Jugend Sensible Themen
Die DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker und der verantwortliche Staatssekretär sind nicht mehr im Amt, die Schulinspektorin zeigt sich betroffen, der Direktor der Ost-Berliner »Carl von Ossietzky«-Oberschule empört sich. Ein Jahr nach dem Rausschmiß von sechs Ost-Berliner Schülern schieben sich die Verantwortlichen gegenseitig die Schuld für die Vorgänge zu. Was aber wurde aus ihren Opfern?
Die beiden DDR-Journalisten Klaus Flemming und Dieter Herrmann fanden fünf der gefeuerten Schüler »nicht in der Schule, aber im Lande«. Mit ihrer Hilfe rekonstruierten sie in der Fernsehreportage »Ein Rausschmiß - und nun?« einen »bedrückenden Fall von Machtmißbrauch« - einen von vielen.
Es begann am 12. September vorigen Jahres in der »Speaker's Corner« (SPIEGEL 44/1988). Am Schwarzen Brett ging es um die polnische Gewerkschaft Solidarnosc und den Sinn von Militärparaden in der DDR. Das waren, so die Filmautoren, »damals besonders sensible Themen«. Die Forderung nach einem Verzicht auf die alljährliche Ost-Berliner Militärparade unterschrieben 37 Schüler, bevor Direktor Rainer Forner die Aktion kurzerhand beendete.
Als kurz darauf ein Gedicht aus der Zeitung Volksarmee am Aushang auftauchte, in dem ein Soldat seine Liebe zu einer Kalaschnikow-MPi pries: ("Ich streif mit dir zur Mondesnacht, dein Anblick mich ganz sicher macht"), griff der Machtapparat zu. Vier Schüler wurden relegiert, zwei andere zwangsversetzt.
»Zur Zuspitzung kam es«, so der aus der elften Klasse relegierte Kai Feller, »weil wir das Gedicht mit einer Lehrformel versehen hatten: Ein Gedicht, ,das uns zum Nachdenken angeregt hat'.«
»Schon am nächsten Tag«, so die Jugendlichen, »wurden wir zu Verhören in das Büro des Direktors geholt«, wo sich Parteisekretäre, Lehrer und der Schulleiter versammelt hatten. »Es war eine Situation«, erzählt die aus der elften Klasse relegierte Katja Ihle, »wo man sich völlig in die Enge gedrängt fühlte«; man wollte »Gesinnungen prüfen«.
Die Jugendlichen wurden gefragt, wie sie zur DDR stünden und ob sie nicht ausreisen wollten. »Was sollte man darauf antworten?«, fragen die Schüler heute. »Jedes Wort«, so Kai, »konnte mir im Munde rumgedreht werden, was ja später auch passiert ist.« Und Katja berichtet, sie sei später mit Aussagen aus dem Gesprächsprotokoll konfrontiert worden, die sie so nicht gemacht habe.
Tatsächlich, so die Autoren, hätten Schulinspektoren, FDJ-Vertreter und Direktor bei diesen - laut Schulakte - »vertrauensvollen Gesprächen« versucht, »den ersten Schritt abzusichern": den FDJ-Ausschluß der Jugendlichen. Und der ließ nicht lange auf sich warten.
Schon wenige Tage später kam es zu sogenannten Ausschlußsitzungen in den Klassen. Anwesend waren auch hier wieder Vertreter der FDJ, der Schulinspektion und Direktor Forner, der aus den Gesprächsprotokollen zitierte, ohne daß die Betroffenen sie jemals gesehen hatten. Der Vorwurf: »Antisozialistische Plattformbildung im Blauhemd«. Vor der Abstimmung, so Kai, habe der Schulleiter noch einmal gewarnt: »Sie wollen doch alle ein Abitur machen.« Auf den Einwand einer Mitschülerin, sie wolle erst einmal selbst mit den Betroffenen sprechen, ergänzt Katja, »hat der vom Zentralrat gesagt, wir wollen aber eine schnelle Entscheidung«.
Und die gab es dann auch. Katja und Kai wurden mit nur wenigen Gegenstimmen von ihren Schulkollegen aus der FDJ ausgeschlossen. Anders erging es Benjamin Lindner aus der Zwölften, wo die »nötige Zweidrittelmehrheit« für den Ausschluß nicht zustande kam.
Das Schnellverfahren des Parteiapparates hatte einen Grund. Bereits vor den Versammlungen hatte die ehemalige Volksbildungsministerin Margot Honecker die Ausschluß-Urkunden unterschrieben, auch im FDJ-Zentralrat, so berichtet Kai, »war bekanntgegeben worden, wer von der Schule geflogen ist«.
Dieses Vorgehen bestätigt Jörg Richert vom FDJ-Zentralrat, der sich damals noch bei seinen Genossen für die Schüler einsetzte. Richert heute resigniert: »Es ging nur darum, einen Vorlauf« für die Relegationen zu schaffen.
Und das gelang dem Staatsapparat ohne große Widerstände. Katjas Lehrerin, Petra Lange, resümiert die Treffen mit den Schulinspektoren: »Mir wurde erst im nachhinein klar, daß diese Gespräche nur benutzt wurden, um Material zu haben, das man gegen die Schüler ins Feld führen konnte.« Gewundert habe sie sich allerdings darüber, daß unter Führung einer Frau Dr. Heidamke die Gespräche »fast in Verhöre ausarteten, so daß Katja in Tränen ausbrach«.
Die Inspektorin verlangte von der Lehrerin, »daß du heute abend die Schüler dazu bringst, daß sie den FDJ-Ausschluß beschließen«. Als die Pädagogin sich weigerte, habe die Inspektorin gedroht: »Ich warne dich.«
Am 30. September 1988 wurde eine Schülervollversammlung einberufen. Wie zum Appell üblich, mußten sich die Schüler hufeisenförmig aufstellen. Der Direktor trat in die Mitte und, so Kai, »verlas die Anklageschrift: Angriffe gegen die sozialistische Gesetzlichkeit, staatsfeindliche Aktivitäten, antisozialistisches Verhalten«. Jeder einzelne, so berichten die Schüler, habe mit gesenktem Haupt vortreten müssen und wurde aus der Aula gewiesen - »durch den Ausgang, raus auf die Straße«.
Die Lehrerin Lange berichtet ein Jahr danach, sie sei nach dem Appell in eine zwölfte Klasse gegangen. »Dann heulte ich, und dann weinte ein Teil der Schüler.«
Ihr Kollege Manfred Will rückblickend: »Wir gingen wie gelähmt in unsere Klassen. Aber die Ordnung war wiederhergestellt, es war gewissermaßen ein himmlischer Friede.« Ein »pädagogischer Vandalismus«, aber, so der Pädagoge, »da oben sitzen Leute, die durchpeitschen, was von ihnen verlangt wird, oft kritiklos und bedenkenlos, und wir sind alle von ihnen abhängig«.
Hilflosigkeit auch beim immer noch amtierenden Schuldirektor Forner. Auf die Frage, ob das Geschehen hätte verhindert werden können, antwortet er: »Es hätte vielleicht passieren können, daß man den Direktor der Schule abberuft, es hätte passieren können, daß ich von selbst meine Funktion niederlege.« Erst als dritte Alternative erwägt Forner: »Ich hätte auch versuchen können, die Schule in den Kampf zu führen«, aber: »Ein Direktor allein gegen das Ministerium für Volksbildung?«
Auch die Stadtschulrätin hält an alten Positionen fest. Erst Anfang dieses Monats erklärte sie: »Es war damals die einzige Möglichkeit, den normalen Schulablauf zu gewährleisten.« Das jedoch mochte Forner nicht auf sich sitzen lassen und konterte: »Entgegen dem Vorhaben der Schule, wurden wir am 20. September 1988 angewiesen, die Situation zuzuspitzen und Entscheidungen zu beschleunigen.« Schulinspektorin Heidamke weist die Kritik von sich: Der Appell sei nicht von ihr veranlaßt worden.
Die Täter sehen sich als Opfer, die Schuldfrage bleibt offen. Konsequenzen aus dem unmenschlichen Verhalten zog allein der beteiligte Staatssekretär im Volksbildungsministerium, Werner Lorenz. Er stellte sein Amt zur Verfügung. Und der amtierende Volksbildungsminister Günther Fuchs teilte mit: »Die Schüler werden rehabilitiert und können ab sofort ihre Ausbildung fortsetzen.«
Mit schönen Worten aber, das machten die betroffenen Schüler in Gesprächen mit den Journalisten jetzt deutlich, sei es nicht getan. Sie wollen rehabilitiert werden, aber, wie Georgie von Chamier sagt, nicht so, »daß es irgendwann mal in der Zeitung steht«. Es gehe auch nicht um Wiedergutmachung. Katja Ihle: »Was wir in einem Jahr an Krisen durchgemacht haben«, könne gar nicht wiedergutgemacht werden. »Im Prinzip sind da ja wirklich Welten zusammengestürzt«. f