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VATIKAN Seliger Teufel

Der Kapuziner-Pater Pio, einst als Betrüger verfemt, wird vom Papst seliggesprochen. Rom erwartet eine Million Fans.
aus DER SPIEGEL 17/1999

Der bischöfliche Gast aus Polen bat um Fürsprache an oberster Stelle. Wanda Poltawska, Psychiaterin in seiner Krakauer Diözese und alte Freundin aus Studienzeiten, leide an einem unheilbaren Tumor. Ob der verehrte Pater für sie nicht einmal beten könne? Padre Pio aus dem süditalienischen Städtchen San Giovanni Rotondo konnte. Elf Tage später war die Frau geheilt. Ein Wunder, sagten viele.

Eine weitere Probe seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten gab der Mönch aus Apulien dem Besucher mit auf den Weg: »Du wirst Papst!« sagte er Karol Wojtyla voraus. 16 Jahre später, 1978, erfüllte sich auch dieses Wunder: Der Pole wurde Papst Johannes Paul II.

Das Oberhaupt der katholischen Kirche hat diese Episode zwar nie bestätigt, doch immer wieder versichert, der Kapuzinermönch könne Wunder vollbringen. Und so wird der 1968 verstorbene Pater Pio am kommenden Sonntag von diesem polnischen Papst seliggesprochen.

Der italienischen Hauptstadt droht darob, so Bürgermeister Francesco Rutelli, »das Chaos«. Alles in allem könnten bis zu eine Million Besucher kommen. Da ist kein Platz mehr für die Römer. Sie sollen raus aufs Land, fordert der Bürgermeister, für ein »langes Frühlingswochenende«. Die Schulen bleiben Montag zu, so wie viele Büros und Betriebe.

15 Millionen Anhänger soll Wunder-Pater Pio weltweit haben. Die meisten in Italien. Aber viele auch in Irland, in Nordeuropa, Frankreich, der Schweiz und in Übersee.

Dort, wo der Mönch gelebt hat, in San Giovanni Rotondo, einem kleinen Ort am Sporn des italienischen Stiefels, schieben sich täglich 20 000 Besucher durch die engen Gassen und am Pio-Grab vorbei. Mit T-Shirts und Gips-Pios, Postern und erleuchtetem Glockengeläut werden Millionen umgesetzt. Im Bau ist eine der größten Kirchen der Welt, mit 10 000 Sitz- und 25 000 Stehplätzen. Der weltberühmte französische Wallfahrtsort Lourdes ist längst überflügelt. Pio wird der wohl populärste Selige der Christenheit.

Anfangs sah das ganz anders aus. Als sich im September 1918 an den Händen, Füßen und an der rechten Seite des Körpers eines bis dahin unbekannten 31jährigen Kapuzinerpaters blutende Wundmale bildeten, zog sein Orden ihn erst einmal aus dem Verkehr und ließ ihn gründlich untersuchen. Die Ärzte waren ratlos. Die Stigmata seien medizinisch nicht zu erklären.

Die Kirche sah in Francesco Forgione, der im Kloster den Namen Pio erhalten hatte, »einen vom Teufel besessenen Betrüger«. Es wurde ihm verboten, öffentlich die Messe zu lesen. Von Briefkontakten oder gar Besuchen wurde allen rechtgläubigen Christenmenschen dringend abgeraten.

Doch immer mehr Anhänger wallfahrten zum Pater mit den blutenden Wundmalen. Er könne die Zukunft voraussehen, hieß es, Kranke heilen, Todgeweihte retten.

1933 gab der Vatikan nach - und der Boom begann: Spenden flossen in Strömen. Pio, vom Armutsgelübde durch Papstdekret befreit, baute ein »Haus zur Linderung von Leid« und erregte den Neid seiner Kapuzineroberen.

Die installierten Wanzen in der Zelle und im Beichtstuhl, schickten insgesamt 32 Tonbänder mit Pio-Worten nach Rom. Auch ein investigativer Gesandter von Papst Johannes XXIII. berichtete Unerhörtes: von »frommen Töchtern« in den ersten Kirchenreihen, die sich um ein Kissen balgten, auf dem zuvor Pater Pio gekniet hatte, oder um einen Fetzen von des Kirchenmanns Kutte. Lappen, die angeblich auf den Wunden des Stigmatisierten gelegen hatten - tatsächlich mit Hühnerblut präpariert -, würden an Gläubige verkauft.

Erneut wurde der Wunder-Mann für etliche Jahre aus dem Verkehr gezogen, bis ihn 1964 sein alter Gönner, Mailands Erzbischof Montini, befreite. Der war gerade Papst geworden: Paul VI.

Seitdem ging es für Pio nur noch bergauf. Film- und Fernsehstars scharten sich um ihn, Fußballer, Politiker bis hin zum christdemokratischen Regierungschef Italiens, Giulio Andreotti. Aber vor allem blieb Pio Schutzpatron der kleinen Leute, der Barkeeper und Marktfrauen, Friseure und Handwerker.

Auch nach seinem Tod, 1968, war es mit den guten Werken keineswegs vorbei. Mit der Tschechin Mary Galvan sprach er noch »alle Tage«, wie diese öffentlich bekannte. Den unheilbar erkrankten Francesco Cetola heilte er - in fünf Sitzungen - 1983. Auch die wundersame Gesundung des TV-Moderators Alberto Castagna ging irgendwie auf Pios Konto.

Lange konnte es mithin nicht dauern, bis der Wundertäter in den Seligen-Stand erhoben würde - Voraussetzung für eine spätere Karriere als Heiliger. Zumal bei diesem Papst: 819 Selige hat Johannes Paul II. in seiner Dienstzeit gekürt, soviel wie alle Päpste vor ihm zusammen. Dazu kommen 276 Heiligsprechungen.

Für den Kirchenstaat ist das Pio-Festival ein Probelauf für das nächste, für das Heilige Jahr 2000. Dann soll es vor Seligen und Heiligen nur so wimmeln.

»In pole position«, bemühte die italienische Zeitung »la Repubblica« die Sprache des Auto-Rennsports, liegen die großen Päpste des Jahrhunderts: Johannes XXIII., Paul VI., Pius XII. Knapp dahinter Politiker wie Alcide De Gasperi, oder karitativ tätige Mitmenschen wie Mutter Teresa aus Kalkutta.

Im dichten Hauptfeld finden sich schließlich die unterschiedlichsten Charaktere, über die Johannes Paul II. bislang nur eines preisgibt: »Sie haben Christus getroffen und den Sinn des Lebens entdeckt.« HANS-JÜRGEN SCHLAMP

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