ALBANIEN Selbstmord einer Nation
Beim Abflug rief der kleine Mann seinen Anhängern noch zu: »Ich gehe nach Tirana, um den Präsidenten zu stürzen. Wenn ich wiederkomme, feiern wir unseren Sieg.« Die Menge jubelte, Männer und Halbwüchsige feuerten Freudenschüsse in die Luft, Frauen küßten ihren Helden auf die Wangen.
Bashkim Fino, 34, soeben zum Ministerpräsidenten ernannt, spreizte ein letztes Mal Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen. Dann hob der Hubschrauber vom Militärflughafen in Gjirokastra ab, wo Fino bis zu seiner Absetzung vor einem Jahr Bürgermeister war, und entschwand hinter den schneebedeckten Berggipfeln.
Doch schon nach ersten Begegnungen mit Präsident Sali Berisha wich Finos revolutionäres Fieber jäher Ernüchterung. Der neuerkorene sozialistische Regierungschef Albaniens erkannte, daß er in eine Falle getappt war, daß es für ihn gar nichts zu regieren gab. Die Staatsgewalt war dabei, sich aufzulösen; Albanien versank in Anarchie.
Finos Auftrag zur Bildung einer Übergangsregierung mit Vertretern aus allen politischen Lagern und das Versprechen, Neuwahlen abzuhalten, kamen zu spät, um das Festival der Kalaschnikows im ärmsten Land Europas beenden zu können. Der landesweite Waffenraub folgte längst eigenen Gesetzen - angeheizt durch den Präsidenten wie durch seine Widersacher.
Eine »Verwilderung der ganzen Gesellschaft« konstatierte der Schriftsteller Ismail Kadare. Es war, als holte Albanien, mehr als 40 Jahre lang die bizarrste und stalinistischste Diktatur des gesamten Ostblocks, die eigene mörderische Vergangenheit wieder ein: Schon 1942/43 hatte sich das Land in ein kommunistisches und ein nationalistisches Lager gespalten, deren Anhänger einander erbarmungslos bekämpften.
Statt ihre Waffen gegen die Zusage einer Amnestie abzuliefern, besorgten sich Aufständische immer mehr Kriegsgerät, gaben Berisha-Gefolgsleute auch noch die letzten Depots auf. Aus dem Beraterkreis des Sozialisten Fino verlautete, der Präsident habe seinen neuen Premier bei einem Vieraugengespräch angeherrscht: »Ihr Roten habt zum Bürgerkrieg aufgerufen, jetzt sollt ihr ihn auch haben.«
In einem Anfall von Jähzorn habe Berisha seiner Verbitterung freien Lauf gelassen: Wenn er schon untergehe, solle auch das Land in Schutt und Asche fallen.
In der Hauptstadt wollten manche wissen, der Präsident sei untergetaucht, er wolle sich in die Türkei absetzen, oder er befinde sich auf einer Jacht in der Adria; von dort gebe er über Funk Anweisungen an seine getreue Leibgarde, die Revolte weiter zu schüren. Gerüchten zufolge hatte Berisha vergebens versucht, Zuflucht in der US-Botschaft zu finden.
Panik, Verzweiflung und eine mörderische Wut schienen ganz Albanien im Griff zu halten. In das Vakuum, das der Zusammenbruch des Kommunismus hinterlassen hatte, schlich sich, so der Literat Kadare, ein »vollständiger Amoralismus« ein. Mindestens hundert Menschen kamen bis Ende vergangener Woche ums Leben.
Während gegen Ende letzter Woche erstmals auch tagsüber Gewehrsalven durch die Straßen Tiranas peitschten, sorgten die 300 000 Bewohner der Hauptstadt für die drohende Katastrophe vor. Die meisten Geschäfte blieben geschlossen, überall gingen die Rolläden herunter. Nur Bäckereien öffneten für wenige Stunden. Aus staatlichen Vorratslagern schleppten Frauen Kartoffel- und Mehlsäcke nach Hause. Kinder und Jugendliche streunten durch die Straßen und plünderten, was noch zu haben war - als Notreserve für die befürchteten Tage eines Bürgerkriegs.
Die Armee ließ nur noch im Regierungsviertel Posten aufziehen, Polizei war nicht zu sehen, die Staatsmacht schien sich in der Hauptstadt verflüchtigt zu haben - ein Volk stand vor dem kollektiven Selbstmord, wie Kadare klagte. Richtung Süden wälzte sich ein dichter Strom von Flüchtlingen, auf Karren und Eseln. »Tirana, das Saigon Europas«, entsetzte sich der italienische corriere della sera in Erwartung eines Ansturms übers Meer.
Von Süden nach Norden war Stadt um Stadt in die Hände von »Rebellen« gefallen, die eigentlich eher Banditen als Befreiungskämpfer waren. Am Beginn des Aufruhrs stand auch in Tirana der Sturm auf Kasernen und Waffendepots; dann raubte der Mob alles, was er ausfindig machen konnte. Nirgendwo trafen die Kalaschnikow-Gangs auf Gegenwehr der Armee oder der Polizei.
»Es gibt keinen Staat mehr in Albanien«, bekannte Finos Beraterin Arta Dade im lokalen Rundfunk, »alle fürchten sich vor der Gesetzlosigkeit, vor einer Situation, in der jeder bewaffnet ist, in der jeder von jedem grundlos überfallen, niedergeschlagen oder erschossen werden kann«.
Eine solche Auflösung aller Strukturen und aller Skrupel schien bisher nur in den verkommensten Ländern der Dritten Welt vorstellbar, etwa in Zaire, dem finsteren Herzen Afrikas, nicht aber in Europa, bei einem Volk, das zwar rückständig und isoliert gelebt, aber nie Aggressionen gegen seine Nachbarn gezeigt hatte.
Dennoch ist die albanische Rebellion keineswegs der Aufstand eines drangsalierten Volkes gegen ein unterdrückerisches Regime. In den Unruhen mischen unbelehrbare Kommunisten, schlechtbezahlte, um frühere Privilegien gebrachte Geheimpolizisten und Mafiosi aller Art mit, die eine unheilige Allianz eingegangen sind.
Die südliche Hafenstadt Vlora, in der die Explosion ihren Anfang nahm, gilt als Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Ereignisse. Nach dem Abgang des alten Regimes 1992 bemächtigte sich eine fieberhafte Gier nach schnellem Reichtum der Stadt; die besten Verdienstmöglichkeiten hatten Schmuggler, die Waren, Waffen und Flüchtlinge nach Serbien, Griechenland und Italien schleusten. In das lukrative Geschäft stiegen viele Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter ein.
Vom neuen Regime in Tirana erwarteten die Profiteure völlige Passivität; jeder Versuch, staatliche Autorität durchzusetzen, wurde als Rückkehr zum Kommunismus geschmäht. Die Menschen begriffen die neue demokratische Ordnung als Gelegenheit zur Bereicherung um jeden Preis - auch mit Verbrechen und Korruption.
Berishas Regierung und die Demokratische Partei schauten dem Treiben lange zu, sie ermutigten es sogar. In der allgemeinen Permissivität konnten auch die betrügerischen Pyramidensysteme wuchern, die Kapital gegen hohe Zinsen anlockten. Politiker, die den Betrug durchschauten, verdienten eifrig mit.
Erst im vergangenen Herbst versuchte Berisha, unter Druck gesetzt von Griechenland und Italien, der Mafia in Vlora das Handwerk zu legen. Schnellboote der Schmuggler wurden beschlagnahmt, die Unzufriedenheit wuchs - bis der Zusammenbruch der dubiosen Bankinstitute zu einer Eruption des Volkszorns führte. Mafiosi, zwielichtige Schieber und Bankrotteure konnten sich plötzlich als Vollstrecker des demokratischen Willens aufspielen.
In einem psychotischen Klima, wo jeder jeden verdächtigte, war es leicht, die Verunsicherung immer weiter zu schüren. Da hieß es in Tirana, der gefürchtete Geheimdienst Shik, jener unsichtbare Feind, habe das Trinkwasser in einem Stadtbezirk vergiftet. Ein andermal wurden Berisha-Agenten beschuldigt, Feuer in einer Bäckerei oder in einem Elektrizitätswerk gelegt zu haben.
Um sich gegen vermeintliche Spitzel und Provokateure zu wehren, griff das Volk auch zur Selbstjustiz: Verdächtige wurden ergriffen, mißhandelt und erschossen.
In der allgemeinen Konfusion öffneten sich selbst die Gefängnistore: Aus der Haftanstalt im Zentrum der Hauptstadt brachen alle 600 Insassen aus, neben Gewaltverbrechern so prominente politische Gefangene wie der letzte kommunistische Staatspräsident Ramiz Alia und der Parteivorsitzende der Sozialisten, Fatos Nano.
Albanien taumelte auf den Abgrund zu: Jede Familie wollte bewaffnet sein, 100 000 Kalaschnikows, über 80 Panzer, 30 Kampfflugzeuge und die halbe Kriegsflotte befanden sich nach Schätzungen westlicher Diplomaten in den Händen unkontrollierbarer Banden. Und deren Anführer scherten sich nicht mehr um politische Veränderungen, ihnen ging es allein um den Verkauf ihrer heißen Ware.
In dieser ausweglosen Situation wandten sich Berisha und Fino an die Westeuropäische Union und die Nato mit der Bitte, schnellstens Friedenstruppen zu entsenden, »um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen und die Integrität Albaniens zu bewahren«.
Doch die Europäer wehrten ab, zu unübersichtlich schien ihnen die Lage. Niemand wollte sich mit einer Intervention den Anschein geben, Partei in diesem Konflikt zu ergreifen, in dem es keine Fronten mehr gab. »Ich lehne einen militärischen Einsatz ab«, so Bonns Verteidigungsminister Volker Rühe kategorisch: »Was sollen wir den Soldaten denn sagen?«
Deutsche, Amerikaner wie Italiener beschränkten sich auf Evakuierungen. Obwohl ein US-Helikopter am Freitag nachmittag mit einer SA-7-Rakete beschossen wurde und die USA alle Rettungsflüge stoppten, landeten fünf CH-53-Transporthubschrauber der Bundeswehr nahe der deutschen Botschaft in Tirana. 25 Grenadiere sicherten die Aktion.
Unter Beschuß verzweifelter Albaner, die sich einen Platz erzwingen wollten, luden die Hubschrauber 20 Bundesbürger und 100 Ausländer auf. 3 Albanern gelang es in dem Durcheinander, an Bord zu klettern und nach Deutschland mitgenommen zu werden - wo sie vorerst auch bleiben dürfen.
Am Vormittag hatten Rühe und Außenminister Klaus Kinkel die Experten von Koalition und Opposition - streng vertraulich - über »Optionen« zur Rettung der Deutschen aus Tirana informiert. Da war noch nichts entschieden. Aber selbst die Grünen bedeuteten, sie würden den Einsatz nicht kritisieren. Erst nach Rücksprache mit Kanzler Kohl gab Rühe den Einsatzbefehl. Diese Woche soll der Bundestag die Aktion ("Nothilfe« laut Kinkel) nachträglich gutheißen.
Aber ein politisches Konzept zur Befriedung des Landes hatte der Westen nicht. »Gequält und ausgesaugt bis aufs Blut nach einem halben Jahrhundert der Diktatur, verdient das albanische Volk nicht das grausame Schicksal, völlig alleingelassen zu werden«, appellierte der Schriftsteller Kadare an das Gewissen der Europäer. »Warum nicht eine militärische Präsenz, die den Auftrag hätte, nicht zu unterdrücken, sondern dazwischenzugehen, ein Puffer, der so lange vor Ort bleiben müßte, bis die Geister sich wieder beruhigt haben?«
Auch der frühere österreichische Kanzler Franz Vranitzky, der sich als OSZE-Vermittler auf einem italienischen Kriegsschiff mit Vertretern der Übergangsregierung und der Rebellen traf, sah »keine Alternative zu einer Intervention von außen«. Doch er versprach Ministerpräsident Fino lediglich, sich um eine »Koalition der Willigen« zu bemühen. Nur, woher sollten die kommen?