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»SIE OPERIEREN WIE GEBILDETE LEUTE«

aus DER SPIEGEL 46/1966

Der stellvertretende Chefredakteur der Londoner Wirtschaftszeitschrift »The Economist«, Norman Macrae, versuchte auf einer Studienreise durch Westdeutschland herauszufinden, weshalb die Bundesrepublik - sie ist nach ihrer Bevölkerungszahl und Wirtschaftsstruktur fast ein Ebenbild Großbritanniens - nicht wie England unter einer anhaltenden Wirtschafts- und Zahlungsbilanzkrise leidet. Der Autor führt das vor allem auf die friedlichere Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften (durch Streik ausgefallene Arbeitstage 1965: in England 2 925 000, in Westdeutschland 48 500) und ihre sinnvollere Organisation zurück. Während die deutschen Arbeitnehmer innerhalb des DGB in 16 Einzelgewerkschaften zusammengefaßt sind, müssen Englands Firmen sich mit 600 Gewerkschaften auseinandersetzen, von denen bis zu 30 in einem einzigen Betrieb vertreten sind. Dem Artikel Macraes »Das deutsche Beispiel« sind folgende Auszüge entnommen:

Die Gewerkschaften der Bundesrepublik wurden nach Hitlers Krieg völlig neu aufgebaut; sie sind deshalb für das moderne Jahrhundert weitaus besser geeignet als Englands Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert.

Wir wollen aber der Natur des deutschen Arbeitswunders auf den Grund gehen: Es liegt nicht nur darin, daß die Gewerkschaften selten streiken (obwohl sie es wirklich selten tun). Das Wunder liegt darin, daß das Land eine Arbeitslosenziffer von nur 0,4 Prozent hat und trotzdem in der Lage ist, zum Beispiel eilige Exportaufträge ohne wesentliche Verlängerung der Lieferzeiten zu erfüllen. Es liegt darin, daß die deutschen Firmen, obwohl sie genauso über Mangel an Facharbeitern klagen wie die englischen, es fertigbringen, die Produktivität jedes Jahr erheblich zu steigern, was man in England - angeblich wegen des Facharbeitermangels - nicht schafft.

Dafür gibt es zwei Gründe: Einmal können die deutschen Firmen ihre Fachkräfte weitaus wirksamer und flexibler einsetzen. Wenn die Nachfrage nach ihren Produkten über den erreichten Leistungsgrad hinaus ansteigt, stellen sie automatisch neue Maschinen auf. Die dadurch freigesetzten Arbeiter werden auf andere Posten des Unternehmens verteilt, ohne daß die Geschäftsleitung sich erst umständlich darüber mit den Gewerkschaften auseinandersetzen muß.

Das hängt direkt mit der Tatsache zusammen, daß die neue deutsche Gewerkschaftsstruktur nur auf 16 Gewerkschaften aufgebaut ist, von denen jede für einen bestimmten Industriezweig verantwortlich ist. Folglich gehört jeder Arbeitnehmer einer Firma derselben Gewerkschaft an, es gibt absolut keine Trennung zwischen den verschiedenen Berufen in ein und derselben Firma.

Um die britische Wirtschaft anzukurbeln, wäre es nicht nur nötig, die Einspruchsmöglichkeiten unserer Gewerkschaften aufzuheben, sondern sicherzustellen, daß sie nicht wiederkehren. Wenn eine englische Firma feststellt, daß ihre Produktionskapazität mit der Nachfrage nicht mehr Schritt halten kann, muß sie ebenso freie Hand haben wie die Deutschen, sofort neue Maschinen anzuschaffen. Sie darf nicht durch die Angst gebremst werden: »O Gott, da wird es nervenaufreibende Diskussionen mit den Gewerkschaften geben.«

Ein zweiter Grund, weshalb die deutsche Industrie ungeachtet ihrer niedrigen Arbeitslosenziffer von dem Mangel an Arbeitskräften nicht so stark betroffen wird, ist der, daß man viel mehr Fachkräfte heranbildet als in England. Etwa eineinviertel Millionen junger Deutscher machen irgendeine Lehre durch; von ihnen können jedes Jahr 400 000 als qualifizierte Fachkräfte entlassen werden. Diese Zahlen sind zwar etwas mißverständlich, weil mehr als die Hälfte der Lehrlinge auf Gebieten ausgebildet wird, die bei uns nicht als Lehrberufe gelten (Deutschland bildet Lehrlinge als Buchhalter, Kellner, Verkäufer usw. aus). Aber auch auf dem industriellen Sektor rekrutiert Deutschland im Verhältnis zu der fast gleichen Bevölkerungszahl Englands mehr Fachkräfte. Woran liegt das?

Ganz anders als bei uns sind fast alle deutschen Firmen bereit, Lehrlinge anzunehmen und auszubilden. Allerdings erhalten die Lehrlinge in Deutschland einen weitaus niedrigeren Lohn, Erziehungsbeihilfe genannt, als in England.* Daran nehmen die Lohnpolitiker der Labour Party wahrscheinlich am meisten Anstoß: Das deutsche System läßt es zu, daß die jungen Arbeitskräfte ausgenutzt werden, aber es trägt dazu bei, daß das System funktioniert.

Eine direkte Folge dieses Lehrsystems ist, daß den deutschen Gewerkschaften nichts daran liegt, eine so absurd lange Lehrzeit wie die fünfjährige in England zu propagieren. Sie sind im Gegenteil daran interessiert, daß ihre Jungmitglieder so bald wie möglich anstelle der Erziehungsbeihilfe einen anständigen Lohn erhalten.

Obwohl auch die deutschen Arbeitnehmer einen beträchtlichen Einfluß auf die Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz haben, machen sie diesen Einfluß nicht direkt über die Gewerkschaften geltend. Während die Tarifverträge über Löhne und Arbeitszeit auf nationaler Ebene von den einzelnen Gewerkschaften ausgehandelt werden, gibt es in den einzelnen Firmen nur den Betriebsrat. Sein Einfluß ist auf die sozialen Fälle beschränkt, etwa wenn ein Arbeiter wegen angeblich schlechter Führung entlassen werden soll.

Auseinandersetzungen, die in England die Gefahr heraufbeschwören, daß der Gewerkschaftssprecher lauthals zum Streik aufruft, werden in Deutschland meist auf der nächsten Betriebsratssitzung beigelegt. Auf die Frage, wieso es auf den Sitzungen nicht öfter Krawall gibt, antworteten einige deutsche Unternehmer: »Wir haben unsere Methode, nachzugeben, institutionalisiert. Während Englands Arbeitgeber immer erst nach einem Streik klein beigeben, geben wir auf den internen Konferenzen nach. Wir haben gelernt, daß man, solange Vollbeschäftigung herrscht, die Jungens bei Laune halten muß, sonst laufen sie zur Konkurrenz.« Für jeden, der einmal Bekanntschaft mit den blutig-rot gesinnten Betriebsfunktionären bei uns gemacht hat, wirkt es wenig überzeugend, wenn die Deutschen sagen: »Ein paar solcher Knaben haben wir auch.«

Die Antwort liegt, wahrscheinlich in der Art, wie in Deutschland die Arbeitnehmer ihre Vertreter wählen. Oft wird die von der Gewerkschaft vorgelegte Liste einstimmig angenommen. Aber die ganze Art des Wahlablaufes - eine hohe Wahlbeteiligung, freie Meinungsäußerung und geheime Stimmabgabe - trägt dazu bei, daß nicht wie vielfach in England der größte Unruhestifter zum Vertrauensmann gewählt wird, der jede Gegenwehr durch innerbetrieblichen Terror im Keime erstickt.

Die deutschen Betriebsräte sind keine Maschinenstürmer, sie stehen Rationalisierungsmaßnahmen meist durchaus wohlwollend gegenüber. »Es kommt bei uns auch selten vor, daß eine Firma, die neue Maschinen einführt, Arbeiter entläßt«, erklärte uns ein deutscher Industrieller. »Es passiert viel öfter, daß Firmen, die nicht Schritt halten und sich keine neuen Automaten leisten können, dazu gezwungen sind.« Die Tatsache, daß immer weniger deutsche Arbeiter Stücklohn bekommen, trägt dazu bei, solche Aktionen zu erleichtern. Englands Gewerkschaftsbosse meutern oft gegen Rationalisierung und Automatisierung, weil sie davon nachteilige Folgen für die Beschäftigten in weniger leistungsfähigen Firmen derselben Branche erwarten. Deutschlands Betriebsräte, die nur für ihr Unternehmen zuständig sind, machen sich solche Sorgen nicht.

Das Bemerkenswerteste an den deutschen Gewerkschaften ist ihr modernes Beitragssystem - sie kassieren wöchentlich bis zu 2,80 Mark pro Mitglied -, durch das sie reich geworden sind. Der DGB und die 16 einzelnen Gewerkschaften strotzen von Volkswirten, und die Gewerkschaften leiten sogar eine schnell expandierende Geschäftsbank, die einen wichtigen Faktor im deutschen Geschäftsleben darstellt. Obwohl die DGB-Volkswirte im allgemeinen natürlich nach links tendieren, operieren sie wie gebildete Leute und nicht mit der fatalen Unwissenheit, die Englands Gewerkschaften anheizt.

Man kann wie Bundeskanzler Erhard argumentieren - und meiner Ansicht nach zu Recht-, daß die größeren Gewinnzuweisungen Deutschlands Firmen in die Lage versetzt haben, etwa zehn Prozent des Bruttosozialprodukts mehr als England für Investitionen einzusetzen. Und man kann sagen, daß die höhere Investitionsrate mehr zur Aufbesserung von Löhnen und Gehältern in Deutschland beigetragen hat, als der Kampf um größeren Lohnanteil an einem langsamer wachsenden Bruttosozialprodukt eingebracht hätte. Aber dieser Überlegung würden die deutschen Gewerkschaften kaum zustimmen.

Eine plausiblere Erklärung dafür, daß Westdeutschlands Gewerkschaften im letzten Jahrzehnt recht maßvolle Lohnforderungen gestellt haben, liegt darin, daß die Industrielöhne der Bundesrepublik seit 1955 um 130 Prozent gestiegen sind (verglichen mit nur 80 Prozent Steigerung in England während der gleichen Zeit). Das hat nur deshalb keine inflationären Tendenzen zur Folge gehabt, weil die Produktivität je Arbeitsstunde gleichzeitig um etwa 70 Prozent zunahm - verglichen mit nur 35 Prozent in England.

Es scheint tatsächlich, daß die deutschen Gewerkschaftler oft selbst erstaunt darüber waren, in welchem Maße die Industrieproduktion angestiegen ist. Es ist deshalb weniger so, daß sie in »maßvoller Bescheidenheit« jeweils nur ein angemessenes Stück des Kuchens verlangten, als daß sie nie im voraus ahnten, wie groß der Kuchen ausfallen würde.

* Deutschland: durchschnittlich 180 Mark;

England: durchschnittlich 420 Mark monatlich.

Streikende Engländer*. »Ein paar solcher Knaben ...

... gibt es in der Bundesrepublik auch": Arbeitende Deutsche**

Simplicissimus

Arbeitsdirektoren: »Eigentlich ein verdammt neues Gewerkschaftsgefühl: Selber Unternehmer sein, Großbankier, Hausbesitz-Krösus, Supermarkt-Boß, und dann die eigenen Bilanzen ständig durch harte Lohnforderungen versauen!«,

* Beim Seemannsstreik im Juni 1966.

** Im Wolfsburger VW-Werk.

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