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WAFFENSYSTEME Sieg der Roboter

aus DER SPIEGEL 12/1964

Seit der Ford-Generaldirektor Robert S. McNamara als Verteidigungsminister im Pentagon residiert, streiten Menschengehirne gegen Elektronengehirne: Nach dem Vorbild der Industrie ließ der Minister Kosten und Nutzen aller Projekte der US-Wehrmacht durch Rechenroboter ermitteln.

Wie immer die Elektronengehirne urteilten, so entschied auch McNamara. Die Roboter machten im Laufe der letzten Jahre manches Lieblingsprojekt der Militärs zunichte - den Überschall -Fernbomber RS-70, den Bau größerer Flugzeugträger und die Entwicklung der Luft-Boden-Rakete Skybolt. Im letzten Monat kehrten die Roboter sich zum erstenmal gegen ihren Gebieter: Sie verurteilten ein Projekt, das McNamara selbst mit Eifer gefördert hatte.

Es ging um die »Rakete X« - eine bewegliche Mitteistreckenwaffe, für die sich nicht nur McNamara und die amerikanischen Generalstabschefs begeistert hatten, sondern deren Entwicklung schon seit langem von den Nato -Oberbefehlshabern Norstad und Lemnitzer sowie von den deutschen Verteidigungsministern Strauß und Hassel gefordert worden war.

Für die Rakete X sprachen in den Augen ihrer Befürworter viele Vorteile:

- Verteidigungsminister McNamara, dem von seinen Militärs vorgeworfen wird, daß er aus Gründen der Kostenersparnis erfolgversprechende Waffenentwicklungen gestoppt hat, wollte als Verfechter eines neuen Waffensystems seine Kritiker widerlegen.

- Die US-Stabschefs forderten eine Waffe, mit der sie die »Reichweiten -Lücke« ausfüllen könnten, die zwischen den Raketentypen »Pershing« (600 Kilometer) und »Polaris A-3«

(4000 Kilometer) klafft. Rakete X sollte einie Reichweite von etwa 2500 Kilometer haben und an Treffsicherheit alle anderen US-Raketen überbieten.

- Die Nato-Oberbefehlshaber und die deutschen Generäle forderten die Rakete X, um Europa gegen die auf Europa gerichteten sowjetischen Mittelstreckenraketen zu verteidigen. Ihr Argument: Die neue Rakete würde nur zehn Minuten brauchen, um ein Ziel in Osteuropa zu treffen; eine in den USA gestartete Interkontinentalrakete oder eine vom U-Boot abgeschossene Polaris benötigt dagegen etwa 20 Minuten.

- Die jungen Intellektuellen im Pentagon, von denen die Theorie eines

begrenzten strategischen Atomkrieges stammt, hatten sich für die Rakete X eingesetzt, weil sie einen kleinen CEP* hat und deshalb zur Vernichtung des Ziels nur einen Kilotonnen-Sprengkopf braucht, der die Zerstörung begrenzt und unnötige Opfer vermeidet.

Das Rechenzentrum des Pentagon wies jedoch nach, daß die neue Rakete dem von McNamara eingeführten betriebswirtschaftlichen Grundsatz der cost-effectiveness nicht gerecht wird: des höchstmöglichen Ertrages im Vergleich zu den aufgewendeten Kosten.

In Kriegsspielen, die McNamaras Elektronengehirne gegeneinander austrugen, stellte sich heraus, daß bei einem »gemischten« sowjetischen Atomangriff auf militärische und zivile Ziele 160 Millionen von den 320 Millionen Menschen sterben müßten, die in fünf Jahren (wenn die vorgesehenen 600 Mittelstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent einsatzbereit wären) in den europäischen Nato-Staaten leben werden. Ein Einsatz der neuen Mittelstreckenraketen gegen einen solchen ersten Atomschlag der Sowjets würde diese Todesrate nur um zehn Millionen Menschen verringern.

Sollten die Russen einen Atomangriff nur gegen militärische Ziele in Westeuropa richten, wäre die Gegenwirkung der Rakete X ebenfalls gering. Statt 15 Millionen Europäer würden 14 Millionen getötet werden.

Auch andere Argumente der Befürworter wurden bei diesen Kriegsspielen widerlegt: Die erhöhte Treffsicherheit erbrachte keinen Vorteil, weil in dem

SIOP (Strategie Integrated Operational

Plan), dem Operationsplan für einen Atomkrieg, alle wichtigen Ziele in Osteuropa mehrfach mit verschiedenen Waffen belegt sind, die eine größere Streuung haben als die Rakete X.

Auch der Zeit-Vorteil wirkte sich nicht

aus. Denn die US-Strategen streben an, daß bei einem Atomschlag alle Waffen möglichst gleichzeitig im Ziel eintreffen. Dadurch soll erreicht werden, daß bei einem vorbeugenden Angriff der Überraschungseffekt erhalten bleibt; bei einem Gegenschlag soll die Gleichzeitigkeit verhindern, daß die sowjetische Abwehr Zeit zum Sammeln hat.

Die so errechnete Grenznutzenkurve der mobilen Mittelstreckenrakete ergab, daß es wesentlich sinnvoller wäre, die benötigten Gesamtkosten (eine Milliarde Dollar für die Entwicklung, zwei bis drei Milliarden für die Produktion, mehrere Hundert Millionen jährlich für die Unterhaltung) für, andere Waffen und Schutzmaßnahmen zu verwenden.

Die Vorschläge der Elektronengehirne: Vermehrung der bereits im Einsatz befindlichen Minuteman-Raketen, Entwicklung einer Anti-Raketen-Rakete, Ausbau von Luftschutzräumen, insbesondere gegen radioaktive Strahlung, und Verbesserung der Warnsysteme.

Der Kongreß gehorchte den Elektronengehirnen. In der vergangenen Woche strich er aus dem Militärhaushalt 105 Millionen Dollar, die für die Entwicklung der Rakete X vorgesehen waren.

* Die Treffsicherheit der US-Raketen wird nach dem »wahrscheinlichen Fehltrefferkreis« CEP (Circular Error Probability) berechnet. Der CEP ist ein um den Mittelpunkt des Ziels geschlagener Kreis, in dem die Hälfte der auf dieses Ziel abgeschossenen Raketen auftreffen würde. Bei der Minuteman und der Polaris beträgt der Radius dieses Kreises eineinhalb Kilometer.

Amerikanische Land-Rakete »Pershing«

Für die Reichweiten-Lücke ...

Stratege McNamara

160 Millionen Tote in Europa

Amerikanische U-Boot-Rakete »Polaris A-3«

... eine Waffe X?

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