»Sie werden alle ausgerottet«
Die Indianer im brasilianischen Dschungel sind systematisch ausgerottet worden. Anfang 1968 veröffentlichte das brasilianische Innenministerium den Bericht einer Kommission, die Massenverbrechen gegen die indianische Bevölkerung untersucht hatte.
Das Beweismaterial war so aufsehenerregend, daß mehrere Staaten In der Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen Brasilien anklagten, den Massenmord an Indianern zu dulden. Die brasilianische Regierung versprach daraufhin, diese Verbrechen würden untersucht und bestraft werden. Später erklärte sie, daß man den Schuldigen Im Frühjahr 1969 wegen Massenmords, Sklavenhaltung, Folterung und Diebstahls den Prozeß machen werde.
Dieser Prozeß, hätte er stattgefunden, würde von dem Untergang der brasilianischen Waldindianer erzählt haben, eines Menschenschlages, wie es ihn harmloser und bezaubernder auf der Welt nicht gab. Die indianische Tragödie, die sich im vergangenen Jahrhundert in den Vereinigten Staaten abspielte, hat sich in Brasilien wiederholt, jedoch in kürzerer Zeit.
Es blieb der brasilianischen Regierung selbst überlassen, das Geheimnis dieser Tragödie zu lüften, Das geschah im März 1968, mit brutaler Offenheit und ohne jeden Versuch nationaler Selbstrechtfertigung. Ganze Indianerstämme waren buchstäblich ausgerottet worden -- nicht etwa trotz aller Bemühungen des staatlichen Indianerschutzdienstes, sondern mit seinem stillschweigenden Einverständnis, oft sogar unter seiner eifrigen Mitwirkung.
Der inzwischen zurückgetretene brasilianische Innenminister, General Albuquerque Lima, mußte zugeben, daß der Indianerschutzdienst (SPI
Servico de Protecao aos Indios) in ein Instrument zur Unterdrückung der Indianer verkehrt und darum aufgelöst worden war. Gegen 134 SPI-Funktionäre wurde ermittelt.
Die Liste der Verbrechen, die ihnen angelastet werden, füllte eine ganze
© 1969 The Sunday Times.
* Das von der brasilianischen Zeitung »O Globo« veröffentlichte Photo zeigt Kautschuksammler der Plantage Juinà-Mirim, die eine Cinta-Larga-Indianerin aufhängen, um sie mit der Machete zu zerschneiden.
Zeitungsseite, kleingedruckt. In einem vertraulichen Gespräch bezweifelte Generalstaatsanwalt Jader Figueiredo, ob von den über 800 Angestellten der Organisation auch nur zehn völlig freigesprochen werden könnten.
Der offizielle Bericht über den Indianermord war in trockenem Stil abgefaßt, doch um so wirkungsvoller erwiesen sich seine Enthüllungen. Siedler und korrupte Politiker hatten immer wieder indianische Gebiete an sich gerissen und deren Bewohner in grausamem Kampf vernichtet.
Eine Kommission, die in 58 Tagen die Stützpunkte des Indianerschutzdienstes im ganzen Land inspiziert und dabei Beweismaterial über Greueltaten zusammengetragen hatte, detaillierte die ungeheuren Verbrechen:
Von den in den dreißiger Jahren gezählten 19 000 Munducurus waren 1200 übriggeblieben, die Zahl der Guaranis ging von 5000 auf 300 zurück. Von den 4000 Carajas lebten noch 400. Die 10 000 Cintas Largas waren auf 500 zusammengeschmolzen.
Der stolze Stamm der Kadiweus, der »indianischen Kavaliere«, existierte nur noch als eine jämmerliche Diebesbande von etwa 200 Mitgliedern. Von den furchterregenden Chavantes waren nur einige hundert am Leben.
Von vielen Stämmen lebte jetzt nur noch eine einzige Familie, von manchen gab es sogar nur ein oder zwei Angehörige. Andere Stämme waren völlig verschwunden, so die Tapaiunas, die durch eine mit Arsen vermischte Zuckerspende ausgerottet wurden. Generalstaatsanwalt Jader Figueiredo schätze, daß den Indianern in den letzten zehn Jahren Eigentumswerte in Höhe von 248 Millionen Mark geraubt wurden. »Nicht nur die Veruntreuung der Gelder«, erklärte Figueiredo, »auch die Duldung sexueller Perversion, Morde und anderer Verbrechen gegen die Indianer beweist, daß der Indianerschutzdienst jahrelang eine Höhle der Korruption und des wahllosen Mordes war.«
Der Leiter der Organisation, Major Luiz Neves, wurde beschuldigt, 42 Straftaten begangen zu haben; er soll unter anderem an mehreren Morden mitgewirkt, illegalen Landverkauf betrieben und 1,2 Millionen Mark unterschlagen haben. Aus weiteren Erklärungen des Innenministeriums erfuhr die Öffentlichkeit von immer neuen Verbrechen gegen die Indianer; > »Reiche Landbesitzer des Bezirks Pedro Alfonso griffen den Stamm der Craos an und töteten etwa 100 Menschen. > »Das schlimmste Gemetzel fand in Aripuaná statt, wo die Cinta-Larga-Indianer aus der Luft mit Dynamitstangen bombardiert wurden. > »Den Maxacalis gaben die Landbesitzer Feuerwasser, dann ließen sie die betrunkenen Indianer von gedungenen Schützen zusammenschießen. > »Zum Niedermetzeln der Canelas engagierten die Landbesitzer einen berüchtigten 'Pistoleiro' (Pistolenhelden) und seine Bande.
* »Die Nhambiquera-Indianer wurden durch Maschinengewehrfeuer niedergemäht.
* »Zwei Stämme der Patachós-Indianer wurden durch Pockeninjektionen ausgerottet.«
Das brasilianische Innenministerium erklärte schließlich, »daß sich die Zahl der von ehemaligen Funktionären des Indianerschutzdienstes begangenen Verbrechen auf über 1000 beläuft«.
»Zur Ausrottung des Stammes der Beicos-de-Pau«, so berichtete Ramis Bucair, Leiter des 6. Inspektionsbezirks« »wurde eine Expedition zusammengestellt, die mit Geschenken und vielen Nahrungsmitteln für die Indianer den Arinos-Fluß hinaufzog. Die Lebensmittel waren mit Arsen und Ameisenvertilgungsstoffen vermischt. Am nächsten Tag starben viele Indianer. Die Weißen verbreiteten das Gerücht, sie seien einer Epidemie zum Opfer gefallen.«
Ein Zentrum der Indianergreuel war das Gebiet, das an Kolumbien und Peru grenzt. Eine durch den letzten Krieg ausgelöste Kautschuk-Hausse hatte eine neue Generation von Männern mit steinernen Herzen in das Grenzland gelockt. In den 40er Jahren bestrafte eine Kautschukgesellschaft ihre Indianersklaven so: Schafften sie ihr Tagessoll nicht, wurde ihnen ein Ohr abgehackt, versagten sie wiederum, schnitt man ihnen das andere Ohr ab -- beim drittenmal tötete man sie.
Wurden die Kautschuk-Leute von brasilianischen Truppen verfolgt, dann zogen sie mit all ihren Arbeitskräften über die peruanische Grenze.
Heute sind die meisten Landbesitzer in ihrer Grausamkeit kaum weniger einfallsreich. Ein Landbesitzer, der die Ticuna-Indianer in einer Art Sklaverei hielt, soll Leprakranke an Pfähle gefesselt, sie eine Woche lang ohne Nahrung und Wasser gelassen und ihnen dann geraten haben, sich selbst zu befreien.
Senhora Neves da Costa Valle vom brasilianischen Bundeskriminalamt kam bei ihren Untersuchungen zu der Schlußfolgerung, daß sich seit den schlimmen Tagen des Kautschukbooms wenig geändert hat. Sie stellte fest, daß auf beiden Seiten der Grenze Hunderte Indianer von den Landbesitzern versklavt wurden und daß Kolumbianer wie Peruaner an den brasilianischen Flüssen nach Ticuna-Indianern jagten.
Halbzivilisierte Indianer, so berichtete sie, würden zum Dienst als Banditen in Kolumbien gepreßt. Senhora Neves war auch über den desolaten körperlichen Zustand der Indianer entsetzt. Es gab viele Leprakranke. Überdies bestätigte sie, daß alte oder kranke Indianer ohne jede Betreuung bis zu ihrem Tode auf eine Insel namens Armaca abgeschoben werden.
Von allen Seiten liefen Schreckensmeldungen über den Untergang der Indianer ein. Niemand weiß genau, wie viele Indianer noch am Leben sind, da es keine Möglichkeit gibt, sie in ihren letzten Gebirgs- und Waldfesten zu zählen. Die optimistischste Schätzung beziffert die Indianer-Bevölkerung Brasiliens auf 100 000 Menschen;
* Auszug aus der Anklageschrift des brasilianischen Innenministeriums, die dem ehemaligen Indianerschutzdienst-Leiter Neves 42 Straftaten vorwirft, unter anderem »Vergeudung von Indianer-Eigentum«, »Aneignung von Werten in Indianer-Pachtgebieten«, »Erpressung und Nötigung«, »Ausbeutung von Indios bei der Arbeit«.
andere Experten jedoch rechnen nur mit der Hälfte.
Auch über das Tempo des Ausrottungsprozesses lassen sich nur äußerst grobe Schätzungen anstellen. In einem Punkt stimmen die Berichte überein: Als die Europäer in Brasilien auftauchten, hatten sie eine große und lebenssprühende Bevölkerung vorgefunden. Man nimmt an, daß es damals drei bis sechs Millionen Indianer gegeben hat.
Die Europäer, die am 22. April 1500 mit der Flotte des portugiesischen Ostindien-Fahrers Pedro Alvares Cabral an der Küste Brasiliens landeten, wurden von den Indianern begeistert aufgenommen. Pedro Vaz de Caminha, der offizielle Chronist der Cabral-Expedition, schickte dem portugiesischen König einen enthusiastischen Brief. Es war der Augenzeugenbericht eines Mannes, dem sich eine neue Welt eröffnet hatte.
Nackte Frauen waren ihm begegnet, die herrlich gleichgültig gegenüber den starrenden Blicken der portugiesischen Seeleute am Strande promenierten; Caminha berichtete dem König höchst ausführlich über ihre Reize. »Süße Mädchen«, schwärmte er. »Wie wilde Vögel und Tiere. Sie könnten nicht sauberer und schöner gewachsen sein.«
Die Europäer staunten auch über die Großzügigkeit der Indianer. Wenn sie deren Halsketten oder den persönlichen Feder- und Muschelschmuck der Indianer bewunderten, wurden sie ihnen sofort geschenkt. Bei goldenen Geschmeiden ging es ihnen nicht anders, auch Frauen auf Zeit waren jederzeit zu haben.
Eine solche Freigebigkeit verwirrte die Vertreter einer gehemmten, aber fanatisch habgierigen Gesellschaft. Der Berichterstatter Caminha füllte Seite um Seite mit einem Katalog indianischer Tugenden. Die Indios bedurften nur noch der Kenntnis des wahren Gottes, um das Bild der vollkommenen menschlichen Gesellschaft zu erfüllen.
Die Indianer waren nicht beschnitten, folglich konnten sie weder Mohammedaner noch Juden sein; ihrer Bekehrung stand also nichts im Wege. Als die erste Messe gelesen wurde, knieten die Indianer mit der ihnen eigenen Höflichkeit neben den Portugiesen nieder und küßten lächelnd nach dem Vorbild ihrer Gäste die Kruzifixe, die ihnen gereicht wurden.
Da sich die Verständigung zwischen den Europäern und den Indianern auf Gesten beschränkte, hatten die Portugiesen das Gefühl, ihre Missionsarbeit sei noch nicht abgeschlossen. So ließen sie bei ihrer Abfahrt zwei Sträflinge zurück, die sich um die Bekehrung der Eingeborenen kümmern sollten.
Caminhas Brief ermutigte zwei Jahrhunderte später den französischen Philosophen Voltaire, seine Theorie vom edlen Wilden zu formulieren. Hier herrschte Unschuld, hier war offenbar Freiheit, sogar Freiheit vom Fluch der Erbsünde. Die Indianer, so hatte es in den ersten Berichten geheißen, kannten weder Verbrechen noch Strafen. Sie hatten keine Henker oder Folterknechte, keine Armen. Sie behandelten einander, ihre Kinder, selbst ihre Tiere mit ständiger Liebe.
Und dennoch sollten sie Opfer einer Entwicklung werden, die sich der Kontrolle ihrer bewundernden Gäste entzog. Denn Spanien und Portugal waren zu Parasiten-Nationen geworden, die sich nicht mehr selbst ernähren konnten.
Die fruchtbaren Ländereien daheim auf der Iberischen Halbinsel waren verlassen, die Bewässerungsanlagen der Mauren verfallen, die Bauern in endlose Kriege gezogen, aus denen sie nie zurückkehrten. Verständnislos aber standen die Neuankömmlinge in Brasilien wirtschaftlichen Verhältnissen gegenüber, die sie zu Sklavenhändlern und Mördern werden ließen.
Die Eingeborenen spendeten mit Anmut und Grazie, während die Eindringlinge alle Geschenke gierig an sich rissen. Als es nichts mehr zu schenken gab, folgten Sklaverei und Mord. Der amerikanische Kontinent begann allmählich von dem überwältigt zu werden, was der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss »die ungeheuerliche und unbegreifliche Umwälzung« nennt, die »der Gang der westlichen Zivilisation für einen so großen und unschuldigen Teil der Menschheit bedeutete«.
Caminha und seine Kameraden waren in Porto Seguro gelandet, einem Küstenort, der etwa 800 Kilometer nördlich von dem heutigen Rio de Janeiro liegt. Nur durch Zufall konnte sich eine Handvoll Indianer, Angehörige des Tapachó-Stammes, in dem nahegelegenen Itabuna bis auf den heutigen Tag am Leben halten. Daß die Tapachós überhaupt noch existieren, grenzt ans Wunderbare, denn vier Jahrhunderte lang wurde ihr Gebiet von Sklavenhändlern, kriegswütigen Siedlern und Banditen aller Art verwüstet. Die Überlebenden hausen in einer dunklen, kargen Landschaft, durchzogen von kahlen Felsketten, in deren Spalten sie sich mit großem Geschick verbergen -- verstohlene Gestalten in Lumpen, die eilends Deckung suchen, sobald man sich ihnen nähert.
Man sieht sie heute auf einem Stückchen Odland an der Landstraße oder an der Eisenbahnlinie, das sie mit ihren eigenen Exkrementen düngen, um etwas Gemüse anzubauen, bevor sie weiterziehen. Sonst halten sie sich kümmerlich am Leben durch den Verkauf von Kräuterrezepten und Zaubermitteln an neurotische Weiße, durch gelegentliche Prostitution und kleine Diebstähle. Sie leiden an Tuberkulose, Geschlechts- und Augenkrankheiten, werden heimgesucht von Maser- und Grippe-Epidemien.
Zwei ihrer Stämme hielten unerbittlich an einem Rest ihres Landes fest. Vor zehn Jahren aber erschien ein Arzt, der angeblich vom Indianerschutzdienst geschickt worden sein soll, und injizierte den Indianern statt eines Impfstoffes das Pockenvirus. Das Unternehmen erreichte seinen Zweck: Das verwaiste Land wurde sofort dem Grundbesitz der weißen Nachbarn einverleibt.
Auf einem etwa 5000 Kilometer langen Küstenstreifen gibt es ein Dutzend kümmerlicher Indianerlager. Dort leben die letzten jener Küstenindianer, die Caminha entdeckte und die einst zu Hunderten zwischen den Bäumen auftauchten, wenn ein Schiff vor der Küste Anker warf. Ihre Vorfahren sind nahezu alle von den spanisch-portugiesischen Eroberern, den Konquistadoren, liquidiert worden.
Die Greueltaten der Konquistadoren entziehen sich der menschlichen Vorstellungskraft. Ein derartiges Ausmaß an Grausamkeit wirkt heute schon vage und verschwommen, Zahlen verlieren ihre Bedeutung, wenn man unvoreingenommen und distanziert von den Massenverbrennungen, den Schändungen, den auf geschlitzten Bäuchen und den Verstümmelungen hört.
Zwölf Millionen Indianer wurden in Lateinamerika getötet, berichtete der spanische Bischof Bartolomé de Las Casas, Augenzeuge des vermutlich größten aller Vernichtungskriege gegen die Indianer*. Er schrieb:
»Der Allmächtige scheint diesen Menschen die Demut und Sanftmut von Lämmern verliehen zu haben,
* Der spanische Dominikanermönch de Las Casas (1474 bis 1566) hatte die Folgen der blutigen Eroberung Kubas durch die Spanier 1511 erlebt und war zum schärfsten Gegner der Indianerausrottung geworden; durch seine unermüdlichen Proteste setzte er die Aufhebung der Indianersklaverei durch, wurde jedoch später durch Intrigen der Kolonialverwaltung und des eigenen Klerus aus Lateinamerika vertrieben.
während die Eroberer, die so barbarisch über sie herfielen, wilden Tigern, Wölfen und Löwen gleichen. Ich habe gesehen, wie die Spanier ihre rasenden und hungrigen Hunde auf die Indianer hetzten, um sie in Stücke zu reißen und zu verschlingen. Sie steckten so viele Städte und Dörfer in Brand, daß ich mich unmöglich noch an die Zahl erinnern kann. All das taten sie ohne jede Veranlassung, nur um Unheil anzurichten.«
Wo immer man ihrer habhaft werden konnte, ob auf den Inseln im Karibischen Meer oder in den Küstenebenen, die Indianer wurden ausgerottet. Nur die Indianer Brasiliens entgingen zunächst der Vernichtung, geschützt durch einen tropischen Regenwald von der Größe Europas und durch eineinviertel Millionen Quadratkilometer Dickicht und Sumpfland im Süden, den Mato Grosso, der bis heute für Forschungsreisende so undurchdringlich blieb, daß keiner von der Suche nach den legendären goldenen Städten zurückkehrte.
In diese äußersten Winkel des Urwalde vermochten als einzige die Neger einzudringen, die in großen Scharen von den Zuckerplantagen und Gruben geflohen waren und nun in den unzugänglichen Wäldern »Quilombas«, Flüchtlingssiedlungen, errichteten. Die ehemaligen Sklaven vergriffen sich zwar an den Indianerfrauen, dennoch folgten sie dem Gebot des Leben- und Lebenlassens; sie gingen in den Nachbarstämmen der Indianer auf und verloren ihre Eigenständigkeit.
Der Umfang der Mord- und Versklavungszüge ging in den folgenden drei Jahrhunderten zurück, aus einem einfachen Grund: Es gab jetzt nicht mehr so viele Indianer, die ermordet und versklavt werden konnten. Die Plantagen in Maranhao und Pará rüsteten allerdings große Expeditionen zur Beschaffung von Arbeitskräften aus und entvölkerten alle leicht zugänglichen Dörfer in der Nähe der Hauptzuflüsse des Amazonas.
Wer von den Plantagen floh, endete oft in den Reservaten der Jesuiten -- religiösen Konzentrationslagern, in denen schon geringfügige Vergehen mit schrecklichen Züchtigungen oder Gefängnisstrafen geahndet wurden. Der Jesuiten-Missionar José de Anchieta kommentierte: »Schwert und Eisenstab sind die besten Mittel der Predigt.«
Im 19. Jahrhundert erreichte die Jagd auf Indianer einen toten Punkt. Es wurde schwieriger, Indianer-Sklayen zu bekommen. Außerdem sanken die Preise der einheimischen Produkte, weil man immer mehr und billigere Arbeitskräfte aus Westafrika einführte. Die Indianer verloren ihren Wert.
Von nun an konnte man sie im Licht viktorianischer Sentimentalität betrachten. Man schrieb gefühlsduselige Romane über sie im Stil von Coopers »Letztem Mohikaner«. Eine praktischere Einstellung aber griff erneut um sich, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der große Kautschuk-Boom einsetzte.
Auf einmal stellte man fest, daß die harmlosen und malerischen Indianer besser als die Neger geeignet seien, die Wälder nach Kautschuk-Bäumen abzusuchen. Während die Welt abgelenkt war, begannen all die vertrauten Folterungen und Exzesse von neuem.
Der brasilianische Kautschuk-Booni übertraf an primitivem Genuß leicht erworbenen Reichtums alles, was die westliche Welt seit den Tagen des amerikanischen Goldrausches erlebt hatte.
Zentrum dieses Booms war die alte Sklavenmetropole Manaus, errichtet an der Stelle, wo sich zwei große schiffbare Flüsse -- Amazonas und Rio Negro -- vereinigen. Wegen seiner günstigen Lage war Manaus zum Ausgangspunkt für Sklaven-Expeditionen geworden. Mit dem Ende des Sklavenhandels hatte auch der Untergang der Stadt begonnen.
Manaus erblühte erneut, als das Auto erfunden wurde und Gummireifen gefragt waren; bald entdeckte man, daß der »Hevea brasiliensis«, der Kautschukbaum des Amazonas, den besten Kautschuk lieferte. Manaus verwandelte sich in ein tropisches Gomorrha. Der Sänger Caruso schlug eine astronomische Gage für einen Auftritt in der Oper von Manaus aus, Madame Patti dagegen nahm das Engagement an. Damals fanden Orgien babylonischen Ausmaßes statt, in denen Kurtisanen halböffentlich in Champagner badeten.
Die modischen Herren jener Zeit schickten ihre schmutzige Wäsche zur Reinigung nach Europa, Die Damen ließen sich künstliche Gebisse mit Diamanten besetzen. Zu den exotischen Importen gehörten auch regelmäßige Lieferungen polnischer Jungfrauen. Die durchschnittlich 13 Jahre alten Mädchen kosteten für die erste Nacht (nach heutigem Kurs) etwa 5000 Mark, weil der Verkehr mit einer Jungfrau als Heilmittel für Geschlechtskrankheiten angesehen wurde.
Unter den großen Kautschuk-Gesellschaften galt die englische »Peruvian Amazon Company« als die dynamischste. Sie operierte an der ungenau festgelegten Nordwest-Grenze Brasiliens; dort konnte sie die Behörden Kolumbiens, Perus und Brasiliens gegeneinander ausspielen und ein furchterregendes Riesenreich der Ausbeutung und des Todes errichten.
Ein junger amerikanischer Ingenieur namens Walter Hardenburg verirrte sich einmal in das Territorium der Gesellschaft; er wurde sofort gefaßt und einige Tage lang in einem Gefängnis festgehalten. Dabei erfuhr er, was hier gespielt wurde.
Mehrere tausend Huitoto-Indianer waren zu Sklaven gemacht worden. Auf dem Stützpunkt »El Encanto« (Der Zauber) sah Hardenburg die Kautschuk-Zapfer, die am Abend die gezapfte Latex-Menge heimbrachten. Ihre Körper waren mit großen, dicken Schwielen bedeckt, die von den Tapirfell-Peitschen der Aufseher herrührten.
Wer sein Kautschuk-Soll erfüllt hatte, tanzte vor Freude; die weniger erfolgreichen Zapfer aber schienen völlig verängstigt zu sein. Hardenburg sah nicht, wie sie bestraft wurden. Später erfuhr er aber, daß sie mit einer Strafe von 100 Peitschenhieben rechnen mußten, wenn sie das Soll ein paarmal nicht erfüllt hatten -- eine Tortur, von der sie sich erst nach einem halben Jahr wieder erholten.
Bei der Tötung der Indianer spielte ein gewisses Wettbewerbselement mit. Einmal wurden 150 hoffnungslos untüchtige Arbeiter zusammengetrieben und von »Macheteiros« zerfetzt, die ein gräßliches ortsübliches Verfahren anwandten, das »Corte do bananeiro": Die Klinge der Machete schwingt vor und zurück und schlägt dabei zwei Köpfe auf einen Schlag ab. Bei dem »Corte malor« hingegen wird der Körper in zwei oder mehrere Stücke gerissen, bevor er zu Boden fallen kann.
Hohe Festtage krönten die Sklavenhalter mit sportlichen Veranstaltungen, bei denen einige der aktiveren und daher wertvolleren Zapfer zur Feier des Tages geopfert wurden. Man verband ihnen die Augen und feuerte sie an, um jeden Preis zu entfliehen; während sie davonliefen, schossen Aufseher und Gäste sie mit Gewehren nieder.
Die Peruvian Amazon Company warb britische Staatsbürger aus Barbados an, die wilde Indianer jagen sollten. Sie wurden auf zahlreiche Expeditionen in Gebiete geschickt, in denen die Gesellschaft neue Kautschuk-Vorkommen aufspüren wollte. Sie erhielten Akkordlohn und mußten die Köpfe ihrer Opfer sammeln und als Beleg für ihre Zahlungsforderungen vorlegen. In diesem Gebiet gab es »Zuchtfarmen«, auf denen ausgewählte Indianermädchen für die Zeit nach der Ausrottung wilder Indianer Sklavenarbeiter gebaren.
Der britisch-irische Diplomat Sir Roger Casement deckte schließlich die Indianer-Greuel der Peruvian Amazon Company auf. Der weltweite Skandal traf allerdings zeitlich mit dem Niedergang des brasilianischen Kautschuk-Imperiums zusammen, das in den neuen malalischen Plantagen einen harten Konkurrenten erhalten hatte.
Das Gewissen wurde wach, zudem erschreckt von der drohenden Gefahr einer wirtschaftlichen Katastrophe. Der unmittelbar darauf folgende Ruin von Manaus zog spektakuläre Ereignisse nach sich. Die Geldquellen versiegten plötzlich.
Die Falschspieler, Abenteurer und Huren strömten in Scharen auf die Flußdampfer, um die Küste zu erreichen, und bezahlten die Passagen mit diamantenen Manschettenknöpfen und Solitärringen. Die Handeisfürsten, deren finanzielles Schicksal untrennbar an den Kautschuk gekettet war, begingen Selbstmord.
Die berühmten elektrischen Straßenbahnen, die ersten ihrer Art in Lateinamerika, stellten den Betrieb ein, nachdem ihnen der Strom abgeschnitten worden war; tobende Insassen steckten die Wagen in Brand. Das Opernhaus in Manaus schloß und sollte sich nie wieder öffnen. Die zweite Welle der Indianerausrottung war verebbt.
IM NÄCHSTEN HEFT
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