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»Sex wie Essen genießen«

Promiskuität und Homosexualität, Sado-Masochismus und Inzest sind in Japan nicht tabu. Erst US-Puritanismus erzwang scharfe Gesetze gegen die Darstellung von Sexuellem. Der Regisseur Oshima hat deshalb für das »Reich der Sinne« eventuell eine relativ höhere Strafe zu erwarten als seine Hauptperson Sada für ihre Tat.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Als Sada Abe, 31, am frühen Morgen das Gasthaus in Tokio verließ, bat sie die Dienstmädchen, ihren Freund Kichjzo Ishida in seinem Zimmer nicht zu stören -- er sei übermüdet. Ein fast einwöchiges love-in hatte, blieb es auch unausgesprochen, wohl seinen Tribut gefordert.

Sadas Bitte zögerte die Entdeckung eines der grausamsten Morde der neueren japanischen Kriminalgeschichte nur um einige Stunden hinaus. Dann wurde Kichizo, 43, gefunden: ausgestreckt auf der Matratze, erwürgt, Penis und Hoden mit einem Küchenmesser abgetrennt. Auf seinem linken Arm war der Schriftzug »Sada« eingeschnitten. Auf seinem linken Oberschenkel stand in Blut geschrieben »sada kichi futari«, Sada und Kichizo, nur wir zwei.

Vier Tage lang irrte Sada durch Tokios Straßen, fast euphorisch, wie Zeugen später aussagten, das ihr Liebste am Busen tragend: Vor wachsamen Polizistenaugen holte sie aus ihrem Kimono säuberlich eingewickelt die Geschlechtsteile ihres toten Geliebten hervor.

Sada Abe wurde des Mordes angeklagt -- sie nahm"s gelassen auf; sie wurde der Leichenverstümmelung angeklagt -- und zeigte keine Regung. Doch der dritte Anklagepunkt, sexuelle Perversion, brachte sie in Harnisch: Das sei absurd; sie habe nur getan, was ihre Liebe ihr zu tun befohlen habe.

Der Prozeß in Tokio war kurz, und kurz war Sadas Strafe: sechs Jahre Gefängnis; denn strafverschärfende Per-Version vermochte nicht einmal das prüde Gericht auszumachen.

40 Jahre nach dem blutig-schaurigen Ende dieser Marathon-Umarmung zweier auf den Tod hin Liebender wagte sich ein japanischer Künstler daran, die Sexualgeschichte aufzuarbeiten: Nagisa Oshima, 46, Regisseur vor allem und auch Literat, hat die Sada-Saga zu einem Buch verarbeitet, »Ai no corida« (Die Corrida der Liebe) und nach dem Buch einen Film gedreht, der unter dem deutschen Titel »Reich der Sinne« derzeit Schlagzeilen und Kasse macht, nachdem der Bundesgerichtshof ihn freigab (SPIEGEL 7/1978).

In Japan darf der Film nur in verstümmelter Fassung vorgeführt werden -- ein blicktrübender Grauschleier ist selbst über die wenigen verbliebenen Bettszenen gelegt. Aber das Buch, unbebildert, das schon über 40 000 Käufer fand, brachte den Autor in Tokio vor Gericht: Seit Dezember vergangenen Jahres muß Oshima sich wegen Verbreitung von Pornographie verantworten. Als Strafe drohen ihm bis zu zwei Jahren Haft.

Die realistische, keineswegs aufreizende Beschreibung einer sexuell bestimmten Straftat und ihrer Vorgeschichte könnte relativ härter bestraft werden als die Tat selbst.

Die Absurdität enthüllt einen Widerspruch in der japanischen Einstellung zum Sex, einen Bruch, der seine Methode und seine Geschichte hat.

Denn Sexualität in jeder nur vorstellbaren Form, unbelastet von Tabus oder moralischen Bedenken, hat sich seit jeher in Japan größerer Freiheit erfreut als in fast allen anderen Ländern. Weder Promiskuität noch Homosexualität, weder Sado-Masochismus noch inzestuöse Bindungen waren verpönt. Anders als im Abendland und im Orient war und ist Sexualität in Japan, so der Japanologe und ehemalige amerikanische Tokio-Botschafter Edwin Reischauer, »ein natürliches Phänomen, wie Essen, das man genießen soll«.

Gleichzeitig aber haben die Japaner ein viel stärkeres Bewußtsein als etwa Europäer für die Notwendigkeit, die Wünsche des einzelnen dem sozialen Umfeld, der Gemeinschaft unterzuordnen. Und dieses Umfeld wurde, seit gut hundert Jahren, weitgehend vom Kontakt mit dem Ausland geprägt, oberflächlich zumindest.

Viktorianische Prüderie und amerikanisch-verklemmter Puritanismus veranlaßten die Japaner, sich Gesetze zu geben, deren größte Wirkung es war, daß sie »den schmutzigen Gedanken in die japanische Ethik aufnahmen« (so der US-Schriftsteller Bernard Rudolfsky). Und das, weil sie meinen, sonst nicht als modernes Land in den Augen der Welt bestehen zu können.

Der Zwiespalt zwischen der eigenen Tradition, die in körperlicher Vereinigung höchste Kunst sah, und ihrer hausgemachten Negation ist in Japan heute allgegenwärtig:

In Tokio ließ die Polizei, gestützt auf den Pornographie-Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches, vor drei Monaten ein Geschäft »für Erwachsenen-Spielzeug« schließen, einen harmlosen Sex-Shop europäischer Art.

Im Badeort Shimoda aber findet sich, mit staatlicher Unterstützung, in einem Tempel ein Museum, das der Okichisan, der japanischen Geliebten des ersten US-Konsuls Townsend Harris, geweiht ist. Hier staunt der Besucher über die hundertfache Vielfalt exquisiter bis grobschlächtiger Liebes-Apparate -- Tandem-Dildos sind noch harmloses Werkzeug.

Prostitution ist seit 20 Jahren verboten. Die Polizei in Kobe kaufte sich vergangenes Jahr gar für 2,5 Millionen Yen (24 000 Mark) eine Infrarot-Kamera, um gesetzesbrecherische Liebesdamen nachts ohne Blitz ablichten zu können.

Doch wer etwa den Schutzmann in Shin-Yoshiwara, der ehemaligen Bordell-Stadt Tokios, nach dem Weg zu einem bestimmten »toruko« ("Türkisches Bad") oder »rabu hoteru« ("Love-Hotel") fragt, erhält bereitwillig Auskunft -- samt kostenloser Sondertips.

»Eine Zensur findet nicht statt«, dekretiert die japanische Verfassung von 1947. Und in der Tat: Was alles an sado-erotischen Comicstrips unbeanstandet publiziert wird, was an magenumdrehenden brutalen Sex-Filmen die Filmstudios verläßt, ließe wohl noch so manchen permissiven europäischen Staatsanwalt in Aktion treten.

Da wälzt sich minutenlang -- in einem Film von Wakamatsu -- eine Schar wimmernder nackter Mädchen in ihrem Blut: Der impotente Held des Lichtspiels hatte ihnen -- in Großaufnahme -- mit einer Pistole nacheinander dahin geschossen, wo er sonst nichts zu vermelden hat.

Dagegen der Zwang des Alleinimporteure westlicher Zeitschriften für ganz Japan: Er beschäftigt ständig Hausfrauen und Studenten, die mit schwarzen Filzstiften Anstößiges aus ausländischen Publikationen tilgen müssen; Selbst harmlos-appetitliche Playmates fallen dem Radikalstift zum Opfer. Alleiniges Kriterium für die Anstößigkeit: jedwedes Schamhaar.

Aber vor wenigen Wochen sprach Japans Oberster Gerichtshof in der Berufung Pornohändler aus Osaka frei, da ihr explizites Photomaterial, mehrere tausend Negative, »für den Export in die USA bestimmt gewesen« sei; beim Export können Nippons Gesetze natürlich nicht greifen.

Seit einigen Jahren meinen japanische Journalisten und Staatsanwälte, auch in ihrem Land einen »poruno bumu«, einen Porno-Boom, ausgemacht zu haben. Sicherlich hat die Zahl der auf voyeuristische Lüsternheit bauenden Publikationen zugenommen; sicher werden heute mehr schlüpfrige Darbietungen in Privatclubs gezeigt; bestimmt auch ist die Bereitschaft einer Reihe von Filmdarstellern gestiegen, in Schmuddelwerken mitzumischen.

Doch ein Boom ist es nicht. Das liegt nicht nur an den strengen Gesetzen gegen Pornographie, die in einer geplanten Strafrechtsreform gar noch erheblich verschärft werden sollen. Das liegt vor allem am mangelnden Publikum, denn Nacktheit sieht man zwar, so eine gängige Redewendung, aber man betrachtet sie nicht: Und wenn zudem sexuelle Betätigung als natürlich erlebt wird, läßt sie sich nur schwer unterderhand vermarkten.

Voyeurismus, ohne den Pornographie nicht denkbar wäre, ist ein Wort, für das jedes Lexikon nur schwer ein japanisches Wort findet.

Die Natürlichkeit des Geschlechtlichen wurde den Japanern von ihren ersten Shinto-Gottheiten Izanagi und Izanami vorgeführt -- so wenigstens steht es im »Kojiki«, Nippons ältester Legendensammlung aus dem achten Jahrhundert, über die Erschaffung des Universums:

Izanagi sagte, »Wie schön, ich habe ein liebliches Mädchen getroffen!« Dann fragte er Izanarni, »Gibt es in deinem Körper etwas Geformtes?« Sie antwortete, »In meinem Körper gibt es eine Stelle, die die Quelle der Weiblichkeit ist. Die männliche Gottheit sagte, »In meinem Körper gibt es eine Stelle, die die Quelle der Männlichkeit ist. Ich möchte diese Quelle meines Körpers mit der Qualle deines Körpers vereinen.«

So einfach ist das, ohne Rippe und Apfel und Sündenfall. Und so einfach haben es die Japaner selbst auch stets gesehen, haben sie über die Jahrhunderte hinweg immer neue Finessen ersonnen, den Geschlechtsakt an sich so genußvoll wie möglich zu machen.

Dem dienten auch die einstmals aus keinem Haushalt wegzudenkenden »makura-e«, Kissen-Bilder. Als notwendige Gabe für die Hochzeitsnacht und auch noch danach wurden sie Brautleuten diskret unters Kopfkissen gelegt. Diese Bilder zeigten in detailfreudiger Deutlichkeit, was zwei Menschen im Bett alles treiben können. Weniger optisches Stimulans sollten diese Bilder wohl auch sein, als vielmehr eine Art Checkliste, ja keine der 48 klassischen Stellungen zu vergessen.

Damit ist es vorbei. Die »Schlüpfrigkeit der Japaner«, die den US-Konsul Harns vor 120 Jahren verschreckte, darf sich in ihrer Unschuld nicht mehr der Außenwelt mitteilen. Die Makura-e gelten laut importierter Moral als unzüchtig.

Selbst erotische Holzschnitte bedeutender Künstler wie Utaniaro oder Hakusai hängen in keinem Museum von Tokio oder Osaka aus; Kunstliebhaber finden sie heute in Boston und Stockholm.

Amerikaner, wenngleich nicht sie allein, waren am aktivsten, die losen Japaner puritanische Mores zu lehren, mit oberflächlichem Erfolg.

»Ich ging in ein Badehaus«, schrieb US-Fähnrich McCauly nach seinem ersten Japan-Landgang 1854 ins Tagebuch, »da hockten Frauen und Männer auf dem Steinfußboden, ohne auch nur mit einem Tuch von der Größe eines Fingernagels bedeckt zu sein ... Sie luden uns ein, mit ihnen ein Bad zu nehmen -- aber ich war von der ganzen Brut so angewidert, von ihrer Verderbtheit und ihrem Benehmen, daß ich mich mit einem kräftigen Fluch abwandte.«

1862 wurde gemeinschaftliches Baden der Geschlechter in Jokohama verboten, »durch die Macht der öffentlichen Meinung, wie sie bei den hier lebenden Ausländern zum Ausdruck kam«, freute sich ein amerikanischer Autor.

Natürlich ist nicht zu leugnen, daß auch beim vorgeblich unschuldigen Gemeinschaftsbad Sexualität unterschwellig mitschwingt. Lag doch auch der Ursprung der japanischen Prostitution in den öffentlichen Badehäusern.

Prostitution ist in Japan nie mit jener heuchlerischen Mischung aus Abscheu und Begierde angesehen worden wie in Europa. Denn die Frauen, die »den Frühling verkaufen« (japanische Umschreibung des Gewerbes), galten stets als Bereicherung des Lebens, nicht als notwendiges Übel.

In den Vergnügungsvierteln der Städte, etwa dem berühmten Yoshiwara, der »schlaflosen Stadt« in Tokio, pulsierte über Jahrhunderte das Leben, das in den häuslichen Ehegemeinschaften nicht zu finden war. Bekannte, deshalb wählerische Kurtisanen -- seit dem 19. Jahrhundert nicht ganz treffend »geisha« genannt -- wollten intensiv, lange und kostspielig umworben werden, ehe sie sich hingaben.

Selbst die niedrigsten Stunden-Huren noch erwarteten ein Maß an Artigkeit von ihren Freiem, das jeden Japaner außerhalb der Yoshiwara-Wälle der Lächerlichkeit preisgegeben hätte: Bei den Kurtisanen durfte der Mann »romantisch« sein, was ansonsten als Schwäche verpönt war -- und noch heute ist.

Vor einigen Jahren stellte die Zeitschrift »Shukan Yomiuri« durch eine Umfrage fest, daß sich 60 Prozent der verheirateten Japaner eine Freundin halten würden -- wenn sie die Gelegenheit, soll heißen die Finanzen, hätten.

»Das einzige wohl, das sich seit dem Krieg geändert hat«, meint der Schriftsteller Jack Seward, »ist, daß die Männer im Beisein ihrer Frauen nicht mehr so laut über ihre Mätressen reden.«

Geändert aber hat sich einiges im Reich der Gesetze. Am 1. April 1958 versank Yoshiwara nach 300 jähriger Schlaflosigkeit in einen Dornröschenschlaf. Ab sofort war jegliche Prostitution per Gesetz verboten. Das Insistieren der amerikanischen Besatzungsmacht von 1946 hatte späte Früchte getragen.

Doch warum gerade jetzt? Die Erklärung: Tokio war ausersehen worden, die Olympischen Spiele 1964 auszurichten; da konnte man nicht früh genug anfangen, Nippon zu säubern, auf daß die empfindlichen Gemüter der ausländischen Gäste keinen Schaden nähmen.

Yoshiwara ist tot -- aber es lebt Neu-Yoshiwara. Wo einstens Luxus-Bordelle im Schichtdienst arbeiteten, bieten heute unzählige Türkische Bäder ihren Service an.

Der Kimono ist dem Abendkleid gewichen; die über eine halbe Million Barhostessen allein in der Hauptstadt verstehen sich nicht von ungefähr selbst als »moderne Geisha«. »Das Milieu hat sich gewandelt«, schreibt Ex-Diplomat Reischauer, »doch die Atmosphäre der modernen japanischen Bars ist ähnlich der in den Vergnügungsvierteln der Feudalzeit.«

Und doch gilt Japan, gilt vor allem Tokio als prüde. Weil Pärchen nicht händchenhaltend durch die Straßen schlendern, weil auf Parkbänken nicht geknutscht wird, weil in Strip-Lokalen nur bis zum Nabel entblößt wird.

Doch zum einen haben Händchenhalten und Schmusen für den Japaner sehr wenig mit der Leibeslust, sei es auch nur entfernt, zu tun. Die Berührungsangst, die Konfuzius einst mit dem Verdikt begründete, zwischen Mann und Frau dürfe nichts direkt von Hand zu Hand gereicht werden, hat hier ihre Bedeutung behalten. Sex ist was anderes. Die japanische Sprache kennt so auch kein Wort für »küssen«. Da muß »Kiss« herhalten. Lehrer kamen in arge Erklärungsbedrängnis, als dieses Wort nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals in japanischen Schulbüchern auftauchte.

Als ein japanischer Präfektur-Gouverneur vor Jahren die USA besuchte und dort allenthalben mit Necking und Petting konfrontiert wurde, schauderte es ihn: »Die Amerikaner lieben oberhalb des Nabels; wir Japaner bevorzugen es andersherum.«

Zum anderen ist nach wie vor entscheidend, daß Sexualität sich nicht exhibitionistisch, in der Öffentlichkeit also, manifestiert. Sie gehört an den ihr angemessenen Ort, ins Private. Erlaubt ist, was gefällt -- solange es die Harmonie der Gemeinschaft nicht stört: Ein Tokioter Mädchen schrieb an eine Zeitung:

Ich bin 19 Jahre alt. Vor einigen Jahren als meine Eltern nicht da waren, fiel mein Bruder über mich her und nahm mich. Obwohl ich mich wehrte, hat sich das seitdem fast wöchentlich wiederholt. Ich habe meinen Eltern nichts gesagt, da ich nicht wollte, daß mein Bruder das Gesicht vor ihnen verliert. Doch jetzt bin ich verlobt, und mein Bruder besteht darauf, auch nach meiner Hochzeit mit mir zu schlafen, Was soll ich tun?

Ein Fall für die Polizei? Nein, die Antwort der Zeitung fiel typisch japanisch aus: »Bevor Sie etwas übereilen, sollten Sie mit Ihrem Bruder sprechen und ihn bitten zu verstehen, daß es zu Gesichtsverlust und einer Störung der Familienharmonie kommen könnte, wenn er nicht nachgibt.«

Diese erstaunliche Fähigkeit, Sexualität in ein Reich zu verbannen, das dem öffentlichen Auge verborgen bleiben muß, ist Balsam für eigenes Tun und Rechtfertigung für »übersexte Personen«, so nannte das Gericht 1936 die Mörderin Sada Abe. Damit ist aber gleichzeitig auch jedweder künstlerischer Aufarbeitung des Sexuellen ein Riegel vorgeschoben. Der Regisseur Oshima bleibt kein Einzelfall:

Vergangenes Jahr wurde der international angesehene Schriftsteller Akiyuki Nozaka ("Die Pornographen") zu einer Strafe von 400 000 Yen (3700 Mark) verurteilt, weil er nach Überzeugung des Gerichts Obszönes verbreitet hatte. Denn Nozaka, Redakteur der satirisch-literarischen Zeitschrift »Osmohhiro Hambun« ("Spaßeshalber"), war eine klassische erotische Novelle, anonym, in die Hände gefallen, die er also wegen ihrer literarischen Qualität nachdrucken ließ.

Dennoch war's nach dem Buchstaben des Gesetzes Pornographie; wenngleich selbst der Vorsitzende Richter zugeben mußte, das Werk sei in einem so anspruchsvoll-archaischen Japanisch geschrieben, daß sogar er, ein gebildeter Mann, etliches in dem Text nicht verstanden habe. Aber einen Kunstvorbehalt kennen Japans Gesetze und Richter nicht: »Lady Chatterley's Lover« ist bis auf den heutigen Tag verboten.

Sada Abc -- Handelnde, nicht Beschreibende -- dagegen wurde eine Berühmtheit, ein Star. Fast jedem Schulkind ist ihr Name geläufig, beinahe zwei Generationen nach ihrer blutigen Tat.

Der amerikanische Schriftsteller Jack Seward erzählt in seinem Buch »The Japanese«, er sei vor Jahren mit seiner japanischen Freundin in einen Badeort gefahren. Da habe das Mädchen ihn auf ein Gasthaus aufmerksam gemacht, in dem Sada Abc arbeite. »Sie bekam bei dem Namen Abe so eigentümlich glänzende Augen«, daß Seward beschloß, es sei sicherer für ihn, die Beziehung zu dem Mädchen einzufrieren.

Sada Abc nahm nach Verbüßung ihrer sechsjährigen Haftstrafe wieder Stellungen in verschiedenen Gasthäusern außerhalb der Hauptstadt an, zur schaudernden Freude der männlichen Gäste, zum Ruhme ihrer Arbeitgeber.

Sie heiratete gar, doch war das Glück kurz und wohl nicht tief: Es endete unblutig durch Scheidung. Schließlich zog es Sada wieder in ihre Heimatstadt Tokio, wo sie mi Vergnügungsviertel Asakusa, gleich neben dem berüchtigten Yoshiwara, eine eigene Bar eröffnete.

Diese gehört ihr wohl immer noch, obwohl Sada Abe, nun 73 Jahre alt, sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat.

Ihren letzten großen Auftritt hatte sie vor neun Jahren, als sie vor einem millionenfachen Fernsehpublikum ausführlich über die gute alte Zeit plauderte.

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