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Sicherheitsgurte: Furcht vor der Fessel

Zur Jahreswende verordnet Bonn den deutschen Autofahrern das Anschnallen. Am Nutzen des Sicherheitsgurts gibt es nichts zu zweifeln. Und doch löst der Leibriemen bei vielen tiefgründige Ängste aus - und wird deshalb nicht angelegt. Fraglich bleibt zudem: Soll und darf der liberale Staat die Auto-Bürger zum Überleben zwingen?
aus DER SPIEGEL 50/1975

So was hatten die Befrager noch nicht erlebt. Ihre Gesprächspartner »reagierten allergisch«, »griffen die Interviewer an«. Sie verweigerten jede Antwort, weil ihnen »die Fragen zu blöd« seien, offenbarten, alles in allem, »eine Fülle von Störungen« in ihrem Gemütsleben.

Es war, so resümierten die Berichterstatter des Kölner »DelBerg«-Instituts, »mit einem Stich ins Wespennest zu vergleichen": eine Umfrage unter Bundesbürgern, ob sie sich in ihren Autos festgurten oder nicht.

»Starke latente Spannungen, unausgetragene Konflikte, affektive Verfestigungen und Bereitschaft zu kämpferischen Auseinandersetzungen« machten die vom Bundesverkehrsministerium mit der Studie betrauten Psychologen in jeweils mehrstündigen Séancen aus. Und das alles, weil in den Seelen westdeutscher Kraftfahrer zwei Ängste einen sonderbaren Streit austragen - die Angst vor dem Anschnallen und die Angst, nicht angeschnallt zu sein.

Nun will Bonn den Bürgern diese Bürde abnehmen. »Vorgeschriebene Sicherheitsgurte für die Vordersitze von Kraftfahrzeugen«, so ist vom Jahreswechsel an verordnet, »müssen während der Fahrt angelegt sein.« Daß die Deutschen von ihrem Auto gefesselt sind, daran gibt es dann nichts mehr zu deuteln.

Ganz beiläufig, neben neuen Vorschriften über das Verhalten an Schulbussen und das Tragen von Schutzhelmen auf Motorrädern, kommt die bindende Verpflichtung über das mobile Volk. Doch sie hat ein Eigengewicht, das den Regierenden wie den Regierten zur Last fallen könnte.

Noch tiefer treibt diese Zwangs-Verordnung den Motorbürger in eine Not, die ihm ohnehin beträchtlich zusetzt. Denn nur ein geringer Teil aller Autofahrer benutzt bislang regelmäßig den Leibgurt. Und für die große Mehrheit, die den Riemen verschmäht, trifft das Bonner Dekret auf Grundsätzliches: einen »Widerstreit elementarer menschlicher Bedürfnisse«, wie der renommierte Schweizer Psychologe Siro Spörli sagt, »bei dem der Unterschied zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip ins Spiel kommt«.

Daran muß es liegen, daß im Gespräch über Gurte nur mehr Gefühle ausgetauscht werden - Besessenheit nicht nur bei den Gurtgegnern, die unbewußt Lust verteidigen, sondern auch bei den Befürwortern, die sich nach der DelBerg-Studie den Wirklichkeitssinn durch »ein ausgefeiltes System von Absicherungen« erhalten, »die an Rituale erinnern, mit denen religiöse Formen die Sünde meiden wollen«.

Noch verzwickter wird nun das ohnehin fintenreiche System rechtlicher Regularien, nach denen die Bundesbürger rollen sollen. Denn verordnet wird, höchst verwirrend, nur eine freundliche Empfehlung. Und vorerst kann niemand bestraft werden, wenn er die Gurte baumeln läßt - neue Qualität für das Rechtsverständnis des Normalbürgers.

Steigern ließe sich diese Konfusion, wenn Bonn die Drohung wahr macht, die in der Begründung zur neuen Vorschrift steht: Strafe für Anschnall-Verweigerer, falls der Appell vom Volk nicht freiwillig befolgt wird, und dann eben »im Interesse der Verkehrssicherheit allgemein diese Pflichten mit Buße bewehrt werden müssen«. Denn die Gerichte, bis hinauf zum höchsten, haben sich bislang geweigert, Gurtverweigerung als eine Schuld zu betrachten.

Vor allem aber berührt dieser Staatsakt empfindliche Stellen der liberalen Gesellschaft. Fügt es sich noch in die letzthin so häufig bemühte freiheitliche Grundordnung, dem Bürger das Verfügungsrecht über seine sowieso sterbliche Hülle zu nehmen? Und wenn schon den Frauen der Bauch gehört, gehört dann nicht jedermann Schädel oder Schienbein?

Ist denn wirklich, wie die »Süddeutsche Zeitung« befindet, »die Einschränkung der persönlichen Freiheit durch Anschnallen« dem Kraftfahrer zuzumuten, »weil er die Allgemeinheit der Mitglieder in Kranken- und Unfallversicherung an den Kosten für Operationen und Krankenpflege beteiligt«? Oder wiegt es schwerer, daß, wie Rudolf Walter Leonhardt in der »Zeit« anmerkt, die neue Vorschrift »einen weiteren Schritt in der Tendenz« bedeutet, »die es dem einzelnen verbieten will, auf eigene Kosten riskant zu leben«?

Rituelles bei den Gurtfreunden, die nach dem Urteil der Kölner Psychologen alle Andersdenkenden »erst einmal vom Straßenverkehr ausschließen« möchten; Ideologie auch bei den Gurtgegnern, die den »Ärger über die Gurtanleger« in »Tendenzen der Schuldzuweisung und der missionarischen Radikalisierung« ausdrücken; einerseits ein Recht, dessen Mißachtung nichts kostet, aber doch ein behördlicher Zugriff aufs Intime: Die Bonner Maßnahme trifft auf geballte Vorurteile und begründetes Mißbehagen der mobilen Deutschen.

Eintracht herrscht, allem Bürgerkrieg zum Trotz, allein unter Fachleuten. »Von vier toten Autofahrern könnten zwei noch leben, und von vier Schwerverletzten könnten drei nur leicht verletzt oder überhaupt nicht verletzt sein, wenn sie einen Sicherheitsgurt getragen hätten«, sagt der Heidelberger Chirurg Professor Eberhard Gögler. »Durch einen geeigneten und richtig angelegten Gurt«, sekundiert der Frankfurter Medizin-Professor Karl Luff, »wird ein Optimum an passiver Sicherheit erreicht«.

Und Ähnliches behaupten Westdeutschlands Autobauer, die versuchsweise Wagen mit Test-Puppen an die Wand schmettern. Mit Drei-Punkt-Gurten moderner Bauart, der Kombination von Schulter- und Beckengurt, sieht VW-Chefentwickler Professor Ernst Fiala »fast 90 Prozent aller Sicherheitsforderungen« erfüllt. Für den BMW-Entwickler Professor Joachim Elsholz sind gar »alle Arten von Sicherheitsgurten besser als kein Gurt im Auto«.

Um etwa 50 Prozent würde sich die Zahl der Personenschäden verringern, wenn Gurte nicht nur eingebaut, sondern auch benutzt würden - Resultat einer umfänglichen, vom Verband der Haftpflicht- und Unfallversicherer (HUK) gefertigten Studie. Und selbst Zusammenstöße bei 100 Stundenkilometern, ergab eine von den schwedischen Volvo-Werken gestartete Analyse aus 29 000 Kollisionen, können angeschnallte Automobilisten noch überleben.

Gegen die Gewalten, die schon bei weit geringerem Tempo auf Fahrzeug und Fahrer einwirken, ist kein Bizeps gewachsen. Nur bis zu 15 Stundenkilometern, bei Radlertempo also, kann ein kräftiger Mensch mit Armen und Beinen die Energien verdrücken, die beim Frontalaufprall entstehen. Bei 30 schon wären auch die Rammen eines Muhammad Ali überfordert. Und mit 50, so notierten die Sicherheitsexperten von Daimler-Benz, »gibt es nicht einmal eine theoretische Chance«.

Wenn es aufflammt, hat es vorher meist gekracht.

Ohne die Rettungsbänder, das ist sicher, enden Unfälle in aller Regel schwerer. Die Verunglückten sterben an Kopfverletzungen (häufigste Todesart) oder Halswirbelbrüchen, wegen eines zerquetschten Brustkorbs oder gerissener Organe. Vom Lenkrad abgerissene Köpfe nach heftigen Kollisionen oder nur zerschnittene Gesichter nach sogenannten Bagatellunfällen - der Horror ist vielfältig. »Diese perforierenden Verletzungen des Augapfels wären zu hundert Prozent vermeidbar, würden sich die Leute anschnallen« - so letzte Woche Dr. Gerhard Tams vom Hamburger Heidberg-Krankenhaus nach einer alltäglichen Operation ("Ein Auge verloren") an einer 21jährigen, an deren Auto nur ein Kotflügel zerknautscht war.

Schon bei 20 Stundenkilometern, so besagt die Studie der westdeutschen Versicherer, »wurden tödliche Verletzungen von nicht angegurteten Insassen festgestellt«. Dreipunktgurte hingegen, ob statisch oder automatisch, schützen gemeinhin noch bei Tempo 50 vor schweren oder tödlichen Blessuren. Und beinahe 90 Prozent aller Unfälle geschehen im Bereich dieser Geschwindigkeit oder darunter.

Was an gängigen Argumenten gegen den Gurt kursiert, erweist sich durchweg als gedankliche Fehlkonstruktion, oft auch als Vorwand, hinter dem geheime Gefühle verborgen werden. Längst steht die Auswertung von abertausend Karambolagen, stehen ungezählte Crash-Tests mit Puppen oder Leichen der Legende vom »Gurt, der tötet« entgegen - so der Titel eines jüngst erschienenen Buchs des Franzosen Jérome Spycket.

Opponent Spycket, der die Anschnallpflicht als »Zwang, der eine Todesgefahr in sich birgt«, empfindet, artikuliert noch einmal die populären Ängste: im brennenden Auto hilflos, weil gefesselt, verlodern zu müssen. Oder beim Sturz ins Wasser qualvoll zu ertrinken, weil sich das Gurtschloß nicht öffnet. Und der Franzose preist die Chance, hinausgeschleudert zu werden, wenn das Wagendach sich zuunterst kehrt.

Tatsächlich nehmen »Unfälle mit Überschlag« nach der HUK-Untersuchung mit acht Prozent einen relativ hohen Anteil ein. Dennoch überstanden Angeschnallte die Saltos durchweg unbeschädigt oder nur leicht verletzt. Hinausgeschleuderte Autoinsassen, so Chirurg Gögler, müssen hingegen mit »fünffach höherer Lebensgefährdung« rechnen - was eine Unfall-Analyse des VW-Professors Fiala bestätigt: Von 233 Menschen, die im Fahrzeug verblieben waren, wurden 37 getötet (16,5 Prozent), von 17 hinausgeschleuderten aber starben 16 (94 Prozent). Denn höchst selten nur ist eine weiche Wiese nebenan, eher endet der Gleitflug an Bäumen und Härterem.

Wie oft Autos unter Wasser geraten, ist nirgends statistisch erfaßt - so selten passiert es. Fahrzeugbrände rangieren mit 0,2 Prozent in der westdeutschen Versicherer-Studie. Und wenn es denn aufflammt, hat es meist vorher gekracht - schlechte Ausgangsbasis für den nicht Angeschnallten, der nach aller Wahrscheinlichkeit bewußtlos und mehr oder minder verletzt ist. Nebensächlich ist schließlich der Einwand, bei Seiten-Aufprall sei der Gurt meist wertlos: Dann schadet er auch nicht.

»Es ist erwiesen«, bleut Bonn den Bürgern mit der Anschnall-Verordnung noch einmal ein, »daß durch die Benutzung von Sicherheitsgurten die Zahl der Unfalltoten und Schwerverletzten erheblich gesenkt werden kann.« Doch die Deutschen wissen das schon längst. Die Hälfte aller Befragten nannte in einer Stichprobe vor drei Jahren Sitzgurte als die wichtigste von drei vorgegebenen Sicherheitseinrichtungen am Auto (vor Gürtelreifen und Nebellampen).

Rund 56 Prozent plädierten bei einer Umfrage Ende letzten Jahres für die gesetzliche Anschnallpflicht, 81 Prozent für den inzwischen vorgeschriebenen Gurteinbau. Und sogar 90 Prozent hielten den Sicherheitsgurt für »ein notwendiges, da sinnvolles aktives Rückhaltesystem«.

Soviel Einsicht der Autofahrer, die frappierend mit entsprechenden Umfrageergebnissen in den USA oder Skandinavien übereinstimmt*, ließ denn auch Regierende und Verbände, Industrie und Unfallärzte sich in der Hoffnung wiegen, man müsse nun bloß noch ein bißchen nachhelfen, und schon werde sich jedermann festbinden. Gurtes Segen »für Leib und Leben« predigte Willy Brandts bläßlicher Verkehrsminister Lauritz Lauritzen, und dessen Nachfolger Kurt Gscheidle propagierte den »Klick«-Slogan »Erst gurten - dann starten«, dem inzwischen ein Bekanntheitsgrad von 71 Prozent beschieden ist.

Im Fernsehen wurde selbst beim »Platz an der Sonne« der Platz unterm Rasen beschworen, als es ans Verlosen der Autos ging. Der ADAC in Stuttgart ließ Personenwagen aus 14, 25 und 28 Meter Höhe zu Boden krachen. Eine halbe Million Neugierige in westdeutschen Städten wurde in vier Gurtschlitten, die der Deutsche Verkehrssicherheitsrat auf Tournee schickte, von elf km/h auf Null gebracht.

Seltsam nur: Im eigenen Auto schnallte sich kaum einer an. Klick- und klacklos blieben die scheinbar so sicherheitsbewußten Bürger hinter ihrem Lenkrad sitzen.

Ganze sechs Prozent, so ließ die Kölner Bundesanstalt für Straßenwesen im Frühjahr 1972 aus über 800 Autofahrern repräsentativ herausfragen, zogen sich prinzipiell und stets den Riemen über - und letztes Jahr waren es gerade drei Prozent mehr.

Erklärungen für den Eklat - der sich so oder ähnlich auch bei Werbefeldzügen in anderen Ländern begab - waren rasch bei der Hand. Zwei schwedische Verkehrspsychologinnen etwa bemängelten die Beschränkung auf »direkte, an die Vernunft appellierende Argumente«. Denn die »Korrelation zwischen Denken und Verhalten«, so weiß auch Johannes Clemens Brengelmann, Direktor am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie, »ist in vielen Bereichen gleich Null. Es ist außerordentlich schwierig, Informationen in Verhalten umzusetzen«.

Aber anders herum, mit Appellen ans Gemüt, war den Motorisierten auch nicht beizukommen. Mit ausgesucht scheußlichen Unfallphotos zum Beispiel war kaum Gurtbewußtsein zu gewinnen. Eine mit Schockelementen durchsetzte TV-Werbeserie für Autogurte, die über ein Kabelsystem in 6400 US-Haushalte ausgestrahlt wurde, hinterließ - wie sorgsame Beobachtung ergab - bei den Betrachtern nicht den geringsten Eindruck.

Bonns Verkehrsministeriale, die allein im letzten Jahr 7,75 Millionen Mark in die Gurtreklame steckten, begaben sich schließlich auf einen dritten Bildungsweg - weg von Unfall- oder »anderen negativen Aspekten«, hin zu »den positiven Ergebnissen« des Gurtens. Denn durch das Werbespiel mit dem Tod, so meinten sie, war die Sicherheitsbindung »zu einem ständigen 'Memento mori' geworden«, das man »gerne verdrängt, indem man den Gurt 'vergißt'«.

Nach dem Werbespiel mit dem Tod nur noch lächeln.

Statt dessen lächelten nun Mutter und Kinder aus Zeitungsanzeigen: »Tu's für uns«. Von 1500 Streckenplakaten blickte das rotblonde Photomodell June von Bebenburg auf die Straße, Daumen hoch und strammgezurrt: »Oben mit ist besser.« Und für eine Plakatserie wurde eine Reihe typischer Sympathieträger in den Gurt gesteckt: ein fescher Förster, der Herr Pfarrer und eine Hebamme ("Durch mich kommen die Babys sicher zur Welt. Aber nur, wenn ich sicher zu den Babys komme").

Die Deutschen nahmen es offenbar als ganz persönliches Problem der Geburtshelferin, ob sie nun ankommt oder nicht. Denn das Gros der Autofahrer fährt nun, vor Beginn des Anschnallzwangs, noch immer ohne Gurtschutz durch die Städte. Nur 16 Prozent binden sich dort an, obschon in geschlossenen Ortschaften zwei Drittel aller Unfälle mit Personenschaden geschehen. Und teilweise war die Anlegequote, wie eine Umfrage der Kölner Bundesanstalt im August ergab, gegenüber dem Vorjahr sogar rückläufig - etwa bei Drei- bis Fünf-Minuten-Fahrten im Ort, beim Orts-Durchgangsverkehr und bei der Pkw-Mittelklasse zwischen 1,2 und 1,5 Litern.

Mag sein, daß das Desaster der Werber zum Teil von elementaren menschlichen Trägheitsgesetzen bewirkt wurde - von schlicht »faulem Verhalten«, worauf etwa der Psychologe Brengelmann die Tatsache zurückführt, daß er selbst einen 280er Mercedes nie angeschnallt chauffiert. Das Abhaken und Anlegen, das Hin- und Herziehen seines Normalgurts bei den Handgriffen zum Start - das, sagt der Wissenschaftler, »ist mir zuviel Arbeit«.

Brengelmanns Bekenntnis deckt sich mit der Feststellung von Demoskopen und Gurtherstellern, daß langjähriges unfallfreies Fahren die Bereitschaft zu konsequenter Vorkehrung einschläfert. Denn das Anschnallen ist - anders als andere Vorbereitungen wie das Lösen der Handbremse, Zünden und Gang einlegen - nicht funktional in die Bedienung des Fahrzeugs integriert und wird überwiegend als lästig empfunden.

Doch die grotesken Widersprüche um Gurt und Gurten scheinen damit nicht hinreichend erklärt - der immense Aufklärungs-Aufwand und die kläglichen Anschnall-Quoten, die hohe Umfrage-Rate von Gurtbefürwortern und die Dickfelligkeit in der Fahrpraxis. Bündige Antworten freilich, woran es, von der Faulheit abgesehen, sonst noch liegen könnte, haben bislang nur die von Bonn beauftragten DelBerg-Psychologen und deren Fachkollegen in der Kölner Bundesanstalt parat.

Verdächtig erschien den Motivsuchern schon die explosive Reaktion der meisten Kraftfahrer. »Empörung und missionarische Wut« machten die Interviewer auf beiden Seiten aus. Gurtgegner, so erregten sich die Befürworter, seien »verantwortungslos, gleichgültig, oberflächlich, leichtsinnig, aggressiv«. Gurtträger, schnappten die Nichtbenutzer zurück, seien »komisch, blöde, arrogant, affig, tantenhaft« - lauter Spießer und Pedanten, die, »wie Hunde und Babys angeleint, um nicht aus dem Wagen zu fallen«, mit ihrer »krankhaft vorsichtigen Fahrweise den ganzen Verkehr durcheinanderbringen«.

Der emotionsgeladene Widerstreit schien um so unverständlicher, als selbst entschiedene Gurtgegner den hohen Nutzeffekt des Geräts bejahten. Und sonderbar war auch das Verhalten der Befragten zu den Befragern. Ganz anders als bei den gängigen demoskopischen Plaudereien erwiesen sich viele der Interviewten als ausgesprochen mundfaul. Sie hatten keine »richtige Lust« zu antworten. Andere wehrten kurzerhand ab ("Einen Sicherheitsgurt brauche ich nicht") und verbaten sich so unerfreuliche Fragen zu einem so unwichtigen Thema.

Eine weitere Gruppe drehte den Spieß um und ging auf die Ausfrager los: »Haben Sie denn überhaupt einen Sicherheitsgurt?« Weniger Forsche versuchten sich bei dem hartnäckigen Besucher mit Kumpelhaftigkeit: Ob er denn »nicht auch der gleichen Meinung sei, irgendwie seien die Sicherheitsgurte ja auch unsinnig und die Gurtträger seien doch wirklich komische Leute, nicht wahr?« (so der DelBerg-Bericht).

»Je mehr im Interview-Verlauf das Problem des Sicherheitsgurts thematisiert wurde«, resümierten die Forscher, »desto bewegter und affektiver wurde das Verhalten der befragten Fahrer.« Keinem von ihnen war das Thema gleichgültig, und ihre Affekte »hatten die Tendenz, sich zu radikalisieren und um Extreme zu polarisieren«.

Durch das peinliche Verhör, so schließen die Bundesbeauftragten aus diesem Betragen, geriet eine »in der menschlichen Natur tief verankerte Einstellung« ins Wanken. Der Kölner Psychologie-Professor Udo Undeutsch beschreibt sie so: »Es mag zwar sein, daß das alles gefährlich ist, aber soweit es mich betrifft, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, daß ich in solche Gefahr gerate.«

Deutlich wurde - wie das DelBerg-Psychologenteam analysierte -, »daß der Sicherheitsgurt primär mit den Gefahren eines Unfalls und seinen Folgen assoziiert wird und erst sekundär mit seiner eigentlichen technischen Funktion, nämlich vor diesen Gefahren zu schützen«. Und deshalb geraten nach dem Urteil der Umfrager die meisten Fahrer beim Stichwort Anschnallen »psychologisch in die Klemme. Einerseits sehen sie ein, daß sie mit Gurten sicherer fahren, andererseits aktualisiert der Sicherheitsgurt bei ihnen Angst, die sie vermeiden wollen. Sie kommen aus einer Angstvermeidung nicht zu einer effektiven Gefahrenvermeidung«.

Dieses Bedürfnis, die Gefahr auf der Straße zu verdrängen, verbindet sich bei vielen Fahrern mit horriblen Tagträumen. 30 Prozent der Befragten befürchten, bei einem Unfall vom Gurt erwürgt zu werden. 61 von Hundert haben Sorge, in ihrem Wagen dereinst angeschnallt zu verbrennen. Und über 75 Prozent, Gurtfreunde eingeschlossen, werden von dem Gedanken geplagt, daß im Fall des Knalls die Unfallhelfer den Gurt nicht lösen können.

Derlei Visionen, so folgern die Bundes-Wissenschaftler in einer Schrift über die »Psychologische Forschung zum Sicherheitsgurt und Umsetzung ihrer Ergebnisse«, bilden »einen zusammenhängenden Komplex, in welchem Widerstände gegen den Einbau und das Anlegen von Sicherheitsgurten ihre Wurzeln haben«, formen »ein gleichsam archetypisches Funktionsbild, in dem sich die um den Sicherheitsgurt zentrierten Ängste verdichten«.

Es ist die elementare Furcht vor der Fessel. Denn, so der Kölner Bericht, eine »unwillkürliche Form, in der Menschen mit Gefahren fertig werden sollen, ist die Flucht« - die der Gurt zumindest symbolisch verhindert. Und »die Autofahrer werden augenscheinlich nur schwer damit fertig, daß sie sich selbst fesseln und gleichsam wehrlos machen müssen, um Gefahren beim Unfall bewältigen zu können«.

Überlagert werden solche Ängste von ganz spezifischen »Fahrwelten«, in denen sich die Autolenker nach Erkenntnis der Kölner Analytiker bewegen. Die meisten Fahrer seien nicht auf Absicherung eingerichtet, sondern auf Ausleben »seelischer Tendenzen wie Genuß von Schnelligkeit, Erleichterung von Arbeit, Zuwachs an Stärke und Verfügen-Können«. Beim Autofahren, so beobachtet auch Psychologe Spörli, kommen »gewisse, sehr emotionale Dinge ins Spiel, die die rationalen Kontrollmöglichkeiten reduzieren«.

Am Lenkrad Genuß und Zuwachs von Stärke.

Vom Lustbetonten besetzt ist nicht etwa nur junges Volk, sondern sind auch biedere Familienväter, die ihr Auto aus Freude am Fahren gern mal laufen lassen. Und es rumort nicht nur in den Gurtgegnern, sondern bewegt auch die Gurtfreunde: Denen bleibt - weil sie zwar überdurchschnittlich Wirklichkeitssinn entwickeln, aber auch Gelüste verspüren - gar nichts anderes übrig, als sich in den Gurt zu vernarren und ihm Weltanschauliches zu verleihen. Die andere Seite wiederum empfindet den Leibriemen als »störenden Abkömmling des Realitätsprinzips«.

Die Angst, die Lust - sie ist klassen- und geschlechtslos nach den Auswertungen der DelBerg-Leute, ist Frauen wie Männern gemein, jungen und alten Deutschen, obschon mit kleinen Einschränkungen: Höhere Bildung und Urbanität sind bei Angeschnallten etwas häufiger vorhanden als bei den Freifahrern. Eine ambivalente Gruppe unter den Gurtgegnern, ständig hin- und hergerissen. filterten die Forscher ebenso heraus wie einen Neun-Prozent-Anteil von Abergläubischen, die trotz überwiegender Ablehnung des Anschnallens auf den sinnlos baumelnden Gurt nicht verzichten wollen - man wisse nie, wozu das vielleicht doch gut sei.

Nur eins fanden die Motivforscher nicht: Gurt-Gegnerschaft aus sachlicher Sicht - obschon es dafür gute Gründe gäbe. Denn Nachteile und Risiken des Anschnallens haben selbst engagierte Gurtbefürworter wie der Chirurgie-Professor Gögler entdeckt.

Wenn etwa das Gurthand, wie es häufig geschieht, zu locker umgelegt wird, kann es sich bei Belastung »wölben« und dann »wie ein Drahtseil« (Gögler) auf den Körper einwirken - wobei schon bei »geringen Aufprallgeschwindigkeiten schwere Verletzungen« möglich sind.

Allianz-Professor und HUK-Unfallforscher Max Danner fürchtet den »Filmspuleneffekt« bei den ansonsten vorteilhaften Automatik-Gurten: Die Haltebänder rollen sich, wie mitunter ein Filmstreifen, mehr als erwünscht aus und lassen so im entscheidenden Augenblick dem Oberkörper zuviel Raum für die Vorwärtsbewegung. Der Heidelberger Professor Peter Hinz glaubt, Gurte seien »in vielen Fällen für schwere Wirbelsäulenverletzungen verantwortlich«. Und sämtliche Experten beklagen die Gefahren des sogenannten Submarining - das Wegtauchen des Körpers unter den Beekengurt.

Europäische Normen und Prüfungsvorschriften nach dem längst überholten Wissensstand von 1965 verhindern nach Meinung des Diplomingenieurs Dieter Adomeit von der Technischen Universität Berlin die Weiterentwicklung des Gurtsystems. So werden Gurte an Versuchspuppen erprobt, die auf harten, unelastischen Sitzen hocken und so konstruiert sind, daß die Beckengurte in Hüfthöhe nicht verrutschen können.

Leibhaftige Unfallopfer aber rutschen immer mal wieder unten durch - weil die Gurte nicht richtig sitzen oder zu locker liegen, weil die Benutzer mal zu groß und mal zu klein sind oder der Sitz zu weich und nachgiebig ist. Dann schiebt sich die Beckengurtschlinge hoch und kerbt sich tief in die Weichteile des Unterleibs ein, rutscht oft noch höher bis zur unteren Brustkastenhälfte, und wenn sie sich dabei zusammenrollt, schneidet sie messerscharf ins Fleisch. Der Schultergurt verschiebt sich vom härteren Brustbein zu weniger widerstandsfähigen Rippen - die denn auch bei Kollisionen mit Gurt häufig brechen.

Verletzungen durch Gurte, etwa Quetschungen an Hals, Brust und Schulter, werden erheblich verstärkt, wenn Insassen aus dem Fond auf die Vorderleute geschleudert werden und für zusätzliche Belastung sorgen. Besonders böse endet es meist für die an Seitenholm und Boden angeschnallten Passagiere, wenn die Vordersitze aus der Halterung gerissen werden und das würgende Band auch diese Kräfte noch aufnehmen muß - was, wie die HUK-Untersuchung zeigt, in immerhin elf Prozent aller Fälle passiert. Riskant auch das Gurten ohne Kopfstütze - die Bonn nach Ansicht vieler Fachleute gleich hätte mitverordnen sollen. Denn sie mildert den gefahrvollen Peitscheneffekt, durch den der Kopf bei Kollisionen vor und zurück geschleudert wird.

Wie nützlich Gurte sind, hängt beispielsweise vom Alter der Betroffenen ab. An der Universität Heidelberg ermittelte der Gerichtsmediziner Rainer Mattern, daß Gurtverletzungen vom 40. Lebensjahr an »häufiger und gefährlicher« auftreten als bei Jüngeren. Und nach einer Studie des Frankfurter Battelle-Instituts, gefertigt im Auftrag des Bonner Verkehrsministeriums, sind die Belastungen, denen ein mit Dreipunktgurt gesicherter Mensch bei einem Aufprall aus 50 Stundenkilometern ausgesetzt ist, schon »zu hoch": Durch Kopfbeschleunigung könnten »Schädigungen im Gehirn« auftreten.

Indizien dafür, daß der Gurt nicht nur Gutes an sich hat, liefert schließlich die Forschungsarbeit der Autobranche. VW etwa sucht abseits des Dreipunkt-Systems und arbeitet an einem »Rückhalte-Automat«. Er legt selbsttätig den mit einem Ende an der Tür befestigten Schultergurt an, sobald der Passagier Platz genommen und die Tür geschlossen hat, und an Stelle des Beckengurts hängt ein elastisches Kniepolster unter dem Armaturenbrett, das den nach unten und vorn wegrutschenden Körper weich abfangen soll. Daimler-Benz setzt - als Ergänzung für Dreipunkt-Automatik und Kopfstützen - auf den Air-Bag, den aus Lenkrad oder Armaturenbrett hervorplatzenden Luftsack.

Daß der Gurt - wie immer er gelegentlich wohl würgt oder schneidet - eine segensreiche Einrichtung ist, bleibt auch von den sachkundigen Kritikern unbestritten. Nur: Daß es - anders als beim Schutzhelm für Motorradfahrer - beim Gurt überhaupt nennenswerte Nachteile gibt, macht die nun verordnete Anschnallpflicht zum juristischen Streitfall.

Für den Bürger ist vor allem verwirrend, daß er neuerdings einen Paragraphen mißachten darf und dennoch nichts passiert. Denn derlei Milde gewährt das Recht sonst nur in Ausnahmefällen, bei Spiel und Wette beispielsweise, wo man die Schulden nicht bezahlen muß und für Säumnis ohne Strafe bleibt.

Für Rechtskundige aber ist es fragwürdig, ob der Staat den Selbstschutz mit Straf- oder Bußandrohung überhaupt erzwingen darf - eine Situation, die nach den Bekundungen des Bundesverkehrsministeriums unweigerlich ins Land steht, falls die weiche Welle bei den Deutschen nicht ankommt: »Wenn wir innerhalb der nächsten zwei Jahre die Anlegequote nicht wesentlich steigern können«, so Kurt Gscheidle letzte Woche im Fachblatt »auto, motor und sport«, »diskutiere ich erneut über ein Bußgeld.«

Niemand kann zum Beispiel bestraft werden, weil er eine kippelige Leiter besteigt, mit Turnschuhen die Zugspitze angeht oder seine Gesundheit mit Tabletten ruiniert. Und für beträchtliche Minderheiten droht mit Gurt zumindest ebenso hohe Gefahr wie ohne: 30 000 Bundesdeutsche mit Herzschrittmacher etwa müssen beim Zwangsgurt um ihr Leben fürchten, weil schon heftiger Gegendruck die Elektrode aus dem Herzen oder das Kabel aus der Stromquelle reißen könnte - mit tödlicher Folge allemal.

Bedenken gegen den Zwangsgurt beschäftigten denn auch längst die Fachkongresse - so letztes Jahr den Goslaer Verkehrsgerichtstag und die Gesellschaft für Rechtsmedizin. Der Münchner Ordinarius für Gerichtsmedizin Wolfgang Spann, der jüngst eine von der Bundesanstalt für Straßenwesen in Auftrag gegebene Studie über Unfallschäden abschloß, bei denen der Gurt die Verletzungsfolgen nicht vermindert hatte: »Gar keine Frage, daß solche Schäden immer wieder mal vorkommen.« Und in Goslar wie anderwärts tauchte der Einwand auf, daß ein Gurtzwang zugleich auch einen Zwang zur Selbstgefährdung bedeutet - den der Staat wegen des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit nicht per Verordnung ausüben dürfe.

Eine Gruppe von Privilegierten muß sich nie anschnallen.

Dieser Gedanke aber ist weniger theoretisch, als er scheint, und hat im deutschen Rechtssystem Belang. Das Impfgesetz beispielsweise verpflichtet die Eltern, ihre Kinder gegen Pocken zweimal impfen zu lassen. Obwohl erwiesen ist, daß es in etwa einem unter 25 000 Fällen zu dauerhaften Hirnschäden kommt, drohen den Erziehern empfindliche Geldbußen, wenn sie sich gegen die Impferei sperren. Zugleich aber gewährt das Gesetz bei Impfschäden einen Ersatzanspruch gegen den Fiskus. Nun soll der Impfzwang für Kleinkinder abgeschafft werden, denn selbst die extrem seltenen Impfschäden wiegen schwerer als der Nutzen breiter Immunisierung.

Eine gesetzlich erzwungene Anschnallpflicht wäre indessen noch schwächer legitimiert als der staatliche Impfzwang, weil Gurtschäden derart selten nicht sind und der Gurt, anders als der Impfzwang, ganz überwiegend nur dem Selbstschutz dient. Und so könnte in Zukunft jeder, der angeschnallt war und deshalb bei einem Unfall verletzt wurde, gegen den Staat prozessieren. Gelingt dem Betroffenen oder seinem Erben der Nachweis, daß der Schaden aus dem Schnallzwang resultierte, dann wären die sogenannten Aufopferungsansprüche aus öffentlicher Kasse abzugelten.

Weil Sicherheitsgurte auch verhängnisvoll sein können, rechnen bislang schon die Zivilgerichte - und mithin die Versicherungen - keinem Unfallopfer ein Mitverschulden an, wenn er nicht festgezurrt war. Zwar hatten sich auch die Rechtswahrer für eine Weile über diesen Punkt zerstritten. 1967 etwa entschied das Braunschweiger Oberlandesgericht, das Schmerzensgeld verunglückter Autofahrer sei zu kürzen, wenn sie sich nicht angebunden hatten; zwei Tage später urteilte das Münchner OLG in einem Parallelfall entgegengesetzt.

Doch mit einem Grundsatzurteil, das noch heute gilt und alle anderen Gerichte bindet, entschied der Bundesgerichtshof 1970 den Zwist: »Einem Kraftwagenfahrer, der bei einem Kraftfahrzeugzusammenstoß verletzt wird, kann nach den Erfahrungen, die bisher mit Sicherheitsgurten gemacht wurden, nicht als Mitverschulden angerechnet werden, daß er sich nicht angeschnallt hat.«

Die Zahl der Anschnall-Schäden hielten die Karlsruher Richter damals für »nicht so gering, daß sie nicht ins Gewicht fiele«. Jedem einzelnen müsse es daher überlassen bleiben, »ob er das Risiko mit Rücksicht auf die Vorteile, die der Gurt in sehr vielen Fällen bietet, in Kauf nehmen oder ob er wegen dieses Risikos auf das Anschnallen verzichten will.«

Ausdiskutiert ist die Rechtslage freilich noch nicht. Heutzutage, so meint der Braunschweiger Verkehrsrichter Siegmund Nippel, würde der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung wohl nicht mehr aufrechterhalten. Nach Ansicht des OLG-Richters hat just der neue Gurt-Paragraph die ganze Rechtslage verändert: »Die Rechtsprechung muß diese Vorschrift nach dem 1. Januar 1976 anwenden, wenn die Unfallfolgen dadurch verschlimmert worden sind, daß kein Gurt angelegt wurde.«

Die Assekuranzen halten sich einstweilen zurück: »Wir werden«, sagt Hansheinrich Brumm, Direktor beim HUK-Verband, »keine Konsequenzen aus den neuen Verordnungen ziehen. Wir werden so tun, als ob es die nicht gäbe.« Und er verrät auch den Grund für die branchenfremde Mäßigung: »Wir wollen die Buhmann-Rolle nicht übernehmen.«

Mag sein, daß im nächsten Jahr die Richter diesen Part aufgreifen - wenn der Bundesgerichtshof seine Ansicht revidiert und nichtangeschnallte Autofahrer wegen Mitverschuldens zur Kasse bittet. Heinrich Jagusch allerdings, einst Vorsitzender des BGH-Strafsenats für Verkehrssachen und heute Autor des einschlägigen Standardkommentars, hält solche Rechtsentwicklung für bedenklich: »Auch wenn der Gurt nur in einem von hundert Fällen nachteilig wirkt, ist das keine Größe, die vernachlässigt werden darf. Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit erlaubt keine verbindlichen Schutzvorschriften, deren Befolgung unversehens auch in nennenswerte Schädigung umschlagen kann. Jemandem Mitschuld aufzubürden, weil er den Gurt nicht angelegt hatte, bliebe deshalb auch nach neuem Recht verfassungswidrig.«

Aber nicht nur in diesem Punkt macht die unsichere Rechtslage begreiflich, daß Bonn von Strafe so großzügig absieht. Im Wege waren den Ministerialen auch ein paar längst gültige, aber mit Ausnahmen oder Fristen versehene Vorschriften über den serienmäßigen Einbau von Sicherheitsgurten und Gurtbefestigungen.

So müssen in allen Personenwagen, die zwischen dem 1. April 1970 und 31. Dezember 1973 erstmals zugelassen wurden, die Gurte erst am 1. Januar 1978 eingebaut sein. Schon das macht die zwei Jahre Wartefrist nötig, in der sich herausstellen soll, ob sich das Volk wohl von selber fesselt. Denn es verstieße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, würde man nur die Fahrer neuerer Autos belangen, weil sie Gurte haben, aber nicht anlegen, und gleichzeitig andere frei ausgehen lassen, die ohne Schnalle fahren, weil sie die noch gar nicht haben müssen.

Eine Ungleichheit jedoch wird auch nach Gscheidles Gnadenfrist bleiben und womöglich die Gerichte beschäftigen: eine Gruppe von Privilegierten, die sich niemals anschnallen und auch niemals Gurte kaufen müssen, weil ihre Autos schon vor dem 1. April 1970 in den Verkehr kamen. Es werden immerhin mindestens sieben Millionen westdeutsche Kraftfahrer sein.

Bonns Verkehrspolitiker, so scheint es, sind mit dem Gurt in eine drückende Lage geraten. Einerseits gehalten, die Zahl der Unfallopfer im Dienst des Ganzen zu senken, fehlt es ihnen andererseits an einer soliden Rechtsbasis, das Gute zu erzwingen. Undank könnte der Lohn sein bei einem beträchtlichen Teil des Wahlvolks, das weder durch Schock noch Schelte, nicht durch Aufklärung oder durch Abschreckung aus den Fesseln des Unterbewußten zu lösen ist.

Selbst die Psychologen, sonst um therapeutischen Rat nie verlegen, müssen passen: »Angesichts der massiven Widerstände gegen den heutigen Sicherheitsgurt und der daraus resultierenden geringen Erfolgsaussichten einer Werbung«, so resümierten die Wissenschaftler der Kölner Bundesanstalt, sei eine »Vorschrift zum Anlegen« nun die »beste Möglichkeit, die Anlegequote durchgreifend« zu erhöhen.

Bleibt die Frage, ob es denn überhaupt des Staates ist, die nützliche Fessel zu gebieten. Und ein bekannter Kollege der Kölner Forscher etwa, der Gießener Psychotherapeut Horst Eberhard Richter, beantwortet sie ziemlich anders. Er ist »sehr im Zweifel«, ob, über intensive Aufklärung hinaus, die gesetzliche Anschnallpflicht »dem üblichen Grad der staatlichen Fürsorge für die Menschen entspricht«. Denn damit werde »aus der Vielzahl von Selbstgefährdungen - Zigaretten- oder Alkoholkonsum, falsche Ernährung, Bewegungsmangel oder Überarbeitung - ausgerechnet eine herausgepickt und ganz rigoros diszipliniert. Eine gewisse Heuchelei«.

* Demoskopische Untersuchungen ergaben beispielsweise, daß in Finnland 90 Prozent der Befragten Sicherheitsgesichtspunkte mit dem Gurt verbinden, in den USA 92 Prozent die unfallmildernde Wirkung des Gurts anerkennen. Für die Anlegepflicht votierten 51 Prozent in Schweden, für die Einbaupflicht 83 Prozent in den USA und 88 Prozent in Finnland.

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