»Sie kommen, ob wir wollen oder nicht«
Angst hat die Deutschen gepackt, Angst vor den Fremden, Angst um den Arbeitsplatz und vor hohen Mieten, Angst vor Inflation oder Rezession, Angst auch vor der unvermeidlichen Einsicht, daß die Insel des Wohlstands, auf der sie leben, nicht mehr lange zu halten ist. Die Wohlstandsfestung wird belagert.
Drei Tage vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein konnte Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) die neuesten Rekordzahlen melden: 35 059 Asylbewerber kamen im März nach Deutschland, knapp 4000 mehr als im Februar und mehr als je in einem Monat zuvor. Aufs Jahr hochgerechnet könnten es an die 400 000 werden - gegenüber 256 000 im Jahre 1991 (siehe Grafik Seite 29).
Springers Bild, seit Tagen voller Horrorberichte von der Flüchtlingsfront, titelte unter der Dachzeile »Die Flut steigt - wann sinkt das Boot?« in fetten Lettern: »Fast jede Minute ein neuer Asylant«.
Vor Ort, in Städten und Gemeinden, deren Verwalter nicht mehr wissen, woher sie die Quartiere nehmen sollen, »kocht die Volksseele« - so Dietmar Schöbel, Sozialdezernent des Landkreises Darmstadt-Dieburg (siehe Kasten Seite 36). »Mehr geht nicht mehr«, konstatiert Pforzheims Oberbürgermeister Joachim Becker.
Sein früherer Würzburger Kollege Klaus Zeitler trat aus Wut über die Hilflosigkeit der Politik aus der SPD aus: »Ausländerfreundlichkeit darf nicht zu Inländerfeindlichkeit führen.« Der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann machte sich den Volkszorn zu eigen - mit einem so untauglichen wie populistischen Ratschlag gegen die Flüchtlinge: »Prüfung des Antrages so schnell wie irgend möglich, gegebenenfalls Überprüfung durch einen Einzelrichter an Ort und Stelle - und dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.« Die Berliner »Antirassistische Initiative« antwortete mit einer Strafanzeige.
Politiker und Parteien, muß der geängstigte Bürger denken, haben ihn im Stich gelassen. Sie erweisen sich als handlungsunfähig, schrecken nur mit steigenden Asylantenzahlen und jammern über das schöne Geld, das für die ungeliebte gute Tat ausgegeben werden muß. Die Regierung verkündet Mal für Mal neue Rezepte, schiebt der Opposition seit Jahren in vertrauten Ritualen die Schuld an der Misere zu - aber es ändert sich nichts.
Die Opposition läßt sich gelegentlich zum Mitmachen überreden - und feiert es als Sieg, wenn sie am offenbar edelsten Teil der Verfassung, dem Asylrecht, nicht rütteln läßt.
Die Unionschristen fordern gebetsmühlenartig ebendies, als ob davon der Zustrom abebben würde; und viele von ihnen geraten in verdächtige Nähe zu rechten Fremdenhassern, wenn sie in öffentlichen Versammlungen einer Gastfeindschaft das Wort reden.
Die Liberalen, wie immer in der Mitte, balancieren zwischen den Lagern; ihr Justizminister Klaus Kinkel vertritt beidbeinig die Linie der Opposition ("Keine Verfassungsänderung") wie den Kurs der Regierung, die, irgendwie, der Immigration Herr werden will.
Nur eben - keiner sagt, wie.
Den Schaden haben alle gemeinsam: Politikverdrossenheit, Renaissance der Rechten, Aufregung im Ausland über die häßlichen Deutschen, sobald - wie in Hoyerswerda im letzten Herbst - wildgewordene Fremdenhasser Jagd auf Asylanten machen oder - wie in Hünxe - Wohnheime anstecken.
Nach Umfragen der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen traut eine überwältigende Mehrheit der Deutschen keiner der Parteien mehr eine Lösung zu. Die Bürger haben ja auch ihre Erfahrung mit der Diskrepanz von Reden und Handeln.
Längst ist das Versagen der Politik offenkundig. Daß es zu viele Ausländer in Deutschland gibt und daß viel zu viele Asylbewerber hier Zuflucht suchen, darüber hat schon Kanzler Helmut Schmidt beredt geklagt. Zur allgemeinen Erfahrung gehört auch, daß die Politik Schindluder mit diesem Problem treibt, für das sie keine Lösung bietet.
Siebenmal hat Bonn seit 1978 das Asylverfahrensrecht verschärft - von ein paar kurzfristigen Rückgängen abgesehen, änderte sich am stetigen Anstieg der Bewerberzahlen nichts. Derzeit ist die achte Asylnovelle auf dem parlamentarischen Weg. Aussicht auf Einsicht, Wille zur Behebung »der für Deutschland lebensentscheidenden Frage«, wie SPD-Chef Björn Engholm pathetisch sagt?
Ihr Ziel, die mit der Armutsflucht aus Osteuropa steigende Zahl der »offensichtlich unbegründeten« Asylanträge möglichst binnen sechs Wochen zu erledigen, nennt Bayerns CSU-Innenminister Edmund Stoiber schon vorab »völlig unrealistisch, um nicht zu sagen lächerlich«.
Daß er recht behalten werde - da ist sich Stoiber, sind sich die Unionschristen ganz sicher. Der Mann aus Bayern regt sich allerdings nicht weiter über die systematische Tatenlosigkeit auf. Er hofft auf Zermürbung.
Wenn immer mehr Flüchtlinge kämen und wirklich nur wenige wieder loszuwerden seien, so kalkuliert der CSU-Oberstratege schon seit Jahren, dann endlich würden auch SPD und FDP einsehen, daß an die Wurzel des Übels gegangen werden müsse - an den großherzigen Artikel 16, den die Väter des Grundgesetzes, auch in Erinnerung an die eigene Emigration während der Nazi-Zeit, in ehernen Lettern in die Verfassung aufnahmen. Er bestimmt in bündiger Kürze; »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«
Stoiber ist nicht allein, soviel immerhin hat er mit seiner hartnäckigen Dauerpolemik erreicht. Laut Umfragen glauben inzwischen 60 Prozent der Bundesbürger, daß das Problem nur so zu lösen sei.
Und was, wenn sich auch das als Illusion erweist?
»Das Boot ist voll": Die beliebte und nicht nur deutsche Stammtisch-Metapher verrät vor allem eines - Hilflosigkeit. Niemand hat ein Rezept, geschweige denn ein patentes, dem Flüchtlingsdruck wirksam zu begegnen - es sei denn, er wäre bereit, die Mauern wieder hochzuziehen, deren Abriß die Deutschen eben noch als Sieg der Freiheit über die roten Diktaturen feierten.
Tatsächlich beginnen sich die Prinzipien, die den Triumph der freiheitlichen Demokratien ermöglicht haben, gegen die Sieger zu kehren.
»Ausreisefreiheit« war eine der zentralen Maximen, mit denen der Westen die eingemauerten Ost-Staaten zermürbt hat. Nun ist »wahrscheinlich der Tag nicht mehr fern«, sagte der Zürcher Migrationsexperte Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny, an dem dieser Parole »die Forderung nach Einreisefreiheit entgegengestellt wird«.
Mauern im politisch entspannten Europa nach dem Kalten Krieg - Mauern auch vom reichen Norden, aufgerichtet gegen den ausgepowerten Süden? Den freien Fluß von Kapital, Gütern und Dienstleistungen verlangen die Industriestaaten auf allerlei Konferenzen. All das gehört zum festen Bestand des Kapitalismus.
Warum sollen da die übervölkerten Länder der Dritten und Vierten Welt nicht den freien Fluß von Menschen fordern?
Vor dem Hintergrund von Not, Elend und Bürgerkrieg in der Dritten Welt, vor den globalen Flucht- und Wanderungsbewegungen erscheinen die deutschen und europäischen Diskussionen über Flüchtlinge wie das Kurieren von Symptomen. Der österreichische Ex-Außenminister Willibald Pahr, jetzt Sonderbeauftragter für Zuwanderungsfragen im Wiener Innenressort, sieht es ganz nüchtern: »Die Einwanderung findet statt, ob wir es wollen oder nicht.«
Die meisten Politiker aber tun so, als könnten beschleunigte Verfahren, Grundgesetzänderungen und europäische Asylregeln, womöglich ergänzt um ein EG-Einwanderungsrecht, nachhaltig Entlastung bringen.
Wie Pahr hält auch der Club of Rome dagegen, daß in Wahrheit »keine Maßnahmen die Einwanderungsbewegung wirkungsvoll stoppen werden«. Nicht minder wichtig als höhere Entwicklungshilfe, so das internationale Wissenschaftler-Gremium 1991 in seinem Bericht »Die globale Revolution«, sei es deshalb, »die Bevölkerung der reichen Länder darauf vorzubereiten, diese Tatsache zu akzeptieren«.
Diesen Versuch erst gar nicht zu unternehmen - darin liegt das wahre Versagen der Politik.
Zu Hunderttausenden hatte sich die deutsche Industrie in den sechziger und frühen siebziger Jahren Arbeitskräfte aus dem armen Süden Europas und der Türkei ins Land geholt. Sie wurden ausgewählt nach den Methoden des Viehmarkts und dann gezwungen-freundlich »Gastarbeiter« getauft. In dem beschönigenden Begriff drückte sich die Erwartung aus, daß der Gast eines Tages zurück in die eigentliche Heimat geht.
Als neue Gastarbeiter nicht mehr gebraucht wurden und die alten gar nicht an Abreise dachten, wurde 1973 ein Anwerbestopp verfügt und auf »Integration« umgeschaltet. Wer sich deutschen Gepflogenheiten anpaßte oder seiner Ursprungsreligion und -kultur nur privat lebte, sollte bleiben dürfen. Für den Ausländer, der fremd bleiben wollte, galt weiter die Drohung, daß der Staat jederzeit seinen Aufenthalt beenden könne.
Seit Hunderttausende Fremde mit der Losung »Asyl« nach Deutschland strömen, die niemand angeworben oder eingeladen hat, ist Abwehr die vorherrschende Haltung. Ungehört verhallen im Sturm der Emotionen die Hinweise der wenigen rationalen Politiker, wie des Christdemokraten Heiner Geißler, daß die geburtenschwachen Deutschen auf Einwanderer angewiesen sein werden, wenn sie im nächsten Jahrtausend ihre Wirtschaft in Gang halten und ihre Sozialsysteme finanzieren wollen - und daß die Inländer die Ausländer für Arbeiten brauchen, die sie selber nicht mehr übernehmen wollen.
Längst verfluchen viele rechte und etliche linke Politiker das idealistische Erbe der Republik-Gründer. Sie kaprizieren sich auf die Änderung des Grundgesetzes, als käme das Problem allein und ausschließlich mit einem solchen Streich aus der Welt.
Um eine Änderung des Asylartikels zu begründen, werden immer neue Ideen entwickelt. Sie haben eines gemeinsam: Die Flüchtlinge aus Europa und dem Rest der Welt lassen sich dadurch kaum abschrecken, ihre Anzahl läßt sich kaum verringern.
»Eine Geisterdiskussion«, klagt FDP-Justizminister Klaus Kinkel, »so kriegen wir die Probleme nicht in den Griff.« Sie sind außer Kontrolle.
Eine Liste von Staaten wollte schon Seiters-Vorgänger Wolfgang Schäuble den Grenzern in die Hand drücken. Der Liste hätten sie entnehmen können, in welchen Staaten der Erde derzeit keine politische Verfolgung stattfindet. Wer aus diesen Ländern Asyl in der Bundesrepublik begehrt, den sollten die Grenzämter in seine Heimat oder anderswohin zurückschicken.
Eine saubere Lösung - aber nur auf den ersten Blick. Nähere Betrachtung zeigt, daß sich zwar etliche Länder finden lassen, die solchen Kriterien genügen. Die Staaten aber, aus denen der Hauptstrom der Flüchtlinge stammt, gehören gewiß nicht dazu.
Das um Kroatien und Slowenien geschrumpfte Rest-Jugoslawien (13 175 Bewerber im März) und Rumänien (5544), woher die meisten Flüchtlinge kommen, können derzeit unstreitig in eine solche Liste nicht aufgenommen werden, ebensowenig wie die Türkei (2406), die brutal die Kurden verfolgt (siehe Seiten 182, 184).
Fazit: Allenfalls 15 Prozent der Asylbewerber, so die Rechnung des Bundesjustizministers, könnten an der Grenze abgewiesen werden - wenn sie sich dort melden würden.
In Wirklichkeit sind bislang nur sieben Prozent der Flüchtlinge an der Grenze oder auf Flughäfen registriert worden. Der Rest beantragt erst nach der Einreise Asyl. Wer sich aber im Lande aufhält, der kann, auch wenn das Grundgesetz geändert wird, nicht einfach wieder herausgeschafft werden. Er erhält nach der Genfer Flüchtlingskonvention ein vorläufiges Bleiberecht, bis sein Verfahren abgeschlossen ist.
Hat sich aber erst einmal das Listenverfahren herumgesprochen, wird sich wohl niemand mehr an der Grenze offenbaren. Die Patentlösung erweist sich als Flop.
Seither setzt die Union ihre Hoffnungen auf eine europäische Regelung. Im luxemburgischen Schengen und in Dublin wurden bereits EG-weite Abkommen geschlossen. Kernsatz: Einen Asylantrag prüft der Vertragsstaat, in den der Bewerber zuerst eingereist ist.
Wandert er von dort weiter in ein anderes Land, kann er sofort ins erste Aufnahmeland zurückgeschickt werden. Und: Die Länder erkennen ihre Asylentscheidungen gegenseitig an. Ein abgelehnter Bewerber soll also sein Glück nicht mehr in einem Nachbarstaat versuchen können.
Ein nationaler Vorbehalt ermöglicht den Partnern freilich auch ein anderes Vorgehen. Nach dem Schengener Abkommen »behält jede Vertragspartei das Recht, bei Vorliegen besonderer Gründe, insbesondere des nationalen Rechts, ein Asylbegehren auch dann zu behandeln, wenn die Zuständigkeit aufgrund dieses Übereinkommens bei einer anderen Vertragspartei liegt«. Die Bundesrepublik ist sogar verfassungsrechtlich verpflichtet, einem etwa in Frankreich Abgelehnten ein neues Verfahren zu gewähren.
Genau diesen Vorbehalt wollen die Unionschristen nicht länger hinnehmen. Der Innenminister hat zu diesem Zweck den Entwurf für eine Änderung des Artikels 16 vorgelegt, der im Juni, gemeinsam mit der Ratifizierung des Schengener Abkommens, im Bundestag beschlossen werden soll. Danach *___steht Artikel 16 völkerrechtlichen Verträgen nicht ____entgegen, in denen »eine gegenseitige Anerkennung von ____Asylentscheidungen vorgesehen ist«; *___genießt kein Asylrecht, wer aus einem Staat einreist, ____in dem ihm keine politische Verfolgung oder Abschiebung ____droht. Auch wer sich nur kurzfristig bei einer ____Transitlandung in einem der Unterzeichnerstaaten ____aufgehalten hat, kann dorthin zurückgeschickt werden.
Seiters tritt mit seinen Vorschlägen in der Pose des Europäers auf: In einem Europa der offenen Grenzen dürften die Deutschen keinen »nationalen Alleingang« unternehmen. Eine »blanke Illusion« aber sei es anzunehmen, die übrigen Partner seien bereit, ein »unserem Standard entsprechendes« einklagbares Asylrecht zu übernehmen. Wer daran glaube, »blockiert, wenn auch ungewollt, den Prozeß der europäischen Harmonisierung«.
Ein fintenreiches Spiel: Die Schengener Ausnahmeklausel diente nie allein dazu, den Deutschen wegen deren Verfassung notgedrungen einen Sonderweg zu eröffnen. Keineswegs drängen alle Europäer die Deutschen zum Verzicht. Der Wunsch nach solchen Kautelen ging vielmehr auch von anderen Staaten aus, die für sich daran festhalten wollen.
Gerade die französische Regierung sah sich durch das Schengener Abkommen unzumutbar in ihren Souveränitätsrechten beschränkt. Sie wollte aus eigenem Recht den Bewerbern Asyl gewähren oder verweigern.
Auch das Innenministerium in Den Haag hat zu verstehen gegeben, die Regierung fühle sich an die Zuständigkeitsregeln nicht gebunden. Das Ratifizierungsverfahren wurde vom Parlament gestoppt. Den Vorbehalt wollen die Niederländer nicht aufgeben.
Die europäische Einigung zwingt also keineswegs - wie die Union es darstellt - zu einem Eingriff in das Asylgrundrecht.
Die EG, machte Hans Claudius Taschner, Abteilungsleiter bei der EG-Kommission klar, lasse sich nicht zur Lösung innenpolitischer Probleme mißbrauchen.
Das sehen die Unionschristen ganz anders. Sie setzten sich zum Ärger der Freidemokraten über eine Koalitionsabsprache hinweg. Bis Ende 1992 sollte danach eine europäische Lösung »in formeller und materieller Hinsicht« angestrebt werden.
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Hermann Otto Solms forderte Seiters auf, »unverzüglich« Verhandlungen über die »materielle Harmonisierung« zu führen. Im Kabinett gaben die Freidemokraten zu Protokoll, daß »für die notwendige Ratifizierung des Schengener Zusatzübereinkommens eine Grundgesetzänderung nicht notwendig« sei.
Wenn die Bundesrepublik die Verfassung einseitig im Vorgriff ändere, bevor das Ausländerrecht europaweit angeglichen sei, würden die anderen Staaten eine Rechtsänderung gar nicht erst erwägen, befürchtet FDP-Experte Burkhard Hirsch. Ähnlich argumentiert die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herta Däubler-Gmelin: »Wir geben dann das einzige Druckmittel aus der Hand, um ein einheitliches europäisches Recht zu schaffen.«
Außerdem, so die Kritik an den Unionsvorstellungen, sei mit der EGweiten Harmonisierung das Asylproblem nicht zu lösen. Denn nur die wenigsten Flüchtlinge erreichen über eines dieser Vertragsländer die Bundesrepublik. Die meisten reisen vielmehr aus Osten und Süden, über Polen und die Tschechoslowakei, Österreich und die Schweiz ein. Justizminister Kinkel: »Da bleibt eine große Flanke offen.«
Rücknahmeverträge müßten also wie mit Polen auch mit den anderen Staaten geschlossen werden - ein schwieriges Unternehmen. Die beteiligten Länder fordern dafür Geld und wollen zugleich sichergestellt wissen, daß sie die Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer, etwa nach Rumänien, weiterschicken können.
FDP und vor allem SPD, die für eine Verfassungsänderung gebraucht wird, wollen den geltenden Artikel 16 nur antasten, wenn die Asylbewerber in den Vertragsstaaten nach den gleichen »humanitären Grundsätzen« (Kabinettsprotokoll) behandelt werden wie in der Bundesrepublik. Die Opposition und der kleine Koalitionspartner haben entsprechende »Essentials« (Hirsch) ausgearbeitet.
Dabei fängt, wie so oft, das Problem schon mit der Definition an. Gesucht wird ein einheitlicher Flüchtlingsbegriff; bisher wird die Genfer Konvention, die in allen Vertragsstaaten gilt, unterschiedlich ausgelegt. Sie gewährt Schutz bei »begründeter Furcht vor Verfolgung«. Während in anderen Staaten allein diese Furcht als Grund für ein sicheres Asyl genügt, muß der Bewerber nach Artikel 16 des Grundgesetzes die Verfolgung beweisen. Die Konvention zielt also auf die Motive des Verfolgten, der Artikel 16 auf die des Verfolgers.
»So sind Fälle denkbar«, klagte der Vertreter des UN-Flüchtlingskommissars, Walter Koisser, »in denen ein Asylsuchender, der eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung geltend macht und gute Aussichten hätte, in einem anderen Schengen-Staat als Flüchtling anerkannt zu werden, aufgrund der Nichtberücksichtigung dieser Bestimmung in der Bundesrepublik abgelehnt würde«. Eine solche Ungleichbehandlung, so Koisser, sei »als äußerst bedenklich zu bewerten«.
Eine weitere Ungleichheit: Während in der Bundesrepublik der Nachweis einer Folterung nur Schutz vor einer Abschiebung gewährt, erhält ein Gefolterter beispielsweise in Frankreich Asyl.
Unterschiedlich werden auch Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien behandelt. Nach dem deutschen Ausländerrecht dürfen sie aus »humanitären Gründen« höchstens sechs Monate - nur mit Genehmigung des Bundesinnenministers länger - bleiben. In anderen Ländern können sie sich auf die Genfer Konvention berufen. Der Familiennachzug ist, andererseits, in der Bundesrepublik bei anerkannten Asylbewerbern großzügiger geregelt als anderswo.
Keinesfalls also gilt es, bei den Europa-Verhandlungen allein den angeblich so liberalen Artikel 16 abzubauen. Auch die strengere Handhabung der deutschen Behörden steht, wenn es um eine Harmonisierung geht, zur Disposition. Da kein anderes Land diese restriktiven Bedingungen übernehmen will, müßte sich die Bundesrepublik insoweit den Nachbarn anpassen.
In einer kardinalen Frage ist allenfalls ein Kompromiß denkbar: Bei ablehnendem Bescheid steht jedem Asylsuchenden nach Artikel 19, Absatz 4 des Grundgesetzes »der Rechtsweg offen«. Daran möchte offenbar bislang nur die CSU rühren, die das einklagbare Grundrecht durch einen bloßen Gnadenerweis ersetzen will.
FDP und SPD fordern für jeden Bewerber eine individuelle Entscheidung, also kein Listenverfahren, zudem die Prüfung durch eine unabhängige Instanz unter Beteiligung von Anwalt und Dolmetscher. Wenn schon kein Richter den Einzelfall überprüft, dann wenigstens, so Däubler-Gmelin, »eine weisungsfreie Instanz«.
Bei Innenminister Seiters ist irgendein Eifer nicht zu spüren, die Europa-Norm voranzubringen. Bis Juni, so seine Entschuldigung, »ist das alles nicht zu schaffen«.
Der wahre Hintergrund: Den Vorkämpfern der Union ist nur daran gelegen, die Bastion des Artikels 16 zu schleifen. Wenn die anderen Staaten an einem eigenen Verfahren festhalten, beunruhigt das die CDU/CSU-Strategen nicht weiter. Manche Forderungen ihres Koalitionspartners halten sie ohnehin für absonderlich. So lehnte Seiters bei einem Allparteiengespräch vorletzte Woche die Übernahme des liberaleren Flüchtlingsbegriffs aus der Genfer Konvention rundweg ab.
Aber seine Rechnung geht nicht auf. Weder Frei- noch Sozialdemokraten werden, wie Seiters hofft, nach den Landtagswahlen ihre bisherige Position reumütig opfern. Und manche der EG-Partner aus dem Schengener Abkommen haben inzwischen Zweifel bekommen, ob sie sich mit den Zuständigkeitsregeln einen Gefallen getan haben.
Würde nämlich die noch offene Flanke in Deutschlands Süden und Osten durch Rücknahmeabkommen geschlossen, käme Deutschland - Grundgesetzänderung vorausgesetzt - in eine beneidenswerte Position: Es müßte nur die kleine Minderheit jener Flüchtlinge aufnehmen, die auf dem Luft- oder Seeweg direkt ins Land kommen oder mit einem deutschen Visum anreisen. Alle übrigen hätten ja schon Gebietskontakt mit einem anderen Staat gehabt und somit dessen Zuständigkeit fürs Asylverfahren begründet.
Mit einem Anflug von Amüsement kommentierte die Süddeutsche Zeitung: »Die Franzosen als die einzigen, die den Schengen-Vertrag bisher ratifiziert haben, raufen sich deswegen die Haare: Zu spät haben sie erkannt, daß nur die Deutschen die Profiteure sein werden.«
Aber das Schweinchenschlau-Spiel wird nicht aufgehen. Denn natürlich denken die benachbarten Transitländer nicht daran, sich von den Deutschen die durchgereisten Fremden wieder zurückreichen zu lassen. Ohne eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge und der finanziellen Lasten gemäß der Leistungsfähigkeit wird es nicht zu machen sein.
Gegenüber allen praktischen Vorschlägen haben sich die Unionschristen bislang äußerst sperrig gezeigt, etwa im Fall der 113 000 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegs-Jugoslawien, die nach Auffassung von SPD und FDP die Aufnahmeverfahren verstopfen. Ihnen schlicht Schutz vor Abschiebung zu gewähren, bis die heimischen Verhältnisse eine Rückkehr zulassen, verhindern Widerstände der Union und absurde finanzielle Regelungen.
Für geduldete Flüchtlinge müssen nämlich die Gemeinden die Sozialhilfe aufbringen, bei Asylbewerbern zahlen die Länder - also drängen die Kommunen die Flüchtlinge ins Anerkennungsverfahren.
Den Vorschlag des freidemokratischen Koalitionspartners, die Länder zur Fürsorge für die Bürgerkriegs-Jugoslawen zu verpflichten, lehnten die Unionschristen ab: Sie möchten sich ihr Vorhaben, über stetig steigende Asylantenzahlen schnell zur ersehnten Grundgesetzänderung zu kommen, nicht verderben lassen. Sie handeln nach der Sonthofen-Empfehlung des seligen Franz Josef Strauß, daß »alles erst noch viel schlimmer« kommen müsse.
Nur widerwillig, als fürchteten sie einen Teilerfolg, ließen sich die Unionschristen denn auch auf die jüngste Beschleunigungsnovelle ein. Die könnte tatsächlich Entlastung bringen, auch wenn nicht alle der rund 40 Prozent offensichtlich unbegründeter Asylanträge innerhalb der geplanten Sechs-Wochen-Frist abgelehnt sein werden. Die künftigen Aufnahmebedingungen - Sammellager, dazu Sozialhilfe überwiegend in Naturalien - werden jedenfalls die Attraktivität des Zufluchtslandes Bundesrepublik erheblich verringern.
Seltsam großzügig bleibt die Union dagegen bei Deutschstämmigen in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion, von denen 1989/90 fast 800 000 auf den deutschen Wohnungs- und Arbeitsmarkt drängten. Immerhin, dank des neuen hochbürokratischen Aufnahmeverfahrens - die Aussiedlung muß vom Heimatgebiet aus betrieben werden - sank die Zahl 1991 auf 222 000.
Forderungen, die Kriterien einer Deutschstämmigkeit zu verschärfen, den Zuzug zu strecken und mit einem Abschlußdatum zu koppeln, wehren die Parteichristen beharrlich ab. Ein wie auch immer bestimmter Stichtag, so das Argument, würde Torschlußpanik auslösen, dann wollten zweieinhalb Millionen auf einen Schlag aussiedeln.
Schäuble in Erwartung treuer Wähler: »Wer als Deutscher nach Deutschland kommen will, für den bleibt auch in Zukunft das Tor offen.«
Nur in einem Punkt sind sich die Parteien wirklich einig: daß es besser wäre, die Milliarden, die - so der CDU/CSU-Fraktionsvize Johannes Gerster - »jährlich aus öffentlichen Kassen in ein oft wirkungsloses Asylverfahren fließen, sinnvoll in die Bekämpfung wirtschaftlicher Not vor Ort zu investieren«.
Den Menschen in den armen Ländern zu helfen, bevor sie sich auf den Weg ins reiche Europa machen - das klingt plausibel. Konkret werden mag aber niemand, aus gutem Grund.
Die internationale Armen- und Entwicklungshilfe hat den Wettlauf mit dem Bevölkerungswachstum längst verloren. Bis zum Jahr 2025 wird die Zahl der Menschen in den Industriestaaten lediglich um etwa 150 Millionen, die der Entwicklungsländer aber um weitere drei Milliarden gewachsen sein.
Wieviel Hunderte von Milliarden Dollar wären nötig, ihnen Arbeitsplätze oder Wohnraum zu verschaffen? In welchem Zeitraum wollen die Bonner Asylstrategen den Entwicklungshilfe-Etat verzehnfachen?
Tatsächlich ist der ökonomische Zusammenhang genau umgekehrt: Das Wachstum im Norden gründet auch auf der Armut der Dritten Welt und vernichtet dort oft genug Arbeitsplätze. Die national-egoistische Wirtschaftspolitik der Reichen zielt nun wirklich nicht darauf ab, daß die Armen konkurrenzfähig werden können.
Ob Bekleidung aus Afrika oder Indien, Futterpflanzen aus Thailand oder Rindfleisch aus Lateinamerika - wo die armen Länder wettbewerbsfähig zu werden drohen, schließen die Reichen zum Schutz der eigenen Branchen die Schlagbäume. So werden Bananen, die nicht aus französischen oder britischen Ex-Kolonialgebieten stammen, sondern etwa aus Lateinamerika, von der EG künftig mit einem abschreckenden Einfuhrzoll belegt (siehe Seite 140).
Die Bonner Regierung wolle »weltweit erreichen«, beteuert gleichwohl Entwicklungshilfe-Staatssekretär Hans-Peter Repnik, daß Menschen »weder aus Hunger, noch aus politischen, wirtschaftlichen, ethnischen oder religiösen Gründen ihre Heimat verlassen« - ein Beispiel für die Doppelmoral von Politikersprüchen.
Bonn investiert als Entwicklungshilfe 0,42 Prozent des Sozialprodukts und achtet peinlich darauf, daß diese Investitionen in Form von Aufträgen an die deutsche Wirtschaft zurückfließen.
An Ideen für eine pragmatische Lösung des leidigen Problems mangelt es keineswegs. Sie werden nicht nur von Einzelgängern vorgetragen und sind auch nicht das Monopol von linken Querdenkern. Zu den Protagonisten gehören der grüne Frankfurter Dezernent für Multikulturelles, Daniel Cohn-Bendit, ebenso wie Präsident Richard von Weizsäcker, der eigensinnige Heiner Geißler, der ostdeutsche Bürgerrechtler Konrad Weiß und SPD-Ministerpräsident Gerhard Schröder.
Ihre gemeinsame Forderung: eine neue Einwanderungspolitik. Als Vorbild dienen die klassischen Einwanderungsländer Kanada und Amerika.
Während Helmut Kohl an der praktisch widerlegten Maxime »die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland« eisern festhält, wollen die Verfechter eines neuen Denkens eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen offiziell aufnehmen. Das Asylverfahren würde daneben unangetastet bleiben. Jeder muß sich allerdings vorher entscheiden: Wer als Asylant abgelehnt wurde, kann es als Einwanderer nicht noch einmal probieren.
Die Sozialdemokraten haben eine Punktation für eine europäische Wanderungskonvention vorgelegt. In Abstimmung mit den übrigen Ländern sollen jährlich Quoten festgelegt werden. »Diese Quoten«, so heißt es in dem Papier, »werden nach der jeweiligen Aufnahmefähigkeit vor allem des Arbeitsmarktes, des Wohnungsmarktes und der Ausbildungskapazität bemessen.«
»Wenn es echte Einwanderer gibt«, so Cohn-Bendits Hoffnung, »dann gibt es weniger falsche Asylbewerber.« Zumindest müßten Wirtschaftsflüchtlinge nicht länger behaupten, sie würden in ihrem Heimatland politisch verfolgt - und die Asyldebatte in Deutschland fiele weniger demagogisch und verlogen aus, wäre nicht länger eine Beute der Parteistrategen und Wahlkampfideologen. Die Anerkennung der Wirklichkeit ist längst überfällig, nur die Politiker wollen sie nicht sehen.
Dazu gehört auch die bittere Erkenntnis, daß selbst ein geordnetes Einwanderungssystem den Flüchtlingsdruck kaum mindern wird. Im Gegenteil: Die Berichte von einem, der den Weg ins gelobte Land legal geschafft hat, können für viele Anreiz sein, ihr Glück illegal zu versuchen.
Und da helfen auch keine Mauern, wie das Beispiel USA lehrt. Mit Patrouillen, Metallzaun und raffiniertem elektronischem Gerät wollen die Nordamerikaner ihre Grenze zu Mexiko entlang dem Rio Grande dicht halten. Vergeblich, Abertausende der Armen schlüpfen durch - und sind der kalifornischen Agrarindustrie als Billigsttagelöhner hoch willkommen.
In Europa wird es nicht anders sein. Migrationsforscher Hoffmann-Nowotny: »Der Rio Grande ist heute überall.«
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__29_ Asyl: Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik pro Jahr
_____ / 1981 bis 1991
__32_ Asylbewerber und Aussiedler in der Bundesrepublik 1991
[GrafiktextEnde]