Spiegel des 20. Jahrhunderts Sie kamen in der Nacht
Mit einer Polizeiaktion begann die SPIEGEL-Affäre
Die ersten kamen am Freitag, dem 26. Oktober 1962, kurz nach 21 Uhr ins Haus, und danach kamen sie, Welle um Welle, aus Karlsruhe, aus Wiesbaden, aus Bonn, aus Hamburg. Sie kamen mit dem Verdacht, es sei Landesverrat begangen worden, landesverräterische Fälschung und aktive Bestechung. Sie durchsuchten die Häuser von Rudolf Augstein, Claus Jacobi, Johannes K. Engel, Conrad Ahlers und Hans Schmelz. Sie nahmen mit, was ihnen bedeutsam erschien, und gaben die Häuser wieder frei. Sie nahmen Johannes K. Engel und Hans Dieter Jaene fest und gaben sie wieder frei. Sie verhafteten Rudolf Augstein, Claus Jacobi, Conrad Ahlers, Hans Schmelz und, acht Tage nach Beginn der Aktion, Hans Detlev Becker.
Sie durchsuchten, wenige Stunden bevor das SPIEGEL-Heft 44 abgeschlossen war, das Bonner Büro, und sie besetzten alle fünf Etagen der Hamburger Zentrale, und hier blieben sie. Sie besetzten - zum Zwecke einer »Durchsuchung« - die Chefredaktion und die Besenkammern der Putzfrauen, die Bibliothek und den Konferenzraum, das Archiv und die Kulturredaktion, die Toiletten wie die Feuertreppen, die Rechtsabteilung wie die Buchhaltung, das Fotolabor wie die Vertriebsabteilung, die Werbeabteilung wie die Wirtschaftsredaktion. Sie besetzten 2933,8 Quadratmeter Büroraum, sie besetzten den Arbeitsplatz von 209 Mitarbeitern, und da blieben sie - am Sonnabend, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch. Da waren sie noch am Wochenende. Erst am Mittwoch nachmittag gaben sie wenigstens die Räume in der siebenten Etage, die Fernschreib- und die Telefonzentrale wieder heraus.
Sie kamen am Freitag und begannen ihre Aktion, für die es in der Geschichte der Bundesrepublik keine Präzedenz und kein Beispiel gibt, wohl aber dies: eine Erklärung. Sie kamen und begannen ihre Aktion, die inzwischen jedenfalls zu einer Koalitionskrise und zu einer Regierungskrise, im Vokabular der Kommentatoren sogar zu einer Staatskrise geführt hat.
Sie kamen unangemeldet. Aber so ganz unangemeldet kamen sie auch wieder nicht. Die Nebengeräusche ihrer Maschinerie knickten und knackten seit fast zwei Wochen in jedes Telefongespräch, zuweilen schüttelte es die Verbindungen durcheinander, mitunter löschte ein ungeschickter Griff ihrer Techniker 20 Telefongespräche auf einen Schlag. Der Fernmelde-Techniker von Mix & Genest, für den es in der Hamburger Zentrale fast unausgesetzt Arbeit gibt, die komplizierten Telefon-, Wechselsprech- und Konferenz-Anlagen in Ordnung zu halten, war in seiner Fachmann-Ehre keineswegs getroffen. Er lokalisierte den Schaden mit Entschiedenheit: »Das muß an der Post liegen.« Dagegen stellte die Oberpostdirektion Hamburg auf Befragen klar, daß »postseitig nichts Außergewöhnliches vorliege«.
Am vorletzten Mittwoch blockierten sie aus ihrem Versteck dem Bonner Büro die Leitungen bis auf eine einzige. Es war an jenem gleichen Mittwoch, dem 24. Oktober, an dem der Bundesverteidigungsminister auf einem parlamentarischen Abend beim Bundespräsidenten eine Probe dessen gab, was er unter »glossierend-ironischer Form« (so Oberst Schmückle) versteht: sein Votum, der Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid gehöre ins Gefängnis, der Hamburger Innensenator Schmidt sei reif fürs Zuchthaus und der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Jahn müsse aufgehängt werden.
Die Befehle zur vorläufigen Festnahme der SPIEGEL-Leute tragen das Datum vom Dienstag, dem 23. Oktober. Am Donnerstag, dem 25. Oktober, wurde nach Erledigung der Kleinen Anfrage wegen »Onkel Aloys« per Abstimmung im Bundestag festgestellt, daß sich Verteidigungsminister Strauß nicht pflichtwidrig verhalten habe. Am Freitag begann eine Aktion, von der zumindest im Ausland der Eindruck entstand, die Resultate der Durchsuchung sollten nachträglich legitimieren, was da getrieben wurde - mit den Worten des »Guardian": »Die noch immer andauernde Besetzung der Zeitungsbüros hat den Verdacht genährt, daß die Bundesanwaltschaft zu wenig Material für ihre Zwecke besitzt und hofft, in den Archiven der Zeitung einen Grund für das Einschreiten zu finden.«