»Selbstkritik ist fast total verpönt«
Die SED-Führung glaubt neuerdings den Stein des Weisen gefunden zu haben, um die DDR aus der Krise herauszuführen. Interne Schwierigkeiten sollen mit dem gleichen Mittel überwunden werden wie die in der Partei umgehenden Oppositionsstimmungen: durch Geschichtsstudium.
Dazu erläuterte Erich Honecker vor den Kreissekretären der mit zwei Millionen Mitgliedern größten deutschen Partei: »Das Studium der »Geschichte der SED« wird ohne Zweifel dazu beitragen, die Einheit und Geschlossenheit der Partei weiter zu testigen ... und die Kampfkraft der Parteiorganisationen zu erhöhen ... sowohl die gegenwärtigen als auch die langfristigen Aufgaben ... besser zu verstehen und zu meistern.«
Das Buch, das Wunder vollbringen soll, liegt jetzt vor und soll bis Herbst eine Auflage von 600 000 erreichen*. Dies sei »ein wichtiges Ereignis« und ermögliche es, auch der jungen Generation »das Wachsen und den ... Kampf unserer Partei so interessant und packend zu vermitteln, wie sie tatsächlich gewesen sind« (Honecker).
Die »Geschichte der SED«, als »Abriß« bezeichnet, ist jedoch alles andere als interessant oder gar packend geschrieben. Das langatmige Werk ist im Stil der üblichen Parteiresolutionen abgefaßt. Es läßt weniger die Arbeit der 16 teilweise namhaften SED-Historiker verspüren, die (laut Impressum) den Band »vorbereitet« haben, als vielmehr die Handschrift jener zehnköpfigen Politbüro-Kommission unter Vorsitz Honeckers, die den Band »bestätigte«. Wer das Werk nun eigentlich schrieb, bleibt offen**.
Es ist das erstemal, daß die vor 32 Jahren gegründete SED ihre eigene Geschichte umfassend darstellt. Allerdings ist Honeckers »Abriß«, gemessen an dem bereits unter Ulbricht zum 20. Gründungstag 1966 in der achtbändigen »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« erschienenen Über-
* »Geschichte der SED. Abriß« Dietz Verlag, Berlin (Ost); 677 Seiten; 9.80 Mark. Lizenzausgabe für die Bundesrepublik und West-Berlin: Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/Main; 9,80 Mark. ** Buchimpressum: »Der Abriß wurde durch eine Kommission des Politbüros des ZK der SED bestätigt, der angehörten: Erich Honecker (Vorsitzender), Hermann Axen, Friedrich Ebert, Gerhard Grüneberg, Kurt Hager, Werner Jarowinsky, Werner Lamberz, Günter Mittag, Albert Norden, Paul Verner. Die Kapitel wurden von einem beim Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED gebildeten Autorenkollektiv vorbereitet: Ernst Diehl, Gerhard Rolßmann (Leiter), Wolfgang Arlt, Günter Benser, Helene Fiedler, Heine Gambke, Heinz Heitzer, Frank-Joachim Herrmann, Helga Kanzig, Hans-Joachim Krusch, Günter Möschner, Wilfriede Otto, Karl Reißig, Rolf Stöckigt, Eckhard Trümpler, Walter Wimmer.«
blick zur Geschichte der SED (SPIEGEL 31/1966), recht schlicht geraten.
Schon äußerlich trägt die neue Untersuchung das spartanische Signum des Generalsekretärs; gegenüber Ulbrichts Darstellung, die gefällig mit Bildern, Dokumenten und Registern ausgestattet war, ist Honeckers Band eine Bleiwüste. Auch inhaltlich fällt das neue Werk in vielen Passagen hinter den Fortschritt der DDR-Geschichtswissenschaft zurück, den seinerzeit Ulbrichts Geschichte signalisiert hatte.
Unverändert blieb freilich die Grundkonzeption, die sogenannte Parteilichkeit. Die Geschichtswissenschaft der DDR hat sich den Anforderungen der SED-Führung unterzuordnen. Kurskorrekturen führten und führen daher zu Veränderungen des Geschichtsbildes. Da die Historie immer nach der gerade gültigen Parteilinie zurechtgebogen Werden muß, zeigt ein bekanntes Bonmot Realität an: In einem kommunistischen Staat ist nichts so schwer vorherzusagen wie die Darstellung der eigenen Geschichte.
So gibt der »Abriß« an vielen Stellen weniger ein Bild der Geschichte, er ist vielmehr »zurückprojizierte Gegenwart«. Die heutige Abgrenzungspolitik stand Pate bei der Beschreibung der nationalen Politik der SED.
Beispielsweise wird das Programm von 1963 vorgestellt, aber verschwiegen, daß die »nationale Einheit« ein Hauptbekenntnis dieses Programms war und darin die »Wiederherstellung der staatlichen Einheit« gefordert wurde. Die damals von der SED angestrebte »Konföderation« beider deutscher Staaten ist nun in eine Forderung nach Frieden und Koexistenz uminterpretiert.
Auch die Darstellung der Parteigründung macht deutlich, wie die aktuelle Sicht das Bild verzerrt. Heute wird die Gründung als »historischer Sieg« des »Marxismus-Leninismus über den Opportunismus« definiert und gleichzeitig an der Legende festgehalten, die SED sei durch den freiwilligen Zusammenschluß der Sozialdemokraten mit den Kommunisten entstanden.
Zwar heißt es im »Abriß«, die Besatzungsmacht habe »durch Methoden der Korruption, Irreführung und Unterdrückung und durch vielfältige andere Formen der Einflußnahme« gewirkt, doch damit ist nicht die Sowjet-Union gemeint -- die tatsächlich auf diese Weise die SED-Gründung förderte
gemeint sind vielmehr die Westmächte, die angeblich die Bildung der SED in ihren Zonen verhinderten.
Unterschlagen wird ferner, daß sich die SED nach ihrer Gründung ausdrücklich als »unabhängige deutsche Partei« bezeichnete. Ideologische Grundlage war damals eine Distanzierung vom sowjetischen Modell: Anton Ackermanns These vom »deutschen Weg zum Sozialismus«. Absurderweise taucht dieser Begriff im »Abriß« bei der Beschreibung der SED 1946/47 überhaupt nicht auf, er wird erst 60 Seiten später erwähnt, bei der Darstellung der »Partei neuen Typus«.
Die Umwandlung der SED in eine solche »Partei neuen Typus« bedeutete die Anpassung an das sowjetische Vor
* Beim Vereinigungsparteitag von SPD und KPD 1946 in Berlin.
bild, es war die Umformung in eine stalinistische Partei.
Doch von Stalin ist kaum die Rede; die SED versucht die Phase von 1949 bis 1953, in der sie auf Stalin orientiert war, vergessen zu machen. Bei der Beschreibung des Statuts von 1950 wird der entscheidende Satz verschwiegen, die SED lasse sich in ihrer »gesamten Tätigkeit von der Theorie von Marx, Engels, Lenin, Stalin leiten«.
Unterschlagen wird auch, daß damals die Parteimitglieder Kurse zum Studium der Biographie Stalins besuchen mußten, statt dessen wird diese Schulung heute »leninistisch« genannt.
Im »Abriß« fehlen die Lobhudeleien und Bekenntnisse der SED gegenüber Stalin (das ZK beim Tode Stalins: »Die SED wird der siegreichen Lehre J. W. Stalins stets die Treue wahren!") ebenso wie die spätere scharfe Kritik (in Ulbrichts Geschichte von 1966 war von den »Massenrepressalien« Stalins die Rede); nur noch ganz versteckt wird vom »Personenkult« gesprochen -- doch lediglich im Hinblick auf die UdSSR.
Selbstkritik ist in der neuen SED-Geschichte offenbar fast total verpönt. Nur an wenigen Stellen werden Fehler genannt. Maßnahmen Ulbrichts in der Wirtschaftspolitik werden kritisiert, um die Ära Honecker noch strahlender hervorhehen zu können.
Aufgabe der »Geschichte der SED« ist es, die These zu untermauern: »Die Partei hat immer recht.« Die SED-Funktionäre sollen selbstbewußter und offensiver auftreten, weil ihre Partei »in der Bewegungsrichtung der Weltgeschichte« geht (so das DDR-Organ »Horizont") und daher jeder Anhänger zu den Siegern der Geschichte zählt.
Nicht von ungefähr wimmelt es daher im »Abriß« von Begriffen wie »Gesetzmäßigkeiten« und »Notwendigkeiten«, denen die SED immer entsprochen habe. Auch wird eine merkwürdige »Dialektik« angewandt: 1966 hieß es in Ulbrichts Geschichte, daß 1951 bei den Parteisäuberungen 7,3 Prozent der Mitglieder aus der SED ausgeschlossen wurden. Der »Abriß« dreht es um: Danaeh »erhielten 92,7 Prozent ... die neuen Parteidokumente überreicht«.
Die Politik der KPD vor 1933, von Ulbricht 1966 wenigstens partiell selbstkritisch beleuchtet, wird im »Abriß« wieder voll gerechtfertigt. Die verheerende These der KPD. die als Sozialfaschisten beschimpften Sozialdemokraten seien der Hauptfeind, wird unterschlagen. Für die Niederlage beim Kampf gegen Hitler wird die SPD verantwortlich gemacht. Überhaupt sind Angriffe gegen die »rechten Sozialdemokraten« ein Hauptanliegen.
Die »Geschichte der SED« ist keine wissenschaftliche Auseinandersetzung der Partei mit ihrer Vergangenheit, sondern ein Werk, das angeschlagenes Selbstbewußtsein wieder aufrichten soll. Das Buch ist daher nicht mit wissenschaftlichen, sondern mit politischen Kriterien zu messen. So bleibt auch zu hoffen, daß es keinen Rückschlag der DDR-Geschichtswissenschaft signalisiert, sondern die Entstellungen nur ideologische Funktionen haben.
Der »Abriß« ignoriert neue Forschungsergebnisse und ist eigentlich keine Parteigeschichte, denn über Organisationsstrukturen, Mitgliederbewegung, soziale Zusammensetzung der Partei ist nur wenig zu finden.
Dafür werden oft merkwürdige Details gebracht, etwa daß 1947 »104 295 Ställe und 38 406 Scheunen« aufgebaut wurden. Offenbar scheint für die Parteigeschichte der Bau von Ställen wichtiger als die inneren Auseinandersetzungen, denn es wird weder auf die Entmachtung der Merker-Gruppe 1950 eingegangen noch auf die Absetzung Franz Dahlems, Ackermanns, Jenderetzkys und Elli Schmidts oder die Verhaftung Fechners 1953. Dafür ist nachzulesen, welche Leistungen die Aktivistin Frida Hockauf vollbrachte.
Unbekanntes enthält der »Abriß« kaum. Neu ist lediglich, daß Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und Fred Oelßner Ende September 1949 in Moskau weilten, wohl um die Gründung der DDR absegnen zu lassen.
Walter Ulbricht, in den letzten Jahren fast aus der Parteigeschichte getilgt. wird wieder genannt. seine Bedeutung für die SED geht aus dem »Abriß« freilich nicht hervor. Chruschtschow ist überhaupt nicht erwähnt, Breschnew um so häufiger.
Bei solcher Art Geschichtsschreibung scheint es selbstverständlich, daß Honecker in ein besonderes Licht gestellt wird: Seine Wahl zum Generalsekretär erfüllte die Arbeiter der DDR mit »Genugtuung und Freude«.