Brasilien Sieben Zwerge
Ricardo Fiuza, Ex-Sozialminister und ein erfahrener Parlamentsprofi, half sich mit einem bewährten Trick. Als er sich vor dem Untersuchungsausschuß des brasilianischen Kongresses Korruptionsvorwürfen stellen mußte, hielt er erst einmal eine schier endlose Verteidigungsrede.
Nach insgesamt zehn Stunden entließen ihn die erschöpften Abgeordneten, ohne die wesentlichen Fragen aufgeklärt zu haben:
Wie hat Fiuza innerhalb von vier Jahren sein Privatvermögen von 1,7 auf 7,3 Millionen Dollar vermehrt? Und wie kam es zur Erweiterung des Budgets 1992, für das er als Berichterstatter des Haushaltsausschusses zuständig war?
Antworten darauf glaubt der ehemalige Budgetdirektor Jose Carlos Alves dos Santos zu wissen. Er beschuldigte Fiuza, Gelder aus dem Staatsetat abgezweigt zu haben - gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Budgetkommission, die wegen ihrer kleinen Statur im Volksmund als »die sieben Zwerge« verspottet werden.
Nur ein Jahr nachdem der Kongreß den Präsidenten Fernando Collor wegen illegaler Bereicherung im Amt zum Rücktritt zwang, steckt das Parlament selbst in einem Sumpf an Korruption. Mindestens 40 Abgeordnete, ein Minister und drei Ex-Minister sowie eine Reihe Gouverneure und Bürgermeister sind in den neuen Skandal verwickelt.
Selbst den Chef der Untersuchungskommission, die das Absetzungsverfahren gegen Collor überwacht hatte, den Ex-Parlamentspräsidenten Ibsen Pinheiro, haben die Zwerge mit mindestens 55 000 Dollar bedacht. Brasilien treibt in eine weitere Staatskrise.
Die Affäre begann wie ein gewöhnlicher Fernsehkrimi. Polizisten nahmen dos Santos Mitte Oktober wegen Mordverdachts fest: Seine Frau war unter mysteriösen Umständen verschwunden. Bei der Hausdurchsuchung stießen die Beamten auf 800 000 Dollar, die dos Santos in seine Matratze gestopft hatte. In seinem Privatflugzeug fanden sich Spuren von Kokain.
Der Verdächtige trat die Flucht nach vorn an: Um von eigenen Missetaten abzulenken, schilderte er, wie die Budgetmafia den Staat um Millionen prellte.
Bislang hatten Brasiliens Abgeordnete die jährliche Debatte über den Staatshaushalt, in anderen Ländern eine Sternstunde des Parlaments, kaum ernst genommen.
Dabei »mußte man sich jedesmal ein Taschentuch vor die Nase halten, so sehr stank es nach Korruption«, sagt Sergio Machado von den Sozialdemokraten.
Kaum ein Parlamentarier durchschaut, welch verschlungenen Weg die Steuergelder nehmen - außer den sieben Zwergen in der Etatkommission, die über die Einzelbudgets der Ministerien und Abgeordneten entscheidet. Mitglied in dieser Runde zu sein, kam dem Privileg gleich, Geld zu drucken.
Ungestört kassierten die Volksvertreter, überwiegend Hinterbänkler aus bedürftigen Bundesstaaten im Nordosten des Landes, bei Staatsaufträgen ab, schanzten sich Sonderetats und Wahlkampfgelder zu. Nur zehn Prozent der 150 Millionen Dollar für das Sozialministerium wurden beispielsweise für ihren Bestimmungszweck verwendet, der Rest floß in die Taschen der Parlamentarier.
Während Krankenhäuser und Schulen wegen Geldmangels verfielen, lebten die Kommissionszwerge auf großem Fuß.
Ihr Chef Joao Alves, ein Abgeordneter aus dem Nordost-Bundesstaat Bahia mit einem regulären Monatseinkommen von rund 7000 Dollar, brachte es innerhalb weniger Jahre zum vielfachen Millionär. Seit 1984 wacht er über die Geldverteilung im Kongreß. Über die Konten seiner Hausbank, in der Presse »Schneewittchens Sarg« genannt, flossen monatlich Millionen Dollar.
Er habe »mit Gottes Beistand« 200mal in Lotterien gewonnen, rechtfertigte Alves seinen Wohlstand vor dem Untersuchungsausschuß. In Wahrheit benutzte er gefälschte Lose der Staatslotterie zur Geldwäsche.
Brasiliens Zentralismus erleichterte den Budgetwächtern ihr Geschäft. Selbst Provinzkrankenhäuser müssen ihren Etat bei der Zentralregierung in BrasIlia beantragen. Dort kungeln die Politiker mit einem exklusiven Kreis von Unternehmern aus, wie sie das Geld der Steuerzahler und Kreditgeber verprassen. Besonders beliebt sind prestigeträchtige Großprojekte: Bei den Verträgen mit Baufirmen lassen sich Millionen an Provision abzweigen.
Sieben große Bauunternehmen teilten im vergangenen Jahr 70 Prozent aller Staatsaufträge untereinander auf. Sie bauen Eisenbahngleise ohne Zielbahnhof, Brücken ohne Straßenanschluß, Kraftwerke, die nie ans Netz gehen. Je länger eine Arbeit dauert, je komplizierter sie wird - Tunnelbohrungen sind besonders beliebt -, desto höher können die Unternehmer die Kosten treiben. Den Extragewinn teilen sie sich mit dem verantwortlichen Politiker.
Nach jeder Wahl und jedem Machtwechsel starten Gouverneure, Bürgermeister und Präsidenten neue Mammutprojekte. Die unvollendeten Werke ihrer Vorgänger verfallen derweil und verwandeln Brasilien in einen gigantischen »Dinosaurierpark der Korruption« (die Zeitschrift Veja).
Die jüngsten Enthüllungen sind nur der auffälligste Teil einer ganzen Kette von Affären. Schon länger wird gegen Abgeordnete ermittelt, die angeblich Prostitutionsringe aufzogen, Babys für Adoptionen vermittelten, Freiflugtickets verscherbelten, Unterschriften fälschten und illegal mit Gold handelten.
Strafen brauchen die Volksvertreter kaum zu fürchten. Bislang war Brasiliens Justiz nicht einmal in der Lage, die Affäre um Ex-Präsident Collor aufzuarbeiten. Der schmählich Gestürzte plant bereits eine neue Karriere als Abgeordneter in Sao Paulo.
Weniger als die Hälfte der Brasilianer vertrauen laut Umfragen inzwischen noch ihren Vertretern. In Agonie treibt das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas den Präsidentschaftswahlen entgegen. Wichtige Gesetzesprojekte wie die überfällige Verfassungsreform und das Privatisierungsprogramm sind blockiert.
Der öffentlichkeitsscheue Präsident Itamar Franco ergeht sich in melancholischen Betrachtungen über die Bürde seines Amtes und dezenten Rücktrittsofferten. Das Regieren, so scheint es, hat er bereits aufgegeben.
Pedro Simon, Chef der Regierungsfraktion, will jetzt nach italienischem Vorbild mit einer »Operation Saubere Hände« den Filz durchforsten. Die Aufräumaktion könnte zur Sisyphusarbeit werden: Denn nicht nur der Kongreß in BrasIlia stinkt, sondern auch die Parlamente der 26 Bundesstaaten. Y