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»Sie war für mich das reine Juwel«

aus DER SPIEGEL 31/1978

Das ist alltäglich bis zum Überdruß. Man kennt das Schema: Sie betrügt ihn, und alle wissen es. Nur der Betrogene ist blind. Was vor aller Augen geschieht -- er allein sieht es nicht. Wenn die Wahrheit sich ihm schließlich aufzwingt, explodiert er. Er bringt die Betrügerin um oder den Nebenbuhler oder sich selbst. Die Geschichte kann auch mit zwei Leichen enden oder mit dem Tod aller Beteiligten.

Man zuckt die Achseln. Liebe macht blind, Eifersucht kann tödlich sein, und Betrug zahlt sich nicht aus: die Alltagsweisheit als Zuflucht. Denn wohin würde die Frage führen, was Liebe, Eifersucht und Betrug eigentlich sind.

Gerade die Juristen schätzen diese Frage nicht. Und so wirft die Anklage dem Graphiker Wolfgang G., 31, vor, »in Hannover am 13. Dezember 1977 gegen 20.42 Uhr als Mörder einen Menschen aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch getötet zu haben, indem er auf den Oberstudienrat Klaus B., der mit seiner Ehefrau ein Verhältnis hatte, wie schon lange geplant aus Eifersucht. fünf Schüsse aus einer Pistole abgab«.

Die Anklageschrift versucht recht zäh, die Strafjustiz vor der erwähnten Frage zu schützen. Und so läßt die zuständige Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hannover zwar diese Anklage zu, gibt jedoch auch den rechtlichen Hinweis, »daß statt einer Verurteilung wegen Mordes (§ 211 StGB) auch eine Verurteilung wegen Totschlags (§ 212 StGB) in Betracht kommen könnte«.

Es wird in Hannover unter dem Vorsitz der Richterin Ina Brehm, 35, verhandelt. Und die Hauptverhandlung beginnt damit, daß man ratlos auf Wolfgang G. blickt. 31 Jahre ist er alt. Er ist verheiratet. Er hat, wie auch immer das Gericht seine Tat einordnen wird, einen Menschen getötet. Doch er wirkt wie ein Heranwachsender. Spröde ist er, abweisend, ein Gulliver an der Grenze zum Land der Erwachsenen, der Riesen.

Er trägt die Haare bis zum Nacken, eine metallgefaßte Brille mit großen. runden Gläsern und über dem offenen Hemd eine Strickjacke. Er will aussagen, doch er beginnt mit der Frage: »Wo soll ich anfangen? Bei meiner Geburt?« Das klingt, als mache sich Gulliver über die Riesen lustig. Wolfgang G. wirbt nicht für sich. Da er sich ausdrücken kann, entsteht der Eindruck, er wisse, was er sagt, er sage genau das, was er sagen will.

Es ist das Verdienst der Richterin Brehm und nicht zuletzt des Ersten Staatsanwalts Jürgen Bitzer, 43, der sich sehr früh in die Befragung einschaltet, daß Wolfgang G. seine Geschichte unbehindert erzählen kann und daß sich das zunächst fast provozierend Mißverständliche von allein auflösen kann.

Wolfgang G.s Vater, heute 77, ist 20 Jahre älter als seine Mutter. Er war Lehrer und Regierungsrat und im Dritten Reich Gauamtsleiter. »Es ist sehr unangenehm für mich zu sagen, daß mein Vater eine sehr braune Vergangenheit hat«, sagt der Angeklagte in Hannover, und gerade das ist einer seiner mißverständlichen, irreführenden Sätze. Denn die Auffassungen seines Vaters sind für Wolfgang G. formend und bestimmend gewesen und bis heute geblieben. Er ist mit ihnen noch lange nicht im reinen.

Nach 1945 hat der Vater es abgelehnt, als Lehrer in das Beamtenverhältnis zurückzukehren. Zunächst hat er als Makler gearbeitet. In den letzten 15 Jahren ist er meist zu Hause gewesen. Seit 1949 lebt die Familie im wesentlichen von der Arbeit der Mutter. Wolfgang G. Beschreibung seines Vaters ist so sehr voller Widersprüche, daß die Lähmung und die Prägung, die von diesen Widersprüchen ausgingen, sichtbar werden.

Der Vater, der sagte, er habe von seinem Vater viel ärgere Prügel bekommen und diesen dennoch geliebt, prügelte ihn. Der Vater war das Oberhaupt der Familie. Er bestimmte. Was der Vater unter »männlich« und unter »weiblich« verstand, wurde als Dogma und autoritär vermittelt. Ein Junge, ein Mann also, weint nicht, nie zeigt er Gefühle und Frauen gegenüber schon gar nicht. Ein Mann ist mehr wert als eine Frau, die gehört in die Küche, die hat den Mann zu bedienen. Frauen sind genaugenommen »Huren«. Ob etwas Besseres aus ihnen wird, hängt vom Mann ab.

Ernst, mißtrauisch, stolz, rechthaberisch und autoritär: so sieht Wolfgang G. den Vater heute. Er sagt aber auch, der Vater sei wahrheitsliebend, ehrlich, spontan (und also echt) in seinen positiven wie negativen Gefühlsäußerungen gewesen, zärtlich und zugewandt seinem Sohn und den beiden jüngeren Schwestern gegenüber.

Wolfgang G. übernimmt als Kind die Auffassungen seines Vaters, er vertritt sie in der Schule, er verteidigt den Nationalsozialismus ohne Rücksicht darauf, was ihm das einbringt. Spät setzen Zweifel ein, das Vaterbild bröckelt. Doch das Aufbegehren verstärkt die Unterwerfung nur.

Zwischen der Wirtschaftsoberschule, die er abbricht, und einer Buchdruckerlehre, die er mit der Gehilfenprüfung abschließt, steckt er eine schwere Niederlage ein. Er lernt 1966 ein Mädchen kennen, baut eine Beziehung auf, kann diese aber nicht gegen den Vater durchsetzen. Der Vater akzeptiert die Freundin nicht, sie stammt aus sozialen Verhältnissen, die für den Vater zu »einfach« sind. Sie ist für den Vater »ungebildet«. Nach zwei Jahren bekommt die Freundin ein Kind von Wolfgang G., es stirbt einen Tag nach der Geburt.

Er versucht noch, die Freundin zu halten, indem er sich mit ihr verlobt. Aber sie verläßt ihn bald -- und nun flüchtet er zu Karin. Die kennt er auch schon seit 1966. Sie ist sofort für ihn da.

Sie kommt zu ihm nach Hannover und zieht bald endgültig dorthin um. Sie will Sozialpädagogin werden. Während er bei der Bundeswehr ist, als Buchdrucker arbeitet und schließlich an der Fachschule Graphik studiert, baut man miteinander eine Existenz auf.

Im Januar 1977 schließt er als graduierter Graphikdesigner ab und arbeitet frei, bis er eine feste Anstellung bei einer Tageszeitung findet. Sieben Jahre ist er jetzt schon mit Karin zusammen. Der Vater nimmt sie hin, aber für eine Heirat ist er nicht. Und so schiebt zunächst Wolfgang G. sie immer wieder hinaus, denn der Vater ist krank. Mit ihr werde er doch das ganze Leben zusammen sein, sagt er Karin, der Vater aber werde bald sterben. Da müsse er doch auf den Vater Rücksicht nehmen.

Er hat sich von Karin ein Bild zurechtgemacht, an dem er lange festhält und in dessen Bann er sogar noch heute zu stehen scheint: »Sie war für mich das reine Juwel, unberührt, rein, edel, schön, intelligent, die Reinheit in Person, das Idealbild einer Ehefrau.« Auf die Frage, woher er dieses Bild habe, meint er, von seiner Mutter: Die empfand er als »unberührbar«.

Daß es im Laufe der Jahre immer öfter zu Streit zwischen Karin und ihm kommt, versteht er nicht. Vielleicht liegt es daran, meint er eine Weile, daß sie bereits mit dem Studium fertig ist, schon verdient und er noch nicht. Sie arbeitet in einer Vorschule. Ihre Mentorin ist die Lehrerin Sigrid B. So kommt das Ehepaar B. mit Wolfgang G. und seiner Freundin Karin zusammen.

Nicht nur Wolfgang G. sagt in Hannover rückhaltlos, was zu sagen er inzwischen fähig ist. In Hannover schont sich auch Karin G., 27, nicht. Sie sagt, was sie an dem 39 Jahre alten Oberstudienrat Klaus B. faszinierte. In ihren Augen war er alles, was Wolfgang G. nicht war -- eben ein Mann.

Daß es da auch Sigrid B. gab und die beiden Kinder des Ehepaares B., meint sie, nicht vergessen zu haben. Es sei ihr nur um eine Beziehung gegangen, die vorübergehen würde. Doch als Klaus B. dann davon sprach, sich scheiden zu lassen, hat sie das irritiert. Sie war es, die 1977 einen ersten Hochzeitstermin aufschob. Im Frühjahr 1977 verreist sie, will mit sich ins reine kommen. Wieder zurück, meint sie, sie habe sich entschieden. Im Juli 1977 heiratet sie Wolfgang G., doch dann nimmt sie die Beziehung zu Klaus B. wieder auf. Und bis zum Tattag bestreitet sie jede sexuelle Beziehung zu ihm ihrem Mann gegenüber. Sie will ihn nicht verlieren, aber sie kommt auch von Klaus B. nicht los.

Sigrid B. wird in der Hauptverhandlung durch den Rechtsanwalt Bartels als Nebenklägerin vertreten, um für ihre Kinder, wenn möglich, Schadenersatz zu bekommen, wie sie sagt. Sie hat es am schwersten. Sie hat wohl noch bis zu ihrer Aussage in Karin G. die einzige Ursache dieses Unglücks sehen können.

Doch Sigrid B. ist die reifste unter den vier Menschen gewesen, die hier verstrickt waren. Und der Verlust ihres Mannes hat sie schon weiter gebracht, als die beiden anderen Überlebenden.

Als alle Zeugen in Hannover gehört worden sind, führt nichts mehr an der Frage vorbei, was Liebe, Eifersucht und Betrug eigentlich sind. Eifersucht? Wolfgang G. hat die Krücken verteidigt, ohne die er nicht humpeln konnte. Betrug? Karin und Wolfgang G. waren nie Partner. Es ragt sich leicht, daß Karin G. das auf einem besseren Weg hätte erkennen und mitteilen können. Liebe? Zu der war wohl nur Sigrid B. fähig. Sie hat gekämpft, vielleicht zu lange; so lange jedenfalls, daß sie am schwersten trägt.

Sie hat ausgesagt, die Mittagspause ist zu Ende. Plötzlich geht sie quer durch den Saal zu Wolfgang G. hinüber und umarmt ihn. Sie kommt zurück und an ihrem Schwiegervater vorbei, einem ehemaligen Polizeibeamten, der bis dahin grau und verstört im Publikum gesessen hat. »Das hättest du nicht tun dürfen«, stammelt er. Sigrid B. kommt noch bis zu ihrem Platz. Dann bricht sie mit einem Weinkrampf zusammen.

Der Hamburger Psychologe Dr. Herbert Maisch, 50, erläutert, was alle Verfahrensbeteiligten in der Sitzung erlebt haben, er faßt zusammen, ordnet ein. Für den Tatzeitpunkt stellt er eine vitale depressive Verstimmung und panische Verlustängste bei Wolfgang G. fest, eine Strafmilderung ermöglichende verminderte Schuldfähigkeit, den § 21 StGB also. Er diagnostiziert eine Affekthandlung.

Der unbewältigte Abhängigkeitskonflikt wird dargestellt. Wolfgang G. hat sich dieses Konflikts mit dem Vater wegen gerade gegenüber Klaus B. nicht behaupten können. Er hat immer wieder versucht, die Rivalen-Rolle von Klaus B. zu verleugnen. »Ich wollte einfach keinen Nebenbuhler, ich wollte einen Freund haben«, hat er gesagt.

Die sexuelle Beziehung zur Partnerin ist für ihn zum sinnlosen Kriterium der »Stabilität« der Partnerschaft geworden. Es hatte für ihn symbolische Bedeutung, mit seiner Frau zu schlafen: das ist ein halbes Ritual, das ist auch so eine Demonstration: Wir gehören zusammen, du gehörst zu mir.«

Am 12. Dezember 1977 kommt ein anonymer Brief. Karin G. bestreitet den unmißverständlichen Inhalt. Am 13. Dezember abends verlangt ihr Mann von ihr, Klaus B. anzurufen und sich von ihm, während er mithört, bestätigen zu lassen, daß nichts war und daß alles endgültig vorbei ist. Klaus B. macht eine Bemerkung, nach der nichts mehr fraglich ist, Karin G. legt auf. Sie solle in den Maschsee gehen, schreit er. Sie schreit zurück, sie empfinde bei ihm seit langem nichts mehr, sie habe sich endlich wieder als Frau fühlen wollen.

Als das Telephon wieder klingelt, nimmt Wolfgang G. ab und hält seine Frau fest. Doch während er mit Klaus B. spricht, der einräumt, er habe einmal mit Karin geschlafen, entwindet sie sich ihm und verläßt die Wohnung."Karin ist weg, die tut sich etwas an«, ruft er. »Soll ich kommen?« fragt Klaus B. Wolfgang G. meint, er habe darauf meinetwegen gesagt.

Er rennt die Treppe hinunter und aus dem Haus. Planlos sucht er. Dann sieht er ein Auto kommen. Er halt es für das Auto von Klaus B. Er rennt wieder in die Wohnung, er hat Angst vor Klaus B., er hat Angst, sich in seinem aufgelösten Zustand zu zeigen, er hat Angst um seine Frau, er fürchtet, sie in den Tod getrieben zu haben mit der Aufforderung, in den Maschsee zu gehen.

Er holt den Revolver, den er schon vor Jahren seinem Vater weggenommen hat, er will sich stärker fühlen, er ist Klaus B. immer so unterlegen gewesen wie seinem Vater, und genaugenommen weiß er nicht, was er will. Er rennt wieder die Treppe hinunter. Als er die Haustür öffnet, steht Klaus B. vor ihm. »Wenn Karin was passiert, ist das deine Schuld«, sagt er. Hat Klaus B. darauf gesagt, er solle doch nicht kindisch sein, und dabei gegrinst? Die Schüsse fallen.

Staatsanwalt Bitzer dankt dem Gutachter, der an die Grenzen seiner Rolle erinnert und es abgelehnt hat, dazu Stellung zu nehmen, ob der § 20 StGB, die Schuldunfähigkeit, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung in Betracht komme, weil das eine Frage ist, die allein das Gericht zu entscheiden hat. Staatsanwalt Bitzer will keine Laudatio halten, auch wenn es sich so anhören könnte, aber er hat das Bedürfnis, Dr. Maisch für seinen ausgezeichneten Beitrag zu danken.

Doch am nächsten Morgen beantragt Staatsanwalt Bitzer einen weiteren Gutachter. Ihm sind Bedenken gekommen, und sein Verhalten ist nicht unverständlich: Der Punkt, an dem man am Nachmittag des Vortags stand, war ein Punkt, an dem man nicht mehr richten, an dem man nicht mehr strafen kann. Zwar lehnt das Gericht Staatsanwalt Bitzers Antrag ab, doch nun geht es mit einem Salto zurück in den Strafprozeß, wie man ihn kennt. Staatsanwalt Bitzer beantragt sechs Jahre Freiheitsstrafe wegen Mordes. Es gehe nicht an, daß Konflikte mit der Pistole gelöst werden. Der Angeklagte habe vorsätzlich getötet und subjektiv heimtückisch gehandelt. Einen Affekt räumt der Staatsanwalt ein, doch der § 20 komme nicht in Betracht.

Rechtsanwalt Bartels schließt sich für die Nebenklägerin an. Er krönt die Rückkehr in die Heimat mit der Stilblüte, man dürfe nicht vergessen, daß der Tote lebenslang tot sei. Das Strafmaß stellt er ins Ermessen des Gerichts. Verteidiger Börner plädiert auf Freispruch. Es ist so viel vom Menschlichen die Rede gewesen: Er konzentriert sich auf das Rechtliche, und seine Argumente wiegen schwer.

Das Gericht verurteilt Wolfgang G. nach den §§ 212 und 213 StGB, wegen Totschlags in einem minderschweren Fall also, zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Die Ausführungen der Anklage werden sorgfältig gewürdigt, und immer wieder wird ihnen zugestimmt. Das Gericht wirbt um die Anklage. Es wirbt so sehr, daß man fürchten muß, die Staatsanwaltschaft werde nun um die Revision nicht mehr herumkommen.

Zwei Tage nach dem Urteil verzichtet Wolfgang G. auf das Rechtsmittel. Und es hat den Anschein, daß auch die Staatsanwaltschaft auf die Revision verzichten wird. Der Formel »wo kämen wir hin, wenn ist Rechnung getragen worden. Für einen Augenblick ist eine Grenze der Strafjustiz in Sicht gewesen. Der Augenblick ging vorüber.

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