»SIE KÖNNEN NUR DIE TOTEN LIEBEN«
Da ich keine Redeerlaubnis habe, beantrage ich, daß der Kongreß folgende Fragen untersucht:
Die unerträgliche Unterdrückung, der unsere Literatur seit Jahrzehnten durch die Zensur ausgesetzt ·ist und die der »Schriftstellerverband nicht länger hinnehmen darf.
Die Zensur, die in der Verfassung nicht vorgesehen und daher illegal ist, die Zensur, die nie ihren Namen nennt, übt unter der obskuren Bezeichnung »Glawlit« einen Zwang auf die Literatur aus. Sie gibt Menschen ohne Kultur die Möglichkeit, willkürliche Maßnahmen gegen Schriftsteller zu treffen. Die Zensur, dieses Überbleibsel aus dem Mittelalter, lebt bis fast ins 21. Jahrhundert fort. Etwas Vergängliches versucht, sich des Ewigen zu bemächtigen und gute Bücher von schlechten zu scheiden.
Viele Mitglieder des Schriftstellerverbandes und sogar Delegierte dieses Kongresses wissen, wie sie sich selbst dem Druck der Zensur beugen mußten. Sie haben Kapitel, Seiten, Absätze und Sätze geändert; sie haben sie nur deshalb versüßt, damit sie gedruckt werden. Der beste Teil unserer Literatur kommt verstümmelt an die Öffentlichkeit.
Eine Zeitlang durfte man sogar Dostojewski, den Stolz der Weltliteratur, bei uns nicht drucken (heute erscheint er auch noch nicht vollständig>. In den Lehrplänen der Schulen kam er nicht vor, dem Leser war er nicht zugänglich, und man beschimpfte ihn. Wie viele Jahre hat man Jessenin als »Konterrevolutionär« betrachtet -- und wurde man nicht mit Gefängnis bestraft, wenn man seine Bücher besaß? War Majakowski nicht ein »Anarchist« und ein »politischer Halbstarker«? Jahrzehntelang betrachtete man die unvergänglichen Gedichte einer Achmatowa als »antisowjetisch«.
Lange Zeit durfte man den Namen Pasternak nicht laut aussprechen. Jetzt aber, da er tot ist, werden seine Werke verlegt, und seine Verse werden sogar bei feierlichen Anlässen zitiert. Es erfüllen sich in der Tat Puschkins Worte: »Sie können nur die Toten lieben.«
Es gab vor allem in den zwanziger Jahren Schriftsteller wie Pilnjak, Platonow und Mandelstam, die bereits sehr früh die Entstehung des Personenkults und die Charakterzüge Stalins anprangerten -- aber statt sie anzuhören, beseitigte man sie und machte sie mundtot.
Eine Literatur, die nicht den Schmerz und die Unrast der Gesellschaft wiedergeben kann, die nicht rechtzeitig vor den moralischen und
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sozialen Gefahren warnen kann, verdient nicht den Namen Literatur, sie kann nur noch als Fälschung bezeichnet werden. Eine solche Literatur verliert das Vertrauen ihres Volkes. Ihre Bücher verdienen es nicht, gelesen zu werden. Sie sind nur altes Papier.
Unsere Literatur hat die führende Stellung verloren, die sie am Ende des »vergangenen Jahrhunderts in der Welt einnahm. Sie hat auch die Lust am Experiment eingebüßt, durch die sie sich in den zwanziger Jahren auszeichnete. Für die ganze Welt wirkt die Literatur unseres Landes heute weit ärmer niveauloser und dürftiger, als sie in Wirklichkeit ist. Das wäre nicht der Fall, wenn man sie nicht einengen und ihr den Weg versperren würde.
Verlierer ist unser Land, so wie es in der Welt beurteilt wird, aber auch die Weltliteratur,
Ich schlage vor, daß der Kongreß die Aufhebung der offenen und auch der versteckten Zensur des künstlerischen Schaffens fordert und durchsetzt, daß die Verlage der Pflicht enthoben werden, vor der Veröffentlichung eines Werkes eine Genehmigung einzuholen.
Viele Schriftsteller waren zu Lebzeiten Verleumdungen ausgesetzt, ohne die Möglichkeit zu antworten; schlimmer noch: Sie waren der Gewalt und der persönlichen Verfolgung ausgesetzt.
Der Schriftstellerverband gab ihnen weder in seinen Publikationen Raum zu ihrer eigenen Rechtfertigung, noch tat er etwas zu ihrer Verteidigung. Die Leitung des Verbandes hat sich statt dessen stets an die Spitze der Verfolger gestellt. Diejenigen, die unsere Dichtung des 20. Jahrhunderts bereichern, wurden aus dem Verband ausgeschlossen, oder aber sie wurden gar nicht erst aufgenommen.
Mehr noch: Die Leitung des Schriftstellerverbandes hat feige jene ihrem Unglück überlassen, die verfolgt und schließlich ins Exil geschickt, in Lager gesteckt oder zum Tode verurteilt wurden.
Wenn sich der Kongreß meinen Worten nicht verschließt, bitte ich, den Verboten und Verfolgungen Aufmerksamkeit zu schenken, die ich selbst durchgemacht habe:
Mein Roman »Im ersten Kreis« wurde vor fast zwei Jahren vom Staatssicherheitsdienst beschlagnahmt. Dadurch wurde ich gehindert, ihn einem Verlag vorzulegen.
Man führt schon seit drei Jahren eine Verleumdungskampagne gegen mich -- einen Mann, der während des ganzen Krieges als Batteriechef gedient und militärische Auszeichnungen erhalten hat.
Man sagt, ich hätte diese Zeit als zivilrechtlich Verurteilter in der Haft verbracht oder ich wäre zum Feind übergelaufen (ich war nie in Gefangenschaft), ich hätte »das Vaterland verraten« und »den Deutschen gedient«. So erklärt man die elf Jahre, die ich in Arbeitslagern und im Exil zugebracht habe. Mir ist jede Möglichkeit genommen, darauf zu antworten.
Meine Erzählung »Auf der Krebsstation« (25 Blatt), die vom Moskauer Schriftstellerverband zur Veröffentlichung empfohlen worden war, darf weder kapitelweise (abgelehnt von fünf Zeitschriften) noch insgesamt (abgelehnt von »Nowy Mir«, »Swesda« und »Prostor") verlegt werden.
Das Stück »Das Rentier und die Hütte«, das das Theater »Sowremennik« (Zeitgenosse) 1962 annahm, ist bis heute noch nicht zur Aufführung freigegeben worden.
Meine Erzählungen, die in »Nowy Mir« erschienen, sind für das große Publikum nicht zugänglich.
Gleichzeitig verbietet man mir die öffentliche Lesung meiner Werke. Dabei ist schon die bloße Weitergabe eines Manuskripts zur »Lektüre und Abschrift« bei uns jetzt eine kriminelle Handlung (die alten russischen Schreiber durften das schon vor 500 Jahren tun).
So hat man mein Werk endgültig unterdrückt, mundtot gemacht und verleumdet. Gewiß, ich bin gelassen, denn ich erfülle dennoch meine Pflicht als Schriftsteller. Niemand kann der Wahrheit den Weg versperren. Für diese Entwicklung bin ich auch zu sterben bereit.
Aber werden uns diese unzähligen Lektionen nicht schließlich lehren, daß man einem lebenden Schriftsteller nicht den Mund verbieten darf?