner zweiten Frau keine Kinder mehr bekam; sie hatten ja nur drei Zimmer, und außerdem musste er doch Unterhalt zahlen. Und der Verlust seines Sohnes, der vielleicht für immer verloren ist.
20 000 Bäume hat Zirnstein mal gepflanzt, weil der Vater seiner ersten Freundin im Obstbaumverein war, das war ein ziemlich guter Anfang für einen Mann, der tun wollte, was ein Mann tun sollte. Aber dann hat er kein Haus mehr gebaut, weil das Geld nicht reichte, und jetzt auch keinen Sohn gezeugt, weil er dachte, er hätte schon einen.
Trotzdem, sagt Zirnstein, war es gut, Gewissheit zu haben. »Das war eine Lebenslüge, die mich jetzt nicht mehr belastet.« Andererseits: Hätte er es nie erfahren, wie hätte es ihn dann je belasten können? Und hätte er dann nicht doch einen Sohn statt jener dünnen Hoffnung, dass der Junge, den er für seinen Sohn gehalten hat, irgendwann noch mal mit ihm reden will? Wäre es nicht besser, mit der Chance einer Lüge zu leben, wenn die Wahrheit nur Ernüchterung übrig lässt?
Auf keinen Fall, ereifern sich die Funktionäre der Väterverbände. Sie vertreten jenen Teil der Männerwelt, der sich aufgrund des geltenden Scheidungs- und Unterhaltsrechts ohnehin ausgeplündert fühlt (SPIEGEL 49/2004). In dieser Opferszene geht die Furcht um vor Zypries'' »Schlampenschutzgesetz«. Ohne die Möglichkeit heimlicher Tests müssten Männer künftig ohne Chance auf Gegenwehr ein Heidengeld für Kinder berappen, die ein Fremder gezeugt hat.
Juristisch gesehen ist das ein alter Hut. Bei der Vaterschaft können seit jeher biologische Wirklichkeit und rechtliche Zuordnung auseinander fallen. Wer der Erzeuger ist, lässt sich heutzutage genetisch belegen. Wer Vater ist, steht im Gesetz - der Trauschein gilt praktisch als Vaterschaftsnachweis.
Nach Paragraf 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ist Vater eines Kindes
zunächst der Mann, »der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist« - vorausgesetzt, es gibt einen solchen. Aus dieser Verantwortung wird er nur entlassen, wenn die Scheidung läuft und ein anderer Mann - es muss nicht der Erzeuger sein - binnen eines Jahres die Vaterschaft anerkennt. Das Kind, so regelt es der Gesetzgeber, soll versorgt sein. Eine Mutter kann den Kindsvater auch gegen seinen Willen feststellen lassen, der dann gegebenenfalls auch zahlen muss. Frauen hingegen sind ihren zweifelnden Gatten und Liebhabern nicht auskunftspflichtig. Ein Verfahren zur Klärung der Vaterschaft kann Mann nur anstrengen, wenn glaubhafte Belege für die vermeintliche Untreue vorliegen.
Kein Wunder, dass der Markt des Zweifels boomt. DNA-Test-Institute schätzen, dass jedes zehnte Neugeborene ein Kuckuckskind ist. Glaubt man diesen Zahlen, so wären das rund 70 000 allein im vergangenen Jahr. Die Misstrauensindustrie lebt sehr gut von der Angst der Väter, der Sehnsucht der Kinder und der Unsicherheit der Frauen. 40 Millionen Euro Umsatz macht die deutsche Branche im Jahr, für rund 50 000 Tests. In jedem vierten bis fünften Reagenzglas steckt der Beweis für ein Kuckuckskind. Seit dem BGH-Urteil verzeichnet Humatrix, einer der Marktführer, 10 bis 15 Prozent mehr Aufträge.
Deutschland privat - Hobby-Abstammungsforscher schleichen sich nachts in Pantoffeln in die Kinderzimmer, beugen sich über die Wiege und rätseln: Ist das meine Nase? Sie spachteln Proben aus vollen Windeln, stibitzen Schnuller und Zahnbürsten. Bewaffnet mit Wattestäbchen, begeben sie sich auf die Spur des Speichels. All das im Namen der Ehre und zumeist des schönen Geldes wegen. Die innere Sicherheit gibt es häufig schon ab 299 Euro.
Um Jahre des Lebens betrogen fühlen sich viele Väter, die den Verrat erst spät entdecken. Auf finanzielle Wiedergutmachung können sie kaum hoffen, auch nicht auf eine Entschädigung für all die verwirrenden Gefühle, die Enttäuschung, den Schmerz, den Zweifel: Wen habe ich da eigentlich geliebt?
18 Jahre lang glaubte der Techniker Gunnar Gosau, eine leibliche Tochter zu haben: Katharina, das Mädchen mit den langen, dunklen Haaren, dessen Foto immer auf dem Schreibtisch seines Büros stand. 18 Jahre lang zahlte er anstandslos Unterhalt an die Mutter, von der er sich bereits vor Geburt des Kindes getrennt hatte.
Dass er nicht der Erzeuger ist, erfuhr der Sicherheitstechniker mittels Test in einem Wiesbadener DNA-Labor, zu dem sich Tochter Katharina ohne Wissen ihrer Mutter bereit erklärt hatte. Das Ergebnis, eindeutig und unwiderlegbar, schockierte auch die junge Frau. Für sie geht es um noch mehr: Denn die inzwischen 21-Jährige rätselt bis heute, wer ihr Vater ist. Auch Gunnar Gosau, der sich betrogen und hintergangen fühlt, hat den Vertrauensbruch bislang nicht verkraftet: »Alles, woran ich 18 Jahre lang geglaubt habe«, erklärt er, »ist plötzlich weg.« Aber das ist nicht der einzige Verlust.
Der gute Kontakt zu der vermeintlichen Tochter, die in der Pubertät sogar zu ihm ziehen wollte, ist abgebrochen. Als er den Umschlag mit dem Ergebnis aufriss, zerriss auch das Band zu seiner Ziehtochter. Sie will ihn nicht mehr sehen. Und er hat kein Interesse mehr an ihr. Als wäre ein Schalter umgedreht worden.
Den zu Unrecht gezahlten Unterhalt, 40 000 Euro plus Zinsen, will er wiederhaben, ein rechtskräftiges Urteil dazu liegt vor. Aber was bedeutet schon Geld gegen das Gefühl, 18 Jahre lang getäuscht worden zu sein?
Was kostet ein Leben?
Die große Mehrheit der Väter, die in Labors nach der Wahrheit suchen, leben längst von Frau und Kindern getrennt. Manche verweigern den Kontakt zu den Kindern von sich aus, anderen wird der Umgang mit dem Kind von der Ex-Frau vorenthalten. Nicht wenige suchen ihre Chance, sich per Testergebnis von den Alimentenzahlungen zu befreien. Geiz ist schließlich geil, und wenn die Liebe dahin ist, traut man der Verflossenen plötzlich so einige Gemeinheiten zu.
Solange eine Familie funktioniert, findet das Misstrauen keinen guten Nährboden.
Fragwürdig wirkt in diesem Zusammenhang das Argument der Pro-Test-Männer, dass eine heimliche Überprüfung - anders als der öffentliche Gerichtsweg - der Familie keinen Schaden zufügen würde. Bleibt die Frage: Ist das Vertrauen nicht dahin, die Ehe längst zerrüttet, wenn das Wattestäbchen erst einmal in der Kinderbacke steckt?
Der Mainzer Theologe und Ethik-Fachmann Walter Dietz hatte nicht den leisesten Verdacht gegenüber seiner Frau, als er den Hinweisen einer Kindergärtnerin nachging. Sein Junge verhalte sich ganz anders als die beiden Geschwister und sehe denen auch nicht ähnlich, hatte die Betreuerin gesagt. Irgendwann gab ihm das zu denken. Könnte es etwa sein, dass das Krankenhaus die Babys verwechselt hat? »Völlig arglos«, so versichert er, bat er seine Frau, »doch mal einen Mutterschaftstest in Auftrag zu geben«. Zu seiner Überraschung reagierte die ganz anders als erwartet und lehnte rundheraus ab.
Der Stachel saß, Dietz wurde ihn nicht mehr los. Dem Theologen fehlte plötzlich der Glaube.
Also ging er zum Anwalt. Der riet ihm, einen Vaterschaftstest vor dem Amtsgericht zu erzwingen. Auf keinen Fall, lehnte Dietz ab. Er wollte keine Gerichtsverhandlung über intimste Details, das könne er seiner Familie nicht antun.
Also sammelte der Ethikprofessor heimlich DNA-Spuren seines Kindes und ließ sie zusammen mit seinen privat testen. Dann wusste er, dass sein Sohn nicht sein Sohn ist.
Seit einem Jahr knabbert er nun an diesem Brocken und weiß immer noch nicht, ob er ihn je runterkriegen wird. Er rettet sich in seine intellektuelle Welt. Dann wieder sucht er Kontakt zu dem Ehebrecher, der aber keinen Bedarf hat an Aufarbeitung. »Was der andere Mann mir angetan hat, empfinde ich schlimmer als Mord.«
Wird er die Vaterschaft nun doch vor Gericht bestreiten? Er weiß es nicht. »Obwohl man das Kind liebt, wäre es dann rechtlich nicht mehr das eigene.« Will er das?
Dietz zweifelt an allem, nur nicht an seiner eigenen Tat: »Die Wahrheit muss raus, um jeden Preis.« Schließlich haben seine Kinder einen Anspruch darauf zu wissen, wer ihre biologischen Eltern sind. Seiner Meinung nach darf der Schutz des »informationellen Selbstbestimmungsrechts« des Kindes nicht unter die alleinige Schirmherrschaft der Mutter gestellt werden.
Warum auch sollten Frauen, die einem Mann ein Kind unterjubeln - eine Tat, für die das Strafgesetzbuch Paragraf 169 Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vorsieht -, der Aufklärung zustimmen
Eigentlich wollte Dietz für die Zulassung heimlicher Tests kämpfen - ganz öffentlich, im Fernsehen und in der Presse. Doch mittlerweile hält er diesen »indirekten« Weg des Outing für höchst problematisch, fühlt sich von seinen Kollegen in der Universität dramatisch missverstanden. An Mobbing, so empfand er es, grenzten ihre Reaktionen auf seine Kuckucksvater-Offenbarung, sein Engagement. Auch deshalb hat er am Mittwoch vergangener Woche seinen Rücktritt als Dekan erklärt.
Eine gute Lösung für die Väter des Landes, das glaubt er, liegt so nah: »ein genereller Vaterschaftstest nach jeder Geburt«. Klare Verhältnisse, sofort und flächendeckend.
Siegfried Finke war der Dietz-Vision voraus. Auf die Idee mit dem Schnelltest im Krankenhaus war er selbst schon gekommen. Bereits vor der Geburt ihres Kindes hatten sich Finke und seine damalige Freundin getrennt - doch zu seinem Sohn wollte er sich trotzdem bekennen. Die »vagen Angaben« seiner Ex-Freundin zum Geburtstermin hatten ihn dann aber »ziemlich misstrauisch gemacht«, berichtet der Bochumer Tierarzt.
Er besorgte sich ein Vaterschafts-Testkit und wartete auf den Geburtstermin. Ein paar Stunden nach der Kaiserschnitt-Entbindung hielt er das Neugeborene zum ersten Mal in den Armen. Die Kindsmutter war wegen der Narkose noch nicht ansprechbar und lag schlafend im Bett; Finkes Chance. Er steckte dem Säugling ein Wattestäbchen in den Mund - Speichelraub ohne Einwilligung der Mutter. Sein privates Dringlichkeitsverfahren hat sich für ihn gelohnt. Eine knappe Woche später stand fest, was er befürchtet hatte: Das Neugeborene war »100-prozentig« nicht sein Sohn. Als der Bochumer seine Ex-Freundin mit der Nachricht konfrontierte, habe sie »sehr pikiert« reagiert.
Das »dicke Ende« ereilte ihn trotzdem. Rund eineinhalb Jahre später, als er den zuständigen Behörden das Testergebnis längst mitgeteilt und mit seiner Schein-Vaterschaft abgeschlossen hatte, erhielt er Post vom Jugendamt. Das forderte ihn auf, Unterhalt zu zahlen und die Vaterschaft anzuerkennen.
Die Nabelschnur als Standleitung ins DNA-Labor? Dann würden in deutschen Kreißsälen nicht nur Tränen der Freude fließen und Väter aus ganz anderen Gründen als bisher in Ohnmacht fallen. Dietz hält die Schnellverfahren am Wochenbett für zeitgemäß. »Das entspricht am ehesten der Realität«, so der desillusionierte Ethik-Experte, »in einer faktisch kaum noch monogam
lebenden Gesellschaft - mit der Ehe als Form sukzessiver Polygamie«.
Vielleicht aber liegt nicht nur die Entdeckung von Kuckuckskindern, sondern auch deren Entstehung in den Genen. Hildegard Haas, 43, Biologin und Geschäftsführerin des DNA-Labors »Genedia«, sieht das Fremdgehen als Teil der menschlichen Natur. »Das hat nichts mit Sexgier oder einem Mangel an Moral zu tun. Hinter Seitensprüngen steckt oft ein - manchmal unbewusster - Kinderwunsch. Die Frauen suchen sich als Erzeuger Männer aus, deren Erbanlagen ihnen imponieren, deren Gene sie für ihre Nachkommen wollen.« Die Erzeuger sind ja nicht automatisch die besten Väter. Fürsorglicher und als Ernährer zuverlässiger sind oft die bisherigen Partner.
Bislang müssen Frauen, die Kuckuckskinder aufziehen, vor allem eines können: schweigen, keinen Verdacht erregen und mit der Lüge leben lernen.
Ursula Ries*, PR-Managerin aus Nürnberg, hütet ihr Geheimnis seit Jahren. »Wenn es jetzt rauskommt , würde mein ganzes Leben zusammenbrechen«, fürchtet die 35-Jährige. Ihr Lebensgefährte glaubt bis heute, dass ihre beiden Söhne, heute drei und fünf Jahre alt, sein Fleisch und Blut sind. Er ahnt nichts von der Affäre, die Ursula vor vier Jahren hatte. Mit einem Mann aus dem Freundeskreis, wild und attraktiv war er, aber ein stadtbekannter Hallodri. Einer, der schon mehrere Kinder zeugte und keines davon ernähren kann. Prompt wurde auch Ursula Ries schwanger. Von ihm?
»Ich habe sehr mit mir gerungen, ob ich einen Test mit all seiner Heimlichtuerei machen lassen soll, ob ich es überhaupt wissen will. Ich hatte auch Angst vor den Konsequenzen - für mich persönlich, für alle Betroffenen. Meine Gefühle waren sehr verworren. Ich wollte Gewissheit und wünschte mir gleichzeitig sehnlichst, dass mein Gefühl mich trügen würde.«
Das Gefühl trog nicht, der jüngere Sohn stammt nicht von ihrem Partner. Pragmatisch, so sagt sie, sei sie mit der Neuigkeit umgegangen, habe immer wieder verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Mit dem immer gleichen Ergebnis: Sagt sie die Wahrheit, verliert sie ihren geliebten Partner. Und der biologische Vater wäre nicht in der Lage gewesen, angemessenen Unterhalt für das Kind zu zahlen.
»Ich habe dann einen Weg eingeschlagen, der für mich aus der damaligen Perspektive der einzig gangbare war und der beste für alle Beteiligten. Ich habe einen Deckel draufgesetzt und beschlossen, das potentielle Pulverfass nie mehr anzurühren.«
Ihr Lebensgefährte merkte nichts, gemeinsam zeugten sie ein weiteres Kind. Die Liebe konnte das alles nicht retten. Das Paar trennte sich nach wenigen Jahren,
ohne dass die Mutter ihr Geheimnis preisgab. »Es wäre für meinen Lebensgefährten ein zu großer Schock, er hat eine tiefe emotionale Bindung zu dem Kind. Auch für das Kind wäre das furchtbar, es würde ja nicht verstehen, warum sein Vater sich plötzlich von ihm abwendet.« Und nicht zu vergessen: Als alleinerziehende Mutter ist Ursula Ries auf die Unterhaltszahlungen angewiesen.
Ob sie das für fair hält, ihren Ex gutgläubig zahlen zu lassen?
»Mag sein, dass ich mich dadurch zur Regisseurin über das Leben anderer aufspiele und nicht das Recht dazu habe«, räumt sie ein. Doch die Wahrheit, daran glaubt sie fest, hätte niemandem genützt. »Im Gegenteil: Mein Leben und das meiner Kinder wäre in sich zusammengebrochen. So, wie es nun ist, können alle gut damit leben.«
Wunschdenken ist das, glaubt der Familientherapeut Günter Rexilius aus Mönchengladbach. Schweigen hält er für die schlechteste Lösung. Die seelische Belastung der Frau würde sich auf die gesamte Familiendynamik negativ auswirken. »Alle spüren, dass etwas nicht stimmt.«
Eine gewagte These, angesichts Tausender Kuckuckskinder im Land, von denen sicherlich viele geborgen und ohne jeden Verdacht aufwachsen.
Zum Beispiel bei Familie B.*. Seit Jahren wächst die kleine Tochter in dem Haus in einem idyllischen Münchner Vorort auf, liebevoll gepflegt von ihren Eltern. Ihr Vater hat nicht die geringste Ahnung, dass sie nicht sein Kind ist.
Seine Frau hatte, das beichtete sie anonym dem »SZ-Magazin«, eine heiße Affäre mit ihrem Chef. Als sie schwanger wurde, stand sie vor der Entscheidung: Abtreibung oder Lebenslüge. Sie wollte das Kind nicht aufgeben. Und sie wollte ihren Mann nicht verlieren. Sie log ganz einfach und hat es nie bereut: »Besser eine Lüge, die heilt, als eine Wahrheit, die tötet«, sagt sie.
Bleibt nur die Angst vor Entdeckung. Dank heimlicher Tests können sogar Außenstehende Schicksal spielen: Misstrauische Schwiegermütter oder Großeltern, die vor dem Vererben Klarheit wollen, Geliebte, die den alten Ballast ihres Partners loswerden wollen.
Der Damm ist gebrochen, zu verhindern sind heimliche Tests nicht mehr. Wenn in Deutschland nicht mehr analysiert werden darf, wandern die Firmen eben ins Ausland ab. »Solche Vaterschaftstests zu verbieten kommt einem Verbot gleich, das in der Raumfahrt erprobte Teflon in der Küche zu nutzen«, spottete die »Frankfurter Allgemeine«.
Wer heimliche Tests verhindern will, muss den Männern eine gerichtliche Möglichkeit geben, seine Vaterschaft sicherzustellen - im Ernstfall auch ohne Erlaubnis der Frau. Die Kriterien für eine Vaterschaftsanfechtungsklage müssen deutlich gesenkt werden.
Zypries, unter Druck der Männerverbände, des grünen Koalitionspartners und vieler Parteigenossen, überlegt, die Schwellen für Vaterschaftsklagen zu senken. Doch gegen zu weiche Regelungen würde Finanzminister Hans Eichel protestieren. Bereits jetzt zahlen Bund, Länder und Gemeinden pro Jahr 750 Millionen Euro Unterhaltsvorschuss für Kinder, deren Väter nicht zahlen. Der Betrag würde deutlich wachsen, wenn mehr Männer aus Alimenten aussteigen könnten und die wahren Erzeuger nicht gefunden werden. Vater Staat mag nämlich auch nicht zahlen. Wer also sorgt sich um die Kinder?
Wie bei klassischen Scheidungen oder Trennungen oder Beziehungskrisen sind
auch im Wattestäbchen-Krieg die Kinder die Verlierer. Denn Kinder bleiben sie immer, egal ob sie 10, 20 oder 40 Jahre alt sind. Und klein und hilflos werden sie wieder, wenn sie erfahren, da ist noch jemand, der sich Papa nennen darf. Dann werden die großen Fragen des Lebens unerträglich schwer: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Prägungen wie Urvertrauen gehen verloren - und übertragen sich nicht selten auf die eigenen Beziehungen.
Jessica L. war zehn Jahre alt, als ihr die Mutter eröffnete, dass ihr Vater nicht ihr leiblicher Vater sei. Für das Mädchen, kurz vor der Pubertät, war das ein großer Schock. Es fühlte sich fortan als Sonderling unter seinen drei Geschwistern, als Außenseiterin.
Die Frage rumorte in Jessica: »Wer ist mein richtiger Vater?« Die Mutter gab ihr keine Antwort. Mit 15 Jahren begann sie auf eigene Faust zu forschen. Heimlich. Im Schreibtisch ihrer Mutter fand sie schließlich, was sie suchte: Name und Anschrift ihres leiblichen Vaters. Ihres Erzeugers.
Über die Auskunft besorgte sie sich die Telefonnummer. »Ich bin die Jessica«, sagte sie schlicht beim ersten Telefonat. »Ich bin deine Tochter.«
Der Mann war Mitte 50, hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich und mehrere Kinder. Er war Frührentner, die monatlichen Zahlungen kamen nur unregelmäßig. Jessica traf sich einige Male mit ihrem Vater - und sie schrieb ihm. Sie ahnte nichts von seinen Zweifeln.
Der Vater löste von einem ihrer Briefe die Briefmarke und schickte sie an das DNA-Labor Genedia in München zwecks Vaterschaftstest. Weil das Material aber nichts hergab, bat er Jessica schließlich offen um eine Speichelprobe. Für den Fall der Fälle. Das saß. Das Mädchen machte zwar mit, und die Vaterschaft wurde einwandfrei nachgewiesen. Das noch junge Vertrauensverhältnis aber war irreparabel beschädigt.
Jessica L. brach den Kontakt zum Erzeuger tief enttäuscht ab. Der Mann wohnt inzwischen in der Karibik und schert sich seinerseits nicht mehr um die Tochter. Wie vorher auch. Vergebliche Liebesmüh des Kindes.
Jessica, das Kuckuckskind, das so richtig in keine Familie gehörte, zog kurz darauf zu einem Freund. Heute ist es 18 und Mutter eines wenige Wochen alten Sohnes.
Franziska H. traf die Wahrheit erst in gefestigtem Alter. Sie war über 40 Jahre alt, verheiratet und Mutter zweier Kinder, als sie aus ihrer heilen Welt gerissen wurde: Ihr Vater, den sie sehr liebte, zu dem sie eine ganz enge Bindung hatte, war nicht ihr leiblicher Vater.
Ihre Mutter, schon weit über 70, hatte nach vier Jahrzehnten doch noch Gewissheit gesucht. Vielleicht war es der Lebensabend. Vielleicht wollte sie noch reinen Tisch machen. Vielleicht hatte sie es immer wissen wollen, sich aber nicht getraut. Vielleicht hat sie es nur getan, weil es vorher nicht ohne weiteres möglich war.
Bei einem Münchner DNA-Labor gab sie einen Test in Auftrag, von der Möglichkeit hatte sie in einer Fernsehsendung erfahren. Die Speichelprobe der Tochter beschaffte sie sich unter einem Vorwand.
Das Ergebnis der Untersuchung: Franziskas leiblicher Vater war der heimliche Geliebte der Mutter, mit dem diese auch Jahrzehnte später noch Kontakt hielt, von dem aber niemand in der Familie etwas ahnte.
»Wenn ich nicht selbst in stabilen Verhältnissen leben würde, nicht schon lange eine eigene Familie hätte, dann hätte mich dieses Ergebnis total umgeworfen«, sagt Franziska H. Dennoch war sie äußerst irritiert, vorsichtig formuliert. Sie stellte sich vor einen Spiegel und fragte sich: »Wer bin ich eigentlich wirklich?« Ja, wer? Und wer soll das beantworten?
Der Mutter nahm sie nichts übel: nicht den heimlichen Test, nicht den heimlichen Geliebten. Trotzdem wunderte sie sich: »Ich konnte es einfach nicht glauben.«
Vor allem aber sorgte sie sich um den betagten Vater. Wie würde der auf die Nachricht reagieren, jahrzehntelang ein Kuckuckskind aufgezogen zu haben? Doch Alter macht bekanntlich gütig. Der Mann verzieh seiner Ehefrau. Und er versicherte der Tochter, dass er sie genauso lieben werde wie bisher. Er hatte nur einen Wunsch: Diskretion. Niemand außer den direkt Beteiligten solle vom plötzlich gelüfteten Geheimnis erfahren, auch Familienangehörige nicht.
Franziska H. bewegte ein anderer, nicht zu unterdrückender Wunsch: Sie wollte unbedingt ihren leiblichen Vater kennen lernen. Tausendmal malte sie sich ihre Reaktionen aus, wenn dieser Mann unsympathisch oder unangenehm sein würde. Wie würde das ihr Bild von ihrer Mutter verändern. Und von sich selbst? Die Neugier siegte.
Zum ersten Treffen nahm Franziska H. ihren Ehemann mit, als Stütze. Ihre Mutter kam auch. Eine Familienzusammenführung der besonderen Art.
Den Moment, als sie ihren leiblichen Vater erstmals sah, beschreibt Franziska H. als »bedeutendsten Augenblick meines Lebens«. Als wäre die Seele ein Puzzle und jemand hätte endlich das lange vermisste, fehlende Teil eingesetzt. »Wir haben uns gesehen und geliebt«, erinnert sie sich. »Da war keine Fremdheit, keine Distanz. Es war, als würden sich zwei treffen, die sich schon lange kennen.«
Die »intensive, wunderschöne Zeit miteinander« war viel zu kurz. Franziskas Vater starb bald nach ihrem Kennenlernen.
JOCHEN BÖLSCHE, JÜRGEN DAHLKAMP,
MARKUS DEGGERICH, DIETMAR HIPP, IRINA REPKE, MICHAELA SCHIEßL, BRUNO SCHREP
* Name der Redaktion bekannt.