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BUNDESLÄNDER / HESSEN Selbst gezählt

aus DER SPIEGEL 44/1969

Vier Tage vor Veröffentlichung seiner Kabinettsliste suchte Hessens neuer Ministerpräsident Albert Osswald, 50, in der Frankfurter Paulskirche Rat. Bei der Verleihung des deutschen Friedenspreises an Professor Alexander Mitscherlich erkundigte er sich diskret bei dem Preisträger: »Wissen Sie keinen Kultusminister für mich?«

Mitscherlich wußte Rat. Er nannte einen Mann, der Osswald schon Wochen vorher beiläufig von Parteifreunden empfohlen worden war: Ludwig von Friedeburg, 45, reformfreudiger Ordinarius für Soziologie und einer der Direktoren des renommierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung.

Mit Friedeburg holte sich Osswald einen Mann in die Wiesbadener Landesregierung, der zwar zu den geistigen Ziehvätern der rebellischen Studenten gehört, heute aber längst von den Revolutionären im SDS als »scheißkritischer Theoretiker« verfemt wird.

Der neue Kultusminister hat schon vor Jahresfrist -- allerdings ungewollt für sein Amt vorgearbeitet. Zusammen mit den Professoren Jürgen Habermas, Rudolf Wiethölter und Erhard Denninger verfaßte Friedeburg einen Hochschul-Gesetzentwurf, der fortschrittlicher war als das vom bisherigen Kultusminister Ernst Schütte für Hessen konzipierte Modell.

Jetzt kann SPD-Mitglied Friedeburg, Sohn jenes Generaladmirals, der zwei Wochen nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945 Selbstmord beging, eigenhändig Regie bei der anstehenden hessischen Hochschulreform führen.

Er kommt freilich in ein Kabinett, das nach harten parteiinternen Auseinandersetzungen entstanden ist und dessen Zusammensetzung bald zu neuen und heftigen Streitereien innerhalb der in Hessen regierenden SPD führen könnte.

Denn: Fast alle Genossen sind unzufrieden mit der Minister-Liste, die Osswald bei den Parteigremien durchsetzte:

* Die nordhessische SPD sieht Grund zum Gram, weil sie sich in Wiesbaden unterrepräsentiert fühlt, > die Gewerkschaften und die einflußreiche Frankfurter SPD sind verärgert, weil ihr Kandidat Olaf Radke nicht das Sozialministerium erhielt,

* in der Landtagsfraktion herrscht Unfriede, weil nur einer aus ihren Reihen Minister wurde.

In der Tat erweckt Osswalds Kabinett den Eindruck, als ob es weniger nach Qualitätsmaßstäben als aus Gründen der Opportunität und unter Zeitdruck zusammengestellt worden ist.

So erfuhr Ludwig von Friedeburg erst zwei Tage vor seiner Nominierung, daß er die von Schütte eingeleiteten Reformpläne zu Ende führen solle.

Zuvor hatte der bisherige -- und auch neue -- Wirtschaftsminister Rudi Arndt seinen Anspruch auf das Kultusressort angemeldet. Doch der hemdsärmelige Jurist, jüngstes und lautstärkstes Mitglied der hessischen Kabinetts-Runde, schien seinen Genossen wenig geeignet, Hessens Hochschulen behutsam auf neue Wege zu führen.

Arndts Radikal-Vorschlag, den jahrelangen Streit um die Frankfurter Opernhaus-Ruine mit einem Schlag zu beenden, war noch zu gut in Erinnerung. Arndt hatte seinerzeit angeboten, für eine Million Mark Sprengstoff bereitzustellen, um das von Alt-Frankfurtern verehrte Kultur-Relikt in die Luft zu jagen. Seitdem heißt Arndt in Hessen »Dynamit-Rudi«.

Als Osswald in Terminnot geriet und im eigenen Land keinen ministrablen Mann zu finden glaubte, offerierte er den Posten auswärts. Seine Offerten gingen gleichzeitig an den Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers, den nordrhein-westfälischen SPD-Fraktionsführer Johannes Rau, und den niedersächsischen Hochschulprofessor Peter von Oertzen. Oertzen lehnte sogleich ab. Rau war nur vorübergehend interessiert. Und in Berlin wollte der Regierende Bürgermeister Schütz seinen Evers nicht gehen lassen.

Der nächste Kandidat der Hessen schließlich, der Göttinger Pädagoge Professor Hartmut von Hentig, zögerte zu lange. Als Hentig sein Einverständnis nach Wiesbaden meldete, hatte Osswald seinen Minister schon gefunden.

Am Dienstag vorletzter Woche rief Osswald im Frankfurter Institut für Sozialforschung an und offerierte Ludwig von Friedeburg den Posten. Friedeburg beriet mit seiner Frau und sagte zu.

Zwei Tage später wartete Friedeburg im Wiesbadener Landtag einen

* Ministerpräsident Osswald (am Mikrophon); hinter ihm (v. l.) Kultusminister von Friedeburg, Innenminister Strelitz, Finanzminister Lang, Wirtschafts- und Verkehrsminister Arndt, Landwirtschaftsminister Tröscher, Sozialminister Schmidt; mit Journalisten.

Nachmittag lang bei Rheingauer Wein ("Kirchheimer Hofstück"), um sich den entscheidenden Parteigremien vorzustellen. Von Zeit zu Zeit gab er seiner Frau telephonisch Lagebericht: »Ich weiß immer noch nicht, was ist.«

Der Professor mutmaßte, die ausgedehnte Beratungszeit gelte seiner Kandidatur. In Wahrheit aber rauften sich die Genossen Landtagsfraktion und Landesvorstand tagten getrennt -- schon um die Besetzung der übrigen Kabinettsposten. Den Frankfurter Soziologen hatten sie längst ohne Diskussion akzeptiert.

Neues Streitobjekt war unter anderem die Forderung des Parteibezirks Nordhessen, zwei der freiwerdenden Ministersessel zu besetzen. Osswald und sein mehr als doppelt so starker Parteibezirk Hessen-Süd wollten den Genossen aus dem Norden aber nur einen zubilligen.

Widerwillig gaben die Nordhessen schließlich nach, obwohl einer ihrer Kandidaten, Karl Hemfler, Staatssekretär im Innenministerium, nicht das begehrte Innenressort erhielt, sondern ins Justizministerium abgeschoben wurde. Südhessischer Kommentar: »Da kann er weniger Unheil anrichten.«

Hemfler hatte sich als Staatssekretär mißliebig gemacht, als er zwei Wiesbadener Journalisten, die sich kritisch über ihn äußerten. durch Gespräche mit dem zuständigen Verleger zu größerer Zurückhaltung verpflichten wollte.

Den größten Hader unter den hessischen Sozialdemokraten löste indessen die Kandidatur eines Mannes aus, der als sicherer Anwärter für das Sozialministerium galt: Olaf Radke, profilierter Arbeitsrechtler der IG Metall, Landtagsabgeordneter und Wortführer des linken Parteiflügels.

Radke hatte das einstimmige Plazet der Gewerkschaften und wurde vom südhessischen Teil des Landesvorstandes unterstützt. Die Konservativen in der Fraktion präsentierten als Gegenkandidaten den ziemlich unbekannten Darmstädter Abgeordneten Georg Schäfer und den bisherigen Sozialminister Hemsath.

Dem Konflikt entzog sich Osswald schließlich durch einen Trick. Der neue Landes-Chef schlug seiner Fraktion eine Serie von Geheim-Abstimmungen über seine Ministerliste vor. Die Stimmzettel zählte der Ministerpräsident eigenhändig aus. Prüfung oder Nachkontrolle lehnte er ab. Radke, so teilte Osswald den Abgeordneten nach seiner Zählung mit, habe als einziger nicht genügend Stimmen bekommen.

Doch der Streit um Radke ging weiter, bis der Kandidat selbst nach fast elfstündiger Debatte resignierte. Osswald konnte nun seinen Überraschungskandidaten für das Sozialministerium präsentieren: den Offenbacher Bundestagsabgeordneten Dr. Horst Schmidt, Lungenfacharzt und Pfeifenraucher, in Hessen bekannt geworden durch Bemühungen, den Frankfurter Fluglärm zu dämpfen.

Müde und am Ende dann doch diszipliniert billigten Fraktion und Landesvorstand schließlich Osswalds letzte Ministerliste mit großer Mehrheit.

Verlierer Olaf Radke tröstete sich mit Sympathie-Bekundungen von Genossen. Am meisten ermunterte ihn ein telegraphisch übermitteltes Voltaire-Wort: »Man muß stolz darauf sein, wenn einen die Dummen nicht wählen.«

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