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»Sie waren der Pfarrer, nicht?«

aus DER SPIEGEL 6/1979

Die Fernsehzuschauer wissen schon, warum sie nach Diskussionssendungen immer vermuten, das Wichtigste geschehe erst, wenn die Kameras abgeschaltet sind. Weil es nämlich so ist.

Beispielsweise entdeckte der deutsche Bundeskanzler am vergangenen Donnerstag erst nach der ZDF-Sendung »Bürger fragen -- Politiker antworten« in Paris, daß ein bedeutsamer Brocken auf dem Weg der Völker nach Europa liegt, den die Bürokraten in Brüssel noch nicht einmal ausgemacht haben: das Eros-Center, Modell Deutschland.

Es geht ein Strich durch Europa, und selbst der Kanzler hat es nicht geahnt. Ratlos gestand er: »Ich weiß nicht, ob ich die Situation richtig überschaue.«

Das waren News von der Art, auf die nicht nur die etwa 200 französischen und deutschen Zuschauer im Studio 101 der Pariser Maison de Ia Radio während der Sendung gewartet hatten. Das hätte sicher auch den einen oder anderen Zuschauer im Fernsehsessel in Deutschland wachgehalten.

Würze wäre in den faden Appelschmus gelangt, nicht nur weil Bordelle aus deutscher Sicht -- o alte Landserherrlichkeit -- ein typisches Pariser Thema sind, sondern weil an diesem Beispiel Unterschwelliges zwischen den Völkern aufbrach, was in der gesendeten Befragung des Bonner Kanzlers durch französische Bürger in Konfusion erstickte oder mit ausgewogener Fernsehhand weggebügelt wurde.

Anschließend aber stieß der katholische Geistliche Charles Chauvin mit seinem Lieblingsthema nach. Helmut Schmidt, noch ganz Fernseh-Darsteller, trat wohlwollend auf den kleinen Franzosen zu: »Sie waren der Pfarrer, nicht?« -- »Ich bin der Pfarrer«, antwortet der, um ihn sogleich wegen der »deutschen Herausforderung« des »Eros-Center« anzugehen.

Es war ihm ernst; die Frage der Kasernierung der Damen nach deutschem Vorbild wird in Frankreich anläßlich eines Gesetzesvorschlags des Abgeordneten Joel Le Tac zur Zeit heftig diskutiert. Freiheit vom Freudenhaus ist vielen Franzosen eine Errungenschaft der Revolution.

Schmidt, sehr wohl der Ernsthaftigkeit seines Partners als auch der offenen Mikrophone um sich herum gewahr, versuchte einzulenken. Er komme aus Hamburg, »eine Hafenstadt wie Marseille, Sie verstehen, da denkt man liberal«.

Der streitbare Gottesmann focht unbeeindruckt weiter für die Freiheit der Straße und der Gewerbe-Ausübung. In diesen drei Minuten wurde mehr über tiefsitzende Vorurteile gegenüber den Nachbarn im Osten sichtbar als in der ganzen vorhergegangenen Stunde Fernseh-Volkshochschule.

Eros-Center« das ist vielen ein Symbol für den unverbesserlichen Deutschen -- für Kasernen, Ordnung, Reglementierung, weckt Assoziationen wie Berufsverbot, Kontaktsperre und wie die Reiz-Vokabeln alle heißen. Wer so liebt, der kann nichts aus der Geschichte gelernt haben.

Der während der Sendung so milde Pfarrer verbreitete eine Erregung, die dem Kanzler unverständlich bleiben mußte. Das quälend korrekte Deutsch der französischen Bürger, die brav ihre Fragen ablasen, wurde jetzt abgelöst von einem wilden Durcheinander von französischen und deutschen Brocken.

Schmidt kam nicht mehr mit. »Ich verstehe davon nichts«, wehrte er ab. Und ZDF-Chefredakteur Appel, der ein solches Eingeständnis richtig als außergewöhnliches Notsignal wertete, mahnte die Funk-Kollegen: »Mikrophone aus« Zu spät, der Kanzler sagte

* 2. v. l.: der katholische Geistliche Charles Chauvin.

auch noch: »Ich habe mit diesen Frauen keine Berührung gehabt und mit dem Problem auch nicht.«

Man hätte sich ein wenig von dem Temperament, der furchtbaren Verwirrung, dem aus gegenseitigem Unverständnis entspringenden Ärger in der Sendung gewünscht, die über eine Stunde lang triste dahinschlich.

Die Konzeptionslosigkeit der Show nötigte den Kanzler in immer neue Rollen: Mal trat er als Kanzler der ganzen Bundesrepublik auf, mal als Chef der sozialliberalen Regierung, mal als Norddeutscher mit geheimer Sehnsucht nach französischem »Savoir vivre« und hin und wieder sogar -- aber erst nach spöttischer Ermahnung des kommunistischen Gewerkschafters Lucien Hugel -- als Sozialdemokrat.

Die Frage, wer von wem eigentlich was für wen wollte, setzte den Kanzler sichtlich unter Druck. Die Sendung wurde nur in Deutschland live ausgestrahlt. Sollten also die Deutschen wieder ihren Kanzler bewundern? Oder sollten die Franzosen den Kanzler der Deutschen besser einschätzen können? Aber dann wäre die Sendung im französischen Fernsehen in französischer Sprache sinnvoller gewesen.

Oder falls gar die Absicht gewesen sein sollte, den Deutschen in Deutschland die Fragen der typischen Franzosen vorzuführen, dann war auch das mißglückt. Zu Wort kamen Germanisten und Grenzbewohner, typische Elsässer zumeist. Denn makellose Deutschkenntnisse, wie sie die Veranstalter verlangten, wie typisch französisch sind die schon?

So blieb für jeden etwas und nichts Nützliches. Die Deutschen zu Hause erfuhren, daß es in der Bundesrepublik immer weniger Schuster gebe und daß Dichter besser dichten sollten, als sich in Politik zu mischen.

Sie hörten des Kanzlers eigenwillige Radikalen-Version -- daß nämlich Chaoten aus »fünf oder sechs oder sieben« kommunistischen Parteien in der Bundesrepublik Polizei-Direktoren werden wollten und Oberste der Armee. Dagegen einzuschreiten sei selbstverständlich. Übergriffe sind dem Kanzler aber persönlich ärgerlich gewesen, und deswegen hat er den Extremisten-Beschluß gemildert. So war das also, Genosse Klose.

Die Franzosen lernten über den Bundeskanzler vor allem, daß ihm in Deutschland alles gehört: »Mein Land«, »meine Regierung«, »meine Minister«, ja, selbst »meine Opposition«. Nur für Kritikwürdiges ist der Kanzler nicht zuständig. Das sind dann die Länder, die Tarifpartner und manchmal der französische Staatspräsident Giscard, der mit ihm englisch spricht, obwohl er Deutsch kann.

Die deutschen Fernsehzuschauer Lernten von den Fragern in Paris vor allem, daß Franzosen im deutschen Fernsehen und vor diesem Kanzler genauso sind wie sie: ehrerbietig, langweilig, zu gründlich vorbereitet, immer stiller werdend, wenn der Chef sie maßregelt -- ob sie nun unrichtige Begriffe verwenden wie »Berufsverbot« oder fragen, ob Europa von den Großmächten »vollkommen« unabhängig sein soll. Schmidt: »Madame, im Leben ist nichts vollkommen.«

Einige mochten am Ende nicht mal mehr applaudieren, andere biederten sich an: Ob er als Beitrag für die deutsche Mützenindustrie nicht sein Seglerkäppi als SPD-Parteimütze einführen wolle. Schmidt: »Die Genossen in Bayern würden sich bedanken.«

Der Kanzler endlich hat auch noch was über sich gelernt, freilich auch das erst nach der Sendung. Da sah er nämlich die Karikatur, die ein Zeichner des »Canard enchaîné« von ihm gefertigt hatte -- ein Schmidt, der mit langgezogen trauriger Physiognomie in der unteren Gesichtshälfte an den Clown Grock erinnert.

Ein französischer Gesprächspartner aber sah auch in der Zeichnung nur, was er erlebt hatte: »Sie erinnern an Adenauer.« Schmidt verwies auf entscheidende Unterschiede: »Dafür habe ich doch viel zu lange Haare.«

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