»Sie müssen sich doch nicht rechtfertigen!«
Henri Nannen, 71, besteht darauf, schuldig zu sein. Er hat sich »um gar nichts gekümmert« (nach einem bestimmten Gespräch) und wirft sich das vor. Er hätte etwas »durchsetzen müssen« und auch »durchsetzen können«, wenn er nicht versagt hätte. Dieses Versagens wegen kann er den »Freispruch erster Klasse«, den ihm der (betriebsinterne) Untersuchungsausschuß gegeben hat, »nicht entgegennehmen«.
In einer Frage, die Henri Nannen vom Vorsitzenden Richter Dr. Hans-Ulrich Schroeder, 53, gestellt wird, kommt das Wort »Verantwortung« vor, und schon stellt sich Henri Nannen dem Jüngsten Gericht mit dem Bekenntnis, er könne sich »aus der Verantwortung nicht herausmogeln«. Da steht, genauer: sitzt er und kann nicht anders.
Der Richter Schroeder, der in einer entschieden irdischen Strafsache eine Hauptverhandlung nicht im Himmel, sondern auf Erden zu leiten hat, erläutert eilends, daß es ihm mit seiner Frage nicht um Verantwortung »in irgendeinem höheren Sinne« geht. Er hat nur die organisatorische Zuständigkeit gemeint, nur um Auskunft über einen Arbeitsablauf gebeten.
Bei anderer, ähnlicher Gelegenheit spricht der Richter Schroeder von »diesem Prozeß, der seine Besonderheiten hat«. Angesichts dieser Besonderheit versteht der Richter Schroeder, daß Henri Nannen zu einem Punkt etwas erzählen möchte. Doch angesichts der Unbändigkeit, mit der Henri Nannen darauf besteht, schuldig zu sein, genügt derartiges Gewährenlassen auf die Dauer der Vernehmung nicht.
Und so beschwört der Richter Schroeder schließlich den Zeugen fast verzweifelt: »Herr Nannen, Sie müssen sich doch gar nicht rechtfertigen!«
Henri Nannen ist Zeuge. Er wird zur möglicherweise vom Gericht festzustellenden strafrechtlichen Schuld von drei Angeklagten gehört. Es geht nicht um Vorwürfe, die sich gegen ihn richten.
Doch so, wie er sich als Zeuge einläßt, wie er sich unbeirrbar zu seiner Schuld bekennt, kann man sich zuletzt des Eindrucks nicht erwehren, daß nicht vor einem Strafgericht verhandelt wird, sondern vor einer weitaus höheren, der allerletzten Instanz, dem Jüngsten Gericht eben.
Glanz und Elend des journalistischen Berufs sind während einer »Stern«-Ära von 33 Jahren vom Chefredakteur Henri Nannen verkörpert worden. Wann der Glanz überwog und wann das Elend, wie sehr das eine das andere durchdrang - ist unsere Sache nicht. Darauf kann allerdings auch Henri Nannen keine Antwort geben.
Er versucht zu antworten, indem er darauf besteht, schuldig zu sein. Er hätte das, was er geschaffen hat, so meint er, bewahren können. Darum wirft er sich vor, bekennt er sich dazu, versagt zu haben. Seine Schöpfung, der »Stern«, soll bleiben. Was man ihr vorwirft, was man ihr nachträgt, soll man ihm, Henri Nannen, vorwerfen und nachtragen.
Der »Stern« hat Konrad Kujaus Hitler-Tagebücher überlebt, er wird weiterleben - doch ein ganz anderer »Stern« als der, den Henri Nannen erfand und lange behauptete. Seine Erfindung begann schon zu brechen während der letzten Phase, in der er Chefredakteur war.
Am 1. Januar 1981 wurde er Herausgeber. Drei Chefredakteure traten an seine Stelle. Doch der »Stern«, der 1983 die Katastrophe erlitt, gefälschte Tagebücher Hitlers zu veröffentlichen - ist der »Stern« Henri Nannens gewesen.
Sein »Stern« war der genialische Versuch, die Illustrierte mit dem Nachrichtenmagazin zu vereinen. Solange Henri Nannen die Kraft hatte zu behaupten, dieser Versuch sei gelungen, hielt er die Behauptung aufrecht. Doch diese Behauptung war an seine Person, an seine Person in voller Kraft gebunden.
Und als die Kraft nachließ, waren dann auch schon Veränderungen im Anmarsch, die aus dem genialischen Versuch eine zuletzt nur noch gewalttätige Unternehmung machten. Es war eine Medienentwicklung in Gang gekommen, die früher oder später jedem gedruckten Objekt eine Besinnung, eine Konzentration auf das abverlangte und abverlangen wird, was seine Sache ist.
Im »Oberhausener Manifest« verkündeten 1962 junge Filmautoren, Regisseure und Produzenten: »Der alte Film ist tot.« Daraus hat man später den »Tod von Opas Kino« gemacht. Mit Konrad Kujaus Hitler-Tagebüchern im »Stern« hatte Opas Illustrierte ihren »unheimlich starken Abgang« - die Illustrierte, die Henri Nannen auf einen letzten Gipfel gezwungen hatte.
Sechs, sieben bunte, lärmerfüllte Manegen nebeneinander sind in einer sich füllenden und nächstens überfüllenden Medienlandschaft nicht mehr möglich. Die Nackte auf dem Titel ruiniert im Inneren des Blattes den Beitrag darüber, was vergewaltigten Frauen vor Gericht widerfährt. Die Kolumne, die beklagt, daß der Staat für unser Steuergeld zuwenig für unsere Sicherheit tut, kollidiert mit dem Bericht in einer anderen Ausgabe, der bebildert schildert, daß uns die Kamera-Augen des Staates überall beobachten und verfolgen.
Der Zeuge Henri Nannen bestand im Prozeß gegen Gerd Heidemann, Konrad Kujau und Edith Lieblang darauf, schuldig zu sein. Wenn man damit schuldig werden kann, etwas zu erfinden, an dem über seine Zeit hinaus festgehalten wird, dann mag er schuld sein. Er jedenfalls hat zu seiner »Stern«-Ära, zu seiner »Schöpfung«, so sprach er vom »Stern«, als Zeuge gestanden.
»Henri Nannen« als Zeuge. »Ist das auch der richtige Name?« fragte Richter
Schroeder vorsichtshalber. Er ist es. »Und was sind Sie von Beruf? Journalist, kann man das sagen?« Die Antwort war »ja« - doch dann fügte der Zeuge Henri Nannen hinzu, nicht wehleidig, nicht zornig, aber so, daß man es nicht vergißt, jedenfalls wenn man Journalist ist: »Rentner können Sie schreiben.«
Doch eines ist da noch, der »Stern«, der sein »Stern« war, den er behauptet und verteidigt, als hätte es den Einschnitt der Tagebücher nicht gegeben. Und da ist dann auch der Zeuge Henri Nannen wieder für Augenblicke der Mann, der er als Chefredakteur gewesen ist, zu seiner Zeit, zu einer Zeit, die vorüber ist.
Er wird gefragt, was denn die Rolle eines Herausgebers ausmache. »Herr Vorsitzender, wissen Sie, was in einem Speiserestaurant ein Grüßaugust ist?« Ein Kollege jammert: »Das darf ich bei uns so nicht schreiben.« Er hat fünf Herausgeber. Er hat es natürlich doch berichtet, denn seine Herausgeber spielen, aber wirklich, ganz andere Rollen. Genauso wie nicht verglichen werden kann, daß der SPIEGEL zwei Chefredakteure hat - und daß Henri Nannen gleich drei Nachfolger fand.
Journalisten sollen Geschichten schreiben, nicht selber welche machen; schon gar nicht aus ihrem Beruf. Der Prozeß gegen Gerd Heidemann und andere dauert sehr lange. Was interessiert den geneigtesten Leser noch? Henri Nannen bringt Henri Nannen, auch wenn seine Ära vorüber ist.
Das erste Titelbild zur Serie der Hitler-Tagebücher: »Ein Plüschteppich mit einem Wollsiegel drauf.« Er hat nie ein »Originaltagebuch« gesehen, nie in der Hand gehalten. Wieso er nicht neugierig war, »entschuldigen Sie, Herr Nannen, daß ich das frage«. Der Zeuge, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde nachzudenken: »Mein sinnliches Gefühl pflegt sich nicht auf Hitler-Tagebücher zu erstrecken.« Ach ja.
»Wenn man nach Eskimos forscht, darf man sich nicht wundern, wenn man hinterher nach Tran stinkt« - zu einem, wie Henri Nannen selbst sagt, »unsäglichen« Brief Gerd Heidemanns an Barbie, zu Gerd Heidemanns Kontakten zu NS-Größen. Glanz und Elend des journalistischen Berufs, wie gesagt, hat Henri Nannen verkörpert.
Er hat immer nur gehört, ein General der DDR sei die Quelle der Tagebücher. Hätte er gehört, daß mehrere Generäle beteiligt seien, wäre er unter den Tisch gesprungen. »In einer Diktatur wie der« - in der DDR - »oder unter den Nazis« sei ein solches Geschäft mit mehreren Generälen ausgeschlossen. Auch das Elend des journalistischen Berufs bringt Henri Nannen perfekt.
»Der Wille der Verlagsleitung hat uns noch nie interessiert«, ja, ihn nicht. »Im Impressum steht immer viel«, er weiß es, er hat viele Impressen gestaltet. Der (hausinterne) Untersuchungsbericht
über die Affäre der Tagebücher enthält, wie der Heidemann-Verteidiger Daum bemerkt, auch einen Dokumentationsteil - »aber keinen Dokumentationswert«, fügt der Zeuge Henri Nannen hinzu.
Etwas in seiner protokollierten Aussage bei der Polizei, was nicht stimmt: »Also wenn ich das redigiert hätte, dann hätte ich das geändert.« Er hat es allerdings, nach Diktat, abgezeichnet. Er hat immer darauf bestanden, einen Historiker hinzuzuziehen, er setzte auf den großen Sebastian Haffner, den er einen »gestandenen Historiker« nennt. Sebastian Haffner ist Jurist. In der Emigration wurde er politischer Journalist. Er hat später auch über zeitgeschichtliche, historische Themen rühmenswert geschrieben. Doch er ist kein Historiker, die Prüfung von Quellen hat er nicht gelernt.
Henri Nannen besucht Gerd Heidemann, mit Daten und Zahlen hat er es heute schwer, er weiß nur noch, »daß es ein Sommerabend war und Segelschiffe auf der Elbe«. Teure englische Möbel, Roederer Kristall eisgekühlt, Gerd Heidemann auf dem Balkon, »obere Wohnung« rufend (und darunter war dann noch eine genauso teure, aufwendig ausgestattete Wohnung). Henri Nannen ist mißtrauisch geworden.
»Der bescheißt uns«, hat er gemeint. Er hat nicht an der Echtheit der Tagebücher gezweifelt, doch er hat angenommen, Gerd Heidemann zweige von dem Geld für die Tagebücher ab. Er ist im Vorstand zurückgewiesen worden, doch er hat an seinem Verdacht festgehalten. Er meint, daß auch die Chefredakteure seinen Verdacht geteilt haben. Er räumt ein, daß dieser fortbestehende Verdacht »eigentlich für die Beurteilung Heidemanns hätte entscheidend sein müssen«.
Wiederholt bricht Henri Nannen aus, man soll doch ihn, den Schöpfer des »Stern«, nicht für so dumm halten, daß er ein Risiko eingegangen wäre, hätte er an den Tagebüchern den geringsten Zweifel gehabt. Er spricht mehrfach von der bei Gruner + Jahr versammelten Intelligenz. Zu Dummheit bekennt man sich am schwersten. Ist man besonders intelligent, fällt sogar das Bekenntnis zu einem Verbrechen leichter.
»Eine Nachricht ist schließlich nur eine Ware«, sagt Henri Nannen, der sich gegen den Vorwurf des Scheckbuch-Journalismus wehrt, obwohl eher von Scheckbuch-Management zu sprechen wäre, denn die Affäre begann mit einem »Ja« des Vorstandsvorsitzenden Dr. Manfred Fischer hinter dem Rücken von Herausgeber und Chefredaktion. Auch hat Journalismus nicht nur mit Nachrichten zu tun - er stellt dar, beschreibt, interpretiert, kommentiert.
Eines grämt Henri Nannen ernstlich. Gerd Heidemann hat ausgesagt, er habe sehr wohl herausgefunden, daß Tschou En-lai im Raum Göttingen keinen unehelichen Sohn hinterlassen hat. Doch Henri Nannen habe auf der Geschichte bestanden: »Tschou ist Tschou«, denn der Vater des unehelichen Sohnes habe auch Tschou geheißen.
So war das nicht, beteuert Henri Nannen, doch er hat eine Ära gestiftet und verkörpert, er hat ein Bild von sich gemacht und durchgesetzt - den Henri Nannen, der überall vornan war, in Washington genauso wie in Moskau. Zu diesem Henri Nannen paßt »Tschou ist Tschou« besser als die Wahrheit. Eines Tages wird man sagen: »Tschou ist Tschou« - ja, so war er, so war Henri Nannen.
Konrad Kujau, der Fälscher, der Farbfleck dieses Prozesses, wurde von Henri Nannen, so meinte später mancher, für einen Tag in den Schatten gestellt. Doch in der Mittagspause, so im Herausgehen, meinte Henri Nannen zu dem Angeklagten, er habe da noch einige unsignierte Expressionisten. Henri Nannen hat seiner Heimatstadt Emden ein Museum für Moderne Kunst gestiftet. Er möchte etwas hinterlassen, was nicht mit ihm endet. Die Stiftung braucht noch Geld. Konrad Kujau ist gerne bereit zu helfen. Er ist ja auch, in gewisser Weise, ein Künstler. Henri Nannen vernahm das verblüfft und amüsiert. Denn er war und ist nun einmal in Glanz und Elend ein Journalist. _(Links Verteidiger Groenewold, im ) _(Hintergrund Angeklagter Heidemann. )
Links Verteidiger Groenewold, im Hintergrund Angeklagter Heidemann.