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Artikel 20 / 74

»SIEH DIR DIE SONNE NOCH MAL AN!«

aus DER SPIEGEL 36/1965

Am 4. Januar 1944, morgens gegen

8.30 Uhr, gab Kapitän Heinrich von Allwörden auf der Höhe von Natal im Südatlantik den Befehl zur Versenkung seines Schiffes, der »Rio Grande«, 6062 BRT. Der US-Kreuzer »Omaha« und sein Begleitzerstörer »Jouett« schickten sich an, die »Rio Grande« aufzubringen. Das Motorschliff war als Blockadebrecher auf dem Weg von Jokohama nach Bordeaux; es hatte Kautschuk und andere Rohstoffe geladen.

Die fest eingebauten Ladungen gingen hoch, dreimal 75 Kilo Sprengstoff taten ihr Werk. Die »Rio Grande« bäumte sich auf, sackte ab. Kapitän von Allwörden erhob sich im Boot und salutierte. In einem anderen Boot brachte Kapitän August Bansen, ein alter Fahrensmann, der Gast auf der »Rio Grande« gewesen war, »Three cheers« aus.

Man hielt die Bräuche der christlichen Seefahrt am Sterbebett eines Schiffes ein. Auch die Liebe zur sprachlosen Kreatur war am Werk: Der Erste Offizier, Hans Georg Erhardt, hatte seinem Wolfshund einen Platz im Kapitänsboot verschafft.

Gleichzeitig allerdings sah und hörte die Besatzung des Blockadebrechers, wie der Matrose Alfred Poweleit, 26, in einer Zelle unter der Back an der Backbordseite eingeschlossen, mit dem Schiff versank.

Poweleit flehte um Befreiung aus seinem Gefängnis, erinnert sich Wilhelm Naumann, heute Küchengehilfe in Hamburg. Wie ein Stier starrte Poweleit aus dem Bullauge, erinnert sich Harald Bittis, heute Kaufmann in Soest. Noch in den Rettungsbooten hörte man Poweleit brüllen, erinnert sich Johann Gursky, heute Bahnbetriebsarbeiter in Würzburg.

Matrose Poweleit ging auf höheren Befehl mit der »Rio Grande« unter. Es bestand also kein Anlaß, die seemännische Tradition zu vernachlässigen oder in der Tierliebe säumig zu sein. Befehl ist Befehl.

Die Staatsanwaltschaft am Landgericht Hamburg war anderer Meinung. Am 21. Juli dieses-Jahres erhob sie Anklage gegen den Admiral a.D. Paul Werner Wenneker, 75. Am 12. August wurde Wenneker verhaftet.

Am 2. Oktober 1943 hatte Wenneker. seit dem Februar 1940 Marineattaché an der Deutschen Botschaft in Tokio, eine »Geheime Kommandosache!« an die Schiffe »Osorno«, »Rio Grande« und »Burgenland« gegeben. An Bord dieser Schiffe, die mit Rohstoffen in die Heimat durchbrechen sollten, befanden sich Gefangene. Drei auf der »Osorno«, je einer auf der »Rio Grande« und auf der »Burgenland«.

Die Häftlinge seien während der ganzen Heimreise in Einzelhaft zu halten, befahl Wenneker. Es handle sich um »überführte Verbrecher«, die mit schwersten Strafen zu rechnen hätten. Im Fall ihrer Gefangennahme durch den Feind könnten sie landesverräterischie Aussagen machen. Deshalb, seien sie auch im Fall einer Selbstversenkung nicht freizulassen; sie müßten gegebenenfalls mit dem Schiff untergehen.

Die drei Gefangenen an Bord der »Osorno« erreichten Bordeaux. Keiner von ihnen ist, wie nach Wennekers Befehl zu vermuten gewesen wäre, zum Tode verurteilt worden. Mit der »Rio Grande« aber ging der Matrose Poweleit unter. Und an Bord der »Burgenland« wurde vor der Selbstversenkung am 5. Januar 1944 der inhaftierte Journalist Hofmeier erschossen.

Wenneker ist von 1960 bis 1965 wiederholt zu den Fällen Hofmeier und Poweleit gehört worden. Seine Einlassungen widersprachen sich fatal. Sie reichten bis zu der Erklärung, seine Unterschrift müsse gefälscht worden sein. Wenneker, nicht mehr der Jüngste, wenn auch als Vertreter für eine Tapetenfabrik noch aktiv, erinnerte sich wohl zunächst tatsächlich nicht. In seiner Erinnerung grabend und aus Gesprächen mit ehemaligen Mitarbeitern und Untergebenen schöpfend, versuchte er zu rekonstruieren.

Das mag zum Teil erklären, warum er erst im Februar 1965 einräumte, es sei möglich, daß er den Befehl vom 2. Oktober 1943 tatsächlich gegeben habe. Zugleich griff er auf eine Angabe zurück, die im Wirbel seiner Aussagen schon einmal, im Juli 1962 in einem Brief an die Staatsanwaltschaft, kurz aufgetaucht war: Er habe den Befehl erst gegeben, nachdem ihm die Kapitäne versichert hätten, sie würden im Falle der Selbstversenkung nicht befehlsgemäß handeln.

Wennekers Erklärung für das paradoxe Verfahren, einen Befehl erst zu erteilen, nachdem er unterminiert ist, war Joseph Meisinger, der Polizeiattaché an der Botschaft in Tokio. Um den Nachstellungen dieses Mannes zu entgehen, habe er die Transportbefehle mit der Todesklausel ausgestellt. Stets jedoch sei die Seekriegsleitung von ihm entsprechend unterrichtet worden, ohne daß diese ihm je die Aufhebung des Befehls nahegelegt oder Kritik übermittelt hätte.

An der Kannibalenrolle Meisingers, der 1945 an Polen ausgeliefert und hingerichtet wurde, ist nicht zu zweifeln. Soweit sein Arm reichte, hetzte der 1,90 große, stiernackige Bayer und Blutordensträger in Asien Menschen; Juden, Emigranten, »unzuverlässige Elemente«. Und wie einen Jagdhund trieb es ihn, zu apportieren, seine Beute den Herren daheim vor die Füße zu legen.

Der Einfall, die Blockadebrecher auch zum Gefangenentransport zu nutzen, stammt von Meisinger. Die Anordnung, die Gefangenen im Fall der Selbstversenkung nicht freizugeben, hat er ausgeheckt. Denn Meisinger, ein brutaler und konsequenterweise feiger Bluthund, mußte sich bewähren: Er war noch für die Unschuld seines Schachpartners Richard Sorge eingetreten, als Sorge seine Spionagetätigkeit für die Sowjet-Union den Japanern schon gestanden hatte.

War Admiral Wenneker dem Polizisten Meisinger ausgeliefert? 1961 sagte Wenneker aus, die Seekriegsleitung habe ihn allgemein angewiesen, den Wünschen der Parteidienststellen in Tokio zu entsprechen, falls nicht dadurch die Beziehungen zwischen der deutschen und japanischen Marine belastet würden. Diese distinguierte Empfehlung hat Wenneker gewiß korrekt wiedergegeben. Sie ist zu charakteristisch, um eine Ausflucht zu sein.

Sie paßt in das Bild der Marine jener Jahre, die sich noch immer als etwas Besonderes empfand. Die aber auch den November 1918 im Gebein spürte und beweisen wollte, daß dergleichen nicht mehr möglich sei. Die darum bereit war, der leidigen Politik Rechnung zu tragen, sosehr die auch an der Glorie

vom anständigsten aller Kriege, dem Seekrieg, nagte.

Befehlen, wie gewünscht, solange nicht Marinebelange direkt geschädigt werden; und im Rücken der Befehle vertrauliche Absprache zur Umgehung des menschlich Unerträglichen: So operierte man.

Fraglos hat Wenneker versucht, in vertraulichen Absprachen die Durchführung der tödlichen Befehle, die er ausgab, zu verhindern. Doch hatte er nicht immer Erfolg. Der Kapitän der »Burgenland«, Schütz, auf dessen Schiff der Journalist Hofmeier umgebracht wurde, starb vor Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Ob Kapitän Schütz Wennekers Befehl für verbindlich ansah oder nicht, ist strittig.

Hofmeier wurde nicht mit der »Burgenland« ersäuft. Ein Mann vom Personal der Botschaft in Tokio namens Ender (er starb 1956), Pg, von Meisinger eigens zur Bewachung Hofmeiers auf die »Burgenland« kommandiert, trieb seinen Häftling kurz vor der Selbstversenkung an Deck: »Es ist soweit, sieh dir die Sonne noch mal an!« Dann schoß Ender mit einer Pistole auf Hofmeier, der sich noch bis zur Reling schleppte. Dort starb er, mehrfach getroffen. Den in die Boote gehenden Männern hatte Hofmeier noch zugerufen: »Ihr Nazi-Schweine!«

Viel mehr weiß man nicht über Hofmeier, das Opfer auf der »Burgenland«. Er soll der Spionagegruppe Sorges angehört haben, doch dafür gibt es keinen Beweis.

Kapitän Hellmann von der »Osorno«, die Bordeaux erreichte und ihre drei Gefangenen ablieferte, gab an, er habe zu Wenneker gesagt, dieser Befehl »das ist auch so ein Ei«. Wenneker habe darauf an seine Menschlichkeit appelliert, und er habe verstanden, daß der Befehl nicht auszuführen sei. Hellmann starb 1962.

Kapitän von Allwörden aber, mit dessen Schiff der Häftling Poweleit versank, besteht darauf, ihm gegenüber sei der Befehl nicht zurückgenommen worden. Wäre das geschehen, so hätte er Poweleit selbstverständlich freigelassen vor der Versenkung. Eine Aussage wie von einem Juristen. Doch bringt sie den Handelsmarine-Kapitän von Allwörden wirklich aus der Gefahrenzone? Der Matrose Poweleit war kein unbeschriebenes Blatt, er war vorbestraft. Im September 1942 kam er in Bordeaux als Besatzungsmitglied auf die »Rio Grande«. In Japan zog er sich einen Tatbericht zu, indem er sich am Handel mit Uhren beteiligte, die von Bord der »Osorno« gestohlen worden waren. Konnte von Allwörden, der ihn zwei Jahre kannte, annehmen, der Maschinenreiniger Poweleit sei ein Verbrecher, der schwerste Strafe zu erwarten hatte? Vor allem: Gab es für von Allwörden irgendeinen Grund zu vermuten, Poweleit sei ein Mann, der im Fall der Gefangennahme durch den Feindlandesverräterische Aussagen, machen könne?

Die Anklage wirft Admiral Wenneker vollendeten und versuchten Mord vor. Kapitän von Allwörden wurde am 14. August dramatisch verhaftet und von Bord geholt, als sein Schiff in Hamburg einlief. Er wurde jedoch noch am selben Tag wieder entlassen, und wenn er auch die Bundesrepublik nicht verlassen darf: er ist auf freiem Fuß, er ist nicht angeklagt. Er wird schwören können, wenn gegen Wenneker verhandelt wird.

Mit dem Häftling Poweleit war auf der »Rio Grande« ein Matrose Zimmzick eingesperrt gewesen. Er hatte eine Zelle neben Poweleit, doch wie dieser wurde er nur über Nacht und bei Alarm eingesperrt. Über Tag teilte man Poweleit und Zimmzick, die nach dem Befehl Wennekers, den von Allwörden für nicht widerrufen ansah, in Einzelhaft zu halten waren, zur Arbeit ein.

Zimmzick, ohne Bekannte auf der »Rio Grande«, sorgte vor. Er löste Schrauben am Schloß des Luks seiner Zelle. In der Aufregung der Minuten vor der Selbstversenkung brach er aus. Im vorletzten Boot, das die »Rio Grande« verließ, entdeckte man ihn. Nichts geschah. Zimmzick wurde nur nahegelegt, er möge sich in der Gefangenschaft anständig verhalten.

Poweleit, seit dem Herbst 1942 auf der »Rio Grande«, hat es offenbar nicht für möglich gehalten, daß sich niemand seiner erbarmen würde. So schrie er denn und schrie. Bis die »Rio Grande« sank, bis Kapitän von Allwörden salutierte und »Three cheers« aus deutschen Seemannskehlen über den Südatlantik klangen.

Marine-Attaché Wenneker

Kommandosache für den Kapitän

»Rio Grande«-Kapitän Allwörden (l.)*

Platz für den Wolfshund

Blockade-Brecher »Rio Grande": Schrei aus dem Bullauge

* Mit dem Leiter der Kriegsmarine-Dienststelle in Bordeaux, Admiral Menche.

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