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Artikel 54 / 85

»Sie werden alle ausgerottet«

aus DER SPIEGEL 46/1969

2. Fortsetzung und Schluß

im Herzen des Mato Grosso und in den Wäldern des Amazonas gibt es trotz der brutalen Ausrottungspraktiken der brasilianischen Großgrundbesitzer und ihrer Handlanger vom staatlichen sogenannten Indianerschutzdienst (SPI) noch Indianer-Stämme, die sich weiterhin behaupten. In einem von der Regierung herausgegebenen Handbuch über die Indianer werden sie als »Isolados« eingestuft; in der Beschreibung wird ausdrücklich erwähnt, daß sie von allen Stämmen physisch die stärksten seien.

Niemand weiß genau, wie viele solcher Stämme heute noch existieren. Es können 300 oder auch mehr sein mit einer Bevölkerung von insgesamt 50 000 Personen; zu ihnen gehören winzige, unabhängige und scheinbar unzerstörbare Nationen mit eigener Sprache. eigenen Organisationsformen und Sitten. Unter anderem gibt es einen Stamm, der vor ungefähr 2000 Jahren von der japanischen Insel Hokkaido herübergekommen sein soll.

Eines haben alle diese Völker gemeinsam: eine großartige Kraft zum Überleben -- bis jetzt. Vor 400 Jahren gelang es ihnen, durch ihre Wachsamkeit den Sklavenhändlern aus dem Wege zu gehen und alle Epidemien zu überstehen. Sie wurden argwöhnisch, und ihre Häuptlinge hatten genug Intelligenz und Krall. jene tödlichen Gaben auszuschlagen, welche die Weißen am Rande ihrer Dörfer liegenließen, um ihre »Freundschaft« zu erkaufen und ihnen ihre Freiheit zu nehmen.

Zu diesen Stämmen gehörten die Cintas Largas, die in den Gebieten am Obenauf des Aripuana-Flusses lebten. Sie benutzten Steinäxte, hatten ihre

® 1969 The Sunday Times.

Pfeile mit Curare vergiftet, fingen kleine Fische dadurch, daß sie das Wasser vergifteten, spielten auf meterlangen Flöten, die sie aus riesigen Bambusrohren herstellten, und feierten jedes Jahr zwei grolle Feste: die Zeremonie zur Feier der Geschlechtsreife der jungen Mädchen und das Fest der Toten.

Bei beiden Festen nahmen sie einen unbekannten, aus Pflanzen gebrauten Trank zu sich, der sie in einen rituellen Rausch versetzte. Da sie in einem Gebiet lebten, in dem Kautschuk wuchs, waren sie ständig den Angriffen der Kautschuksammler ausgesetzt. 1962 drang der Missionar John Dornstander bis in das Gebiet der Cintas Largas vor, doch er mußte seinen Versuch, sie zum Christentum und zur Zivilisation zu bekehren, bald aufgeben.

Die Vernichtung der Cintas Largas wurde in Aripuana beschlossen, einem jener kleinen, modrigen Tropennester, deren Einwohner nur dort bleiben, weil sie aus diesem oder jenem Grund nicht mehr wegkönnen.

Eine Reihe von Pfahlbauten zieht sich im grellen Sonnenlicht den Fluß entlang. Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen kauern beieinander und entlausen sieh gegenseitig; Hunde fressen Exkremente; Geier spazieren auf und ab und stehen wippend am Rande eines Grabens voll schwarzer Abwässer.

Jedermann hier in Aripuana trägt ein Gewehr; die Langeweile läßt den Geist verrotten. Fast jeder, der arbeitet, ist Gummizapfer und vor dem Arm des Gesetzes in diesen teuflischen Ort geflohen.

Eines Tages tauchten in Aripuana »Garimpeiros« auf, eine organisierte Gruppe von Diamantenschürfern. Sie hatten ein indianisches Dorf angegriffen, waren zurückgeschlagen und dann in einen Hinterhalt gelockt worden, mehrere von ihnen wurden verwundet.

Die »Garimpeiros« sind einem »Capitae« unterstellt, der ihnen Nahrung und Ausrüstung liefert und dem sie verpflichtet sind, ihre Diamanten zu verkaufen -- bei Strafe, im Wald zurückgelassen zu werden und zu verhungern. Wie die Gummizapfer -- ihre traditionellen Feinde -- werden auch die Diamantensucher zumeist von der Polizei gesucht. Die Fehde zwischen diesen beiden Typen von Desperados rührt daher, daß die Gummizapfer die Gewohnheit haben, sich an den einsamen Garimpeiro heranzupirschen und ihn zu erschießen, in der Hoffnung, einen oder zwei Diamanten bei ihm zu finden.

In Aripuana hatten diesmal Abgesandte der Diamantensucher eine Art Waffenstillstand zustande gebracht. Die Garimpeiros kamen in die Stadt, erhielten Verpflegung und wurden von einem Arzt wieder zusammengeflickt.

Auf die Dauer bot die Stadt Anpuana zwei so schießwütigen Persönlichkeiten wie dem Anführer der Garimpeiros und dem Aufseher der Gummizapfer nicht Raum genug. Eine Zeitlang ertrugen es die Gummizapfer, daß die hereinströmenden Garimpeiros die Bars besetzten und die Prostituierten der Stadt für sich allein mit Beschlag belegten, Dann war es unvermeidlich, daß der Waffenstillstand wieder in eine Schießerei mündete.

Um den schießwütigen Gummisammlern Gelegenheit zu geben, sich übzureagieren. wurden unter der Leitung von Francisco de Brito, dem Generalaufseher der in Cuiabá, Mato Grosso, ansässigen Gummigewinnungsgesellschaft Arruda und Junqueira, mehrere Expeditionen in das Gebiet der Cintas Largas organisiert,

De Brito war ein geradezu legendäres Ungeheuer. Er hielt die ihm unterstellten Desperados mit Hilfe einer Automatik-Pistole und einer fünf Fuß langen Tapir-Lederpeitsche in Schach. Wenn ein Indianer gefangengenommen wurde, spielte de Brito mit ihm den sogenannten »Besuch beim Zahnarzt«. Dem Indio wurde befohlen, »den Mund weit aufzumachen«, woraufhin de Brito seine Pistole zog und ihm in den Mund schoß.

Die von de Brito ausgerüsteten Expeditionen verbuchten Erfolge: Sie rotteten die Cintas Largas fast vollständig aus. Ein großes Dorf war noch übriggeblieben, das man weder zu Fuß noch mit dem Boot erreichen konnte. Daher wurde beschlossen, dieses Dorf mit dem Flugzeug anzugreifen und so viele Indianer wie möglich bei einem einzigen Angriff zu töten. Der Angriff sollte zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem die meisten Indianer in dem Dorf sein würden. Ein Sachverständiger erteilte den Rat, dies könne am besten anläßlich des jährlichen Quarup-Festes geschehen, das einen Tag und eine Nacht lang dauert.

Beim Quarup-Fest werden die Schöpfungslegende und Ereignisse aus dem Leben des Stammes schauspielerisch dargestellt: Quarup ist gleichzeitig ein Mysterienspiel und ein Familienfest, an dem nicht nur die Lebenden, sondern auch die Geister der Ahnen teilhaben. Sie erscheinen als maskierte Tänzer, deren Rat man erbittet, sie trösten die Trauernden und sind ein Zeugnis dafür, daß nicht einmal der Tod die Einheit des Stammes zerbrechen kann.

Für den Angriff wurde ein Privatflugzeug vom Typ Cessna gemietet, und der dazugehörige Pilot durch einen berüchtigten Abenteurer ersetzt.

Beim ersten Anflug wurden Zuckerpakete heruntergeworfen, um diejenigen Indianer zu beruhigen, die beim Anblick des Flugzeugs panikartig auseinandergelaufen waren und Schutz gesucht hatten. Sie öffneten die Pakete und waren gerade dabei, den Zucker zu probieren, als das Flugzeug zurückkehrte, um auf die ahnungslosen Indios Dynamitstangen herabzuwerfen. Niemand hat jemals feststellen können, wie viele Indianer dabei getötet wurden, da die Überlebenden die Körper der Getöteten nach dem Angriff im Flußbett begruben und das Dorf verließen.

Aber auch dieser Mord war noch keine Endlösung. Vom Flugzeug aus wurde beobachtet, daß die Cintas Largas im Gebiet des oberen Aripuana neue Siedlungen bauten. Noch einmal stellte de Brito eine Streitmacht zusammen.

Diese Gruppe sollte von einem gewissen Chico Luis, einem Unterführer de Britos, angeführt werden. Das Unternehmen wurde bekannt, weil ein Mitglied dieser Desperado-Bande. Ataide Pereira dos Santos, aus Verärgerung darüber, daß man ihm ein versprochenes Kopfgeld von 15 Dollar nicht auszahlte, dem Jesuiten-Pater Edgar Smith beichtete. Smith nahm den Bericht auf Tonband auf und händigte das Band dann dem Indianerschutzdienst aus.

»Wir fuhren in einer Art Barkasse den Rio Juruena hinauf«, erzählt Ataíde »Wir waren sechs erfahrene Männer unter dem Kommando von Chico Luis, der die Angewohnheit hatte, jedesmal, wenn er einen Befehl erteilte, seine Maschinenpistole auf uns anzulegen.

»Wir brauchten ziemlich viele Tage, um stromaufwärts nach Serra do Norte zu gelangen. Danach verirrten wir uns in den Wäldern, obgleich Chico einen japanischen Kompaß mitgebracht hatte. Am Ende wurden wir von dem Flugzeug gefunden. Es war dieselbe Maschine, die schon für das Massaker benutzt worden war, und man warf uns einige Vorräte und Munition herunter.

»Anschließend zogen wir fünf Tage lang weiter. Dann ging uns wieder die Verpflegung aus. Wir hatten das ganze Unternehmen satt, und einige von uns wollten umkehren, aber Chico sagte, er würde jeden töten, der zu desertieren versuchte. Nach weiteren fünf Tagen erblickten wir Rauch. Aber auch dann waren die Cintas Largas noch Tagereisen von uns entfernt. Wir alle hatten ziemliche Angst, weil in dieser Gegend die Leute wahllos aufeinander schießen. Wenn sie jemanden getroffen haben, stecken sie anschließend einen Indianer-Pfeil in die Wunde, um so die Schuld auf die Indianer abwälzen zu können.«

Es war der Beginn der Regenzeit. Jeden Nachmittag ging auf die Expedition ein heftiger Wolkenbruch nieder. Die Männer litten unter Myriaden von kleinen Stechmücken, die sich in die Haut bohrten, um sich mit Blut vollzusaugen, und gegen die man sich nur dadurch verteidigen konnte, daß man den Körper mit einer Ruß- und Fettschicht einschmierte.

»Wir waren für diesen Job sorgfältigst ausgewählt worden«, heißt es weiter in dem Bericht. »Wir konnten uns so lautlos wie Indianer bewegen, wenn es darum ging, durch das Dickicht zu schleichen. Als wir in das Gebiet der Cintas Largas kamen. durfte kein Feuer mehr angezündet und auch nicht mehr gesprochen werden. Sobald wir ihr Dorf ausgemacht hatten, machten wir Halt und übernachteten. Vor Morgengrauen standen wir auf, robbten Meter um Meter durch das Unterholz, bis wir in Schußweite waren, und dann warteten wir den Sonnenaufgang ab.

* Geständnis des Ataíde Pereire dos Santos, der an einer von Chico Luis geleiteten Vernichtungsaktion gegen den Stamm der Cintas Largas teilgenommen hat.

»Als es hell geworden war, kamen die Indianer zum Vorschein und fingen an, an einigen halbfertigen Hütten weiterzubauen. Chico beauftragte mich, den Häuptling herauszufinden und ihn zu töten. Ich beobachtete, daß einer dieser Indianer nicht selbst mit Hand anlegte. Er lehnte sich nur an einen Felsen und kommandierte die anderen herum. Das vermittelte mir den Eindruck, er müsse der Mann sein, hinter dem wir her waren. Ich sagte das Chico, und er erwiderte: »Übernimm du ihn und überlasse mir die übrigen.«

»Ich traf ihn mit dem ersten Schuß ins Herz. Chico verpaßte dem Häuptling dann, um sicherzugehen, noch eine Salve mit seiner Maschinenpistole, und danach erledigte er die übrigen. Wir anderen brauchten dann nur den Überlebenden den Gnadenschuß zu versetzen.

»Das, was ich jetzt zu berichten habe, ist schauderhaft. Da war eine junge Indianerin, die sie nicht erschossen hatten. Sie hatte ein Kind von ungefähr fünf Jahren auf dem Arm, das aus Leibeskräften schrie. Chico wandte sich ihr zu, und ich rief. er solle sie doch in Ruhe lassen. Er aber sagte: »Diese Bastards werden alle ausgerottet!«

»Chico Luis schoß das Kind mit seiner 45er Pistole durch den Kopf, und dann packte er die Mutter -- die übrigens sehr hübsch war. »Sei vernünftig«, sagte ich. »Warum mußt du sie denn umbringen? Gib sie doch statt dessen den Jungens. Sie haben seit sechs Wochen keine Frau gesehen; oder falls das nicht geht, könnten wir sie mitnehmen und sie de Brito schenken. Es ist kein Fehler, sich mit ihm gutzustellen. Aber Chico sagte nur: »Wenn irgendeiner eine Frau will, kann er gehen und sich im Wald eine suchen.«

»Wir alle glaubten jetzt, er habe den Verstand verloren. Er hängte die Indianerin mit dem Kopf nach unten an einem Baum auf, die Beine auseinander, und hieb sie mit seiner Machete von oben nach unten in zwei Hälften. Fast mit einem einzigen Schnitt, möchte ich sagen.

»Wie in einem Schlachthaus war die Erde im ganzen Dorf blutbespritzt. Wir warfen die Leichen in den Fluß und traten den Rückweg an. Sechs Wochen hatten wir gebraucht, um die Cintas Largas zu finden, und ungefähr eine Woche benötigten wir für den Rückweg.

»Ich möchte ausdrücklich betonen, daß ich persönlich nichts gegen Indianer habe. Aber es ist eine Tatsache, daß sie auf wertvollem Land sitzen und nichts damit anfangen können. Es ist ihnen irgendwie gelungen, das beste Plantagentand zu finden, und dort sind auch alle diese wertvollen Mineralien zu haben. Die Indianer müssen überredet werden, von dort wegzugehen, und wenn das alles nichts hilft, dann müssen sie eben mit Gewalt dazu gebracht werden.«

De Brito, der diese Expedition organisiert hatte, sollte übrigens ein Jahr danach bei einer Revolte der Gummizapfer unter gräßlichen Umständen ums Leben kommen. Er wurde von mehreren Kugeln getroffen und erhielt einen Machetenhieb in den Leib, bevor er endlich zu Boden ging. Anschließend zog man ihn nackt aus, stopfte ihm mit einem Bündel Stroh die herausgequollenen Eingeweide wieder in den Leib und schleppte ihn, während er immer noch lebte, ins Freie, um ihn dort »für die Ameisen« liegenzulassen.

Wie viele Indianerjagden mögen in der Vergangenheit unbemerkt stattgefunden haben, wie viele wurden, wenn überhaupt, lediglich als notwendiges Übel verurteilt? Ataíde spricht von ihnen, als seien sie etwas Alltägliches, und sein Bericht gewinnt an Glaubwürdigkeit durch die Aussage, die der Pater Valdemar Weber dem Polizeiinspektor Salgado von Cuiabá zu Protokoll gab: »Es ist nicht das erstemal. daß die Firma Arruda und Junqueira Verbrechen gegen die Indianer begangen hat. Diese Firma dient anderen Unternehmen als Deckmantel, die Land kaufen wollen oder beabsichtigen, die reichen Mineralienlager dieser Gebiete auszubeuten.«

Wenn man die Macht der Fazendeiros und Kautschukbarone berücksichtigt, scheint völlig aussichtslos, daß es jemals zu einem Prozeß gegen die Firma Arruda und Junqueira kommen könnte. Anklagende Stimmen können augenblicklich zum Schweigen gebracht, falsche Zeugen jederzeit beschafft werden -- abgesehen davon, daß auch die juristischen Möglichkeiten recht beschränkt sind.

Ähnliche Anschuldigungen, wie Ataíde Pereira sie vorbrachte, sind zu Hunderten in den Akten der brasilianischen Polizei registriert und werden dort allmählich vergessen. Von zehn Kapitalverbrechen kommen neun niemals ans Tageslicht. Einen Leichnam aus dem Weg zu schaffen, ist kein

* Von der brasilianischen Zeitung »O Globo« am 14. Februar 1966 veröffentlichte Rekonstruktion der Mordaktion gegen den Cinta-Larga-Stamm. Photo rechts: Bandenführer Chico Luis.

Problem, da man ihn mühelos in den nächsten Strom werfen kann, wo er, wenn ihn kein Kaiman verschlingt, von den Piranhas im Laufe weniger Minuten zu einem sauberen Skelett abgenagt wird.

Aripuana liegt 900 Kilometer von Cuiabá, der Hauptstadt und dem Gerichtssitz von Mato Grosso, entfernt und kann nur mit gelegentlich und unregelmäßig eingesetzten Flugzeugen erreicht werden. Als Inspektor Salgado mit seinen Ermittlungen begann, standen ungefähr 1000 Straffälle zur Verhandlung an. Da das Gefängnis von Cuiabá nur Platz für fünfzig Personen hat (Menschen jeden Alters und Geschlechts sind zusammen untergebracht), warten die meisten Verbrecher auf ihren Prozeß in Freiheit -- falls er überhaupt jemals stattfindet.

Ataíde, der Hauptzeuge -- und nach eigenem Geständnis ein Mörder -, war jetzt Inhaber einer Eisbude in einer der Straßen von Cuiabá und konnte jederzeit vernommen werden. Aber alle anderen wesentlichen Zeugen verschwanden nach und nach. Zwei Mitglieder von Chicos Bande ertranken, »während sie auf Fischfang waren. Der Pilot des Flugzeuges, der auf die Cintas Largas die Dynamitstangen abgeworfen hatte, kam angeblich bei einem Flugzeugunglück ums Leben. und de Brito wurde bei der Revolte der Gummizapfer umgebracht. Sogar der Pater Smith war nicht mehr aufzufinden.

Aber trotz der Schwierigkeiten hatte Inspektor Salgado nach drei Jahren seine Ermittlungen abgeschlossen und schickte das Ergebnis dem Richter zu. Nach dem brasilianischen Gesetz ist der nächste Schritt die formelle Anklage, die vom Staatsanwalt vorgetragen werden muß. Es stellte sich aber heraus, daß die Beweisaufnahme diese Hürde niemals überwinden würde.

In Ländern wie Brasilien sind der landbesitzende Adel und die Chefs der großen Handelsfirmen durch dynastische Heiraten und Pakte mit mächtigen politischen Freunden gegen die Folgen von Gesetzesübertretungen fast vollständig abgesichert.

Im Fall der Cintas Largas erhob der Staatsanwalt Senhor Luis Vidal da Fonseca den Einwand, der Prozeß könne nicht in Cuiabá verhandelt werden, weil Aripuana unter die Rechtsprechung von Diamantino falle. Deshalb wurden die Akten nach Diamantino geschickt, von wo der Richter sie freilich sofort wieder nach Cuiabá zurücksandte. Die daraufhin befragte vorgesetzte Gerichtsbehörde verfügte, der Prozeß habe in Cuiabá stattzufinden.

Nun beantragte Staatsanwalt Fonseca seine Befreiung von der Amtswaltung als Staatsanwalt, da er der Rechtsanwalt der angeschuldigten Firma Arruda und Junqueira war. Ein zweiter Staatsanwalt hatte keine Lust, mit dieser lästigen Aufgabe betraut zu werden, und der Richter. von Cuiabá lehnte Fonsecas Antrag ab. Darauf bat Fonseca erneut das nächsthöhere Gericht um Annullierung der lokalen Entscheidung. Der Antrag wurde zwar abgelehnt, aber mit Manövern dieser Art waren inzwischen neun Monate vergangen, und es war April 1987 geworden.

Zu diesem Zeitpunkt wurde ein stellvertretender Staatsanwalt mit der Anklage betraut, dem man alsbald den Fall wieder abnahm mit der Begründung, daß seine Frau mit Sebastiao Arruda irgendwie entfernt verwandt sei, Ein anderer Staatsanwalt weigerte sich deswegen, weil Fonsecas Einwand angeblich juristisch nicht zulässig war; aus diesem Grunde wurden sämtliche Dokumente an den Staatsanwalt Fonseca zurückgeschickt.

Im September 1967 wurde ein vierter stellvertretender Staatsanwalt beauftragt, der, anstatt etwas zu unternehmen, die Dokumente dem Generalstaatsanwalt zuschickte. Dieser bestätigte wiederum die ursprüngliche Entscheidung, nach der Fonseca, der inzwischen fortgezogen war, die Anklage zu bearbeiten hatte. Es folgte ein endloses Hin und Her juristischer Spitzfindigkeiten sowie die Ernennung weiterer stellvertretender Staatsanwälte.

Im März 1968 protestierte der Generalstaatsanwalt: »Seit August 1966 sind im Zusammenhang mit diesem Prozeß die betreffenden Dokumente in einem endlosen Spiel von Entschuldigungen und Vorwänden, die nur eine Farce darstellen, hin und her geschickt worden zum großen Schaden für das Prestige der Justiz.«

Derart ermutigt, reichte der achte oder neunte stellvertretende Staatsanwalt nach fünf Jahren endlich eine formelle Klage gegen die Cintas-Largas-Mörder ein, die inzwischen entweder tot oder verschwunden waren. Die Namen der Firmenbosse António Junqueira und Sebastiao Arruda erschienen in der Anklageschrift nicht, »da für ihre Zustimmung zu dem Massaker kein Beweis erbracht werden konnte«. Als die Polizei die beiden Männer vorsorglich in Untersuchungshaft nehmen wollte, stellte sich heraus, daß sie unauffindbar waren. Wie kann den Indianern in Zukunft geholfen werden? Zweifellos hat die brasilianische Regierung die besten Absichten, wie etwa aus einem Bericht des Innenministeriums hervorgeht, in dem es heißt: »Das zwischen dem Landwirtschaftsministerium und dem Staat Mato Grosso getroffene Abkommen über die 35 000 Hektar des Reservats Teresa Cristina ist gründlich zu überprüfen. Gegen die Personen, die in dieses Gebiet eingedrungen sind und von ihm Besitz ergriffen haben, sind Maßnahmen zu ergreifen.

»In bezug auf die Indianergebiete in der Provinz Rondónia müssen strenge Untersuchungen stattfinden. Besondere Aufmerksamkeit ist in Hinblick auf jene Gebiete geboten, die reich an strategisch wichtigen Metallen sind.«

Freilich, die schon über vier Jahre andauernde Schlacht gegen die Firma Arruda und Junqueira ist wenig ermutigend. Und wenn den Banken. Genossenschaften, Großgrundbesitzern und Bergwerksgesellschaften nach unendlichen Prozessen tatsächlich ein wenig Land wieder entrissen werden sollte -- was können die Indianer dann tun? Sind sie noch fähig, wieder zu dem freien Leben des »Isolado« zurückzukehren? Wie ist dem Indianer zu helfen, der, wenn er wieder von seinem Land Besitz ergreift, feststellen muß, daß sein Wald inzwischen abgeholzt ist?

Die Nachfolgeorganisation des Indianerschutzdienstes, die »Fundacao Nacional de Assistencia ao Indio« (FUNAI), hofft auf den Nationalpark Xingú, der von den Brüdern Vilas Boas ohne fremde Hilfe geschaffen wurde. Diese beiden Idealisten sind der Meinung, daß ihr Nationalpark für alle Ewigkeit ein unveränderliches Reservat des alten indianischen Lebensstils bleiben wird -- leider ist aber kaum jemand zu finden, der Ihren Glauben teilt.

Der Xingú-Nationalpark gewährt vielleicht einem Dutzend Indianerstämmen Zuflucht vor der Zivilisation. Missionare sind in dem Schutzgeblet unerwünscht, und auch Besuchern gegenüber verhalten sich die Brüder Vilas Boas nicht sonderlich entgegenkommend. Das Reservat soll künftig doppelt so groß wie der jetzige Nationalpark werden -- aber wenn man an den Sturz des Präsidenten Goulart zurückdenkt, unter dessen Regierung ebenfalls Idealismus und kommerzielle Interessen aufeinanderprallten, dann kann man über diese Pläne nur noch staunen.

Im günstigsten Fall können bei einer Verdoppelung der Fläche des Nationalparks höchstens 4000 Isolados gerettet werden. Ein paar hundert weitere können in einem neuen Reservat unterkommen, das soeben im Tumuc-Humac-Gebirge geschaffen wurde. Diese Indianer würden dann wie seltene Raubvögel im schottischen Hochland oder wie seltene exotische Tiere im Zoologischen Garten erhalten werden.

Die Zukunft der 50 000 oder 100 000 Indianer, die außerhalb jener Reservate übrigbleiben, ist indessen ungewiß. Im Augenblick werden sie bis zu einem gewissen Grade durch eine Welle nationaler Selbstbezichtigung geschützt, die eines Tages mit Sicherheit wieder in Gleichgültigkeit ausläuft. Die Annahme, daß Brasiliens Bevölkerung von 80 Millionen Menschen, die zum größten Teil in bitterster Armut lebt, ernsthaft am Schicksal von 100 000 Indianern Anteil nimmt, ist unrealistisch. Aber genauso unrealistisch ist die Vorstellung, daß man die Fundorte seltener Metalle unberührt lassen wird, nur weil sich dort zufällig ein Indianerreservat befindet.

Es scheint vermessen, den einzig dastehenden Fall der Maxacalis als eine mögliche Kompromißlösung zwischen einer gefahrbringenden Isolierung und dem ethnischen Selbstmord der Eingliederung zu sehen -- aber eine andere Hoffnung zeichnet sich nirgends ab.

Die Maxacalis -- über deren Ursprung man, wie bei so vielen brasilianischen Stämmen, nichts weiß -- leben in drei Dörfern in der Gegend von Belo Horizonte. Sie sprechen eine seltsame gutturale Sprache, schnitzen Totempfähle, die denen der kanadischen Indianer gleichen, und haben eine ungewöhnliche Sitte, mit Mördern zu verfahren: Tritt der seltene Fall ein, daß bei ihnen ein Mord begangen wurde, dann wird der Mörder Ehrengast einer Zeremonie. die seinem eigenen Begräbnis vorangeht. Danach wird er getötet und In derselben Grabstätte wie sein Opfer beerdigt, »damit ihre Geister versöhnt werden können«.

Wie alle Indianer sind auch die Maxacalis theoretisch durch die Verf assung .geschützt, die ihnen den Besitz ihres Landes garantiert, aber wie bei allen anderen Indianerstämmen fand auch bei ihnen eine genaue Abgrenzung ihres Gebietes niemals statt. Im Laufe der Zeit ließen die Großgrundbesitzer langsam den umliegenden Wald urbar machen, und das Land der Maxacalis wurde immer kleiner.

Vor einigen Jahren stellten die Maxacalis fest, daß sie nicht länger als Jäger und Fischer leben konnten, und die Regierung gab ihnen etwas Vieh. Diese Rinder wurden ihnen bald danach von den Funktionären des Indianerschutzdienstes gestohlen, die ihnen gleichzeitig das letzte Land wegnahmen, um sich darauf selbst als Viehzüchter niederzulassen.

Im Jahre 1966 schließlich gab es für die Maxacalis kein Land, kein Wild, keine Fische und kein Vieh mehr. Darauf bewaffneten sie sich, griffen eine Fazenda nach der anderen an, schlachteten das Vieh und steckten die Gebäude in Brand.

Es war ein Glück für sie, daß diese Angriffe sich nicht gegen die Besitzer der Riesen-Fazendas richteten, die möglicherweise Flugzeuge herbeigerufen oder bakteriologische Kampfmittel gegen die Indios angewandt hätten. Statt dessen waren ihre Gegner nur Besitzer kleiner Fazendas, mit beschränkter Phantasie und konventionellen Hilfsmitteln.

Die Fazendeiros wandten die traditionelle Methode an, in den Maxacali-Dörfern Feuerwasser zu verteilen. Auf die leeren Mägen übte der Schnaps eine entsetzliche Wirkung aus. Die Indianer brachten sich im Rausch gegenseitig um, und wenn der Hunger die Überlebenden erneut in die Richtung der Fazendas trieb, dann erwarteten sie dort professionelle Killer. Es war dieselbe Tragödie. die sich in der Mitte des letzten Jahrhunderts zwischen einer Handvoll Rothäute und den nordamerikanischen Pionieren abgespielt hatte.

Zu Beginn des Jahres 1967 wurde der Hauptmann Manuel Pinheiro von der Militärpolizei ausgesandt, um Ordnung zu schaffen. Zuerst nahm er den Fazendeiros 2835 Hektar Land weg und kassierte für den Rest des indianischen Landes, das sie behielten, Pacht ein. Von dem Gelde ließ er drei kleine Bewässerungsdämme bauen und kaufte moderne landwirtschaftliche Geräte. Das von den SPI-Funktionären gestohlene Vieh zog er ein und teilte jeder Indianerfamilie mindestens eine Kuh zu. Der Verkauf von Alkohol wurde ab sofort mit fünfzehn Tagen Zwangsarbeit bestraft. Innerhalb von sechs Monaten kam der Stamm nicht nur für den eigenen Unterhalt auf, sondern erzeugte auch einen Überschuß an Milch und Käse.

Der Stamm erhielt den Charakter einer wirtschaftlichen Gemeinschaft und gewann dadurch mehr und mehr die Achtung der Weißen. Die Maxacalis kaufen, verkaufen und tauschen, ihre Genossenschaft hat ein Bankkonto eröffnet und Versicherungsverträge abgeschlossen.

Vor sechs Monaten ging ein Maxacali nach Säo Paulo, um an einem Lehrgang für Traktorfahrer teilzunehmen. In einem abschließenden Wettbewerb, bei dem auch ein Traktor auseinandergenommen und wieder zusammengebaut werden mußte, erhielt er unter 50 Teilnehmern den ersten Preis.

*

Wenn die letzten Indianer Brasiliens vor dem Untergang bewahrt werden sollen, muß auch in bezug auf die Missionare eine Entscheidung getroffen werden. Der amtliche Regierungsbericht bestätigt, daß die Zusammenarbeit des Indianerschutzdienstes mit den Missionsstationen sich unheilvoll ausgewirkt hat. Die Missionare wurden stets von den Behörden mit unsauberen Handeisgeschäften betraut, wie etwa dem Tauschhandel von Halbedelsteinen und Pelzen mit den Indianern. Die brasilianische Presse griff sie pausenlos wegen ihrer »bewußten Zerstörung der Eingeborenen-Kultur an, der sie nichts Entsprechendes entgegenzusetzen« hätten. Zur gleichen Zeit jedoch wurden Befriedungsteams ausgesandt, um mit isolierten Stämmen zu verhandeln; und jedem dieser Teams gehörten zwei Missionare an.

Was immer auch beschlossen werden mag -- selbst wenn Brasilien nur noch ärztliche Missionare zu den Indianern lassen würde -, eine Tatsache darf nicht außer acht gelassen werden. Zehntausende von Indianern sind nämlich inzwischen von den Missionsstationen absolut abhängig geworden, und wenn ihnen ihre wirtschaftliche Unterstützung weggenommen würde. wären sie dem Hungertod ausgeliefert.

Von der neuen nationalen Indianerstiftung aber hat man den Eindruck, daß die von ihr mit offensichtlicher Begeisterung in Angriff genommene Aufgabe ihre Kräfte übersteigt. Ihre Büros in Rio de Janeiro sind beengt und wirken kümmerlich im Vergleich zu denen der zahllosen Banken in ihrer Umgebung. Die Stiftung verfügt für ihre Ausgaben über eine Million Dollar im Jahr. Das ist aber so gut wie nichts.

Man kann sich schwer vorstellen, wie diese Stiftung mit den vielen kommerziellen Interessen, denen sie notwendigerweise konfrontiert wird. fertig werden soll. Bisher gibt es keinen Anlaß zu Optimismus.

Nachdem in den ersten Monaten anscheinend alles gutging, kommen inzwischen aus den Indianergebieten wieder niederschmetternde Nachrichten. Eine Gruppe von Studenten, die von einer Exkursion nach Areioes im Mato Grosso zurückkam, hatte dort nichts als Hunger und Ausbeutung der Indianer durch die Weißen vorgefunden. Der für die siebente Region eingesetzte Inspektor der Stiftung soll seinen Posten aufgegeben und die ihm anbefohlenen Indianer ihrem Schicksal überlassen haben.

Bei Belém, im Bundesstaat Pará, befindet sich einer der größeren Posten der FUNAI, der für Tausende von Indianern zuständig ist. Die Kontakte dieser Indianer mit den Weißen haben mehrmals bei den Eingeborenen große Epidemien -- hauptsächlich Masern und Lungenentzündung -- ausgelöst, Krankheiten, gegen welche die Indios keine Widerstandskräfte haben.

Zur selben Zeit, als diese beiden Nachrichten in der Presse veröffentlicht wurden, lieferte ein Abgeordneter dem Kongreßausschuß für Indianerangelegenheiten den Beweis dafür, daß Sklavenhändler aus Surinam (Niederländisch-Guayana) nach Brasilien eingereist waren und Indianer des Tiriosstammes verschleppten. Man hatte bisher angenommen, diese Indios seien in ihrem neuen Nationalpark Tumuc Humac sicher aufgehoben.

Zu Beginn dieses Jahres stellte der renommierte brasilianische Völkerkundler Professor Darci Ribeiro eine düstere Prognose auf: Nach seiner Berechnung wird im Jahre 1980 kein einziger Indianer mehr in Brasilien am Leben sein.

Normon Lewis

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