Kriegsversehrte in Sierra Leone Ihre Körper sind Mahnmale - ihre Botschaft ist Frieden

Junge Menschen, die während des Krieges in Sierra Leone Gliedmaßen verloren haben, spielen im Amputee-Verein Fußball - inzwischen sogar auch international
Foto:Benjamin Moscovici

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Krücken klicken, Sand spritzt. "Los! Pass! Pass!", brüllt Patrick Koroma. Fenty Tarawali schlägt den Ball lang auf Susan Davies. Ein Pass ist schneller als jeder Sprint. Besonders, wenn allen Spielern Gliedmaßen fehlen.
Fast 20 Jahre ist es her, dass in Sierra Leone die erste Fußballmannschaft für Amputees, für Amputierte, entstand. Der Bürgerkrieg lag in seinen letzten Zügen, und die Flüchtlingscamps in der Hauptstadt Freetown waren voller Menschen, deren fehlende und verstümmelte Gliedmaßen Zeit ihres Lebens an eine der grausamsten Episoden des Krieges erinnern sollten: die Verstümmelungskampagnen der Rebellenbewegung Revolutionary United Front (RUF).
Jabaty Mambu, Gründer der Single Leg Amputee Sport Association in Sierra Leone, war gerade 15 Jahre alt, als Rebellen der RUF das Haus seiner Familie umstellten und Feuer legten. "Wir rannten raus", erinnert sich Mambu. "Einen Freund haben sie einfach vor meinen Augen erschossen." Dann wurde er selbst zu Boden geworfen, Knie bohrten sich in seinen Rücken, Hände zerrten an ihm, hielten ihn fest. Er sah einen der Kämpfer seine Machete heben. Das nächste Bild: Sein blutender Arm, der neben ihm im Staub lag.

Teamgründer Jabaty Mambu
Foto: privatZurück am Strand steht die Sonne an diesem Dezembertag inzwischen hoch über dem improvisierten Spielfeld. Vögel zwitschern. Die Luft ist heiß und feucht. Jeder Windzug fühlt sich wie die Welle an, die einem entgegenkommt, wenn man die Tür zu einer Sauna öffnet. "Fußball gibt mir Mut", sagt Patrick Koroma, während die anderen Spieler sich umziehen. "Der Sport gibt mir das Gefühl, dass ich es trotz allem schaffen kann. Er hilft mir, daran zu glauben."
Und tatsächlich hat der Fußball im Leben der Amputees vieles verändert. Susan Davies erzählt, wie schüchtern sie früher gewesen sei. Eigentlich habe sie sich kaum aus dem Haus getraut. "Ich hatte Angst vor Menschen", sagt sie. "Ich habe mich geschämt, mit niemandem gesprochen."
"Das ist heute ganz anders", lacht Patrick Koroma. Inzwischen ist aus dem Amputee-Verein so etwas wie eine Nationalmannschaft geworden. 2003 war das Team das erste Mal im Ausland, für ein internationales Turnier in England. Kurz darauf dann die Amputee-Weltmeisterschaft in Brasilien. "Heute schäme ich mich nicht mehr, dass mir ein Bein fehlt", sagt Susan Davies. "Ich bin stolz darauf, was ich mit meinem Handicap geschafft habe."

Feldspielerin Susan Davies: Früher habe sie sich geschämt, heute sei sie stolz, erzählt sie
Foto: Benjamin Moscovici9000 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Atlantiks in Austin, Texas, sitzt Jabaty Mambu am Frühstückstisch. "Jeden Tag wache ich mit diesem Schrecken auf", erzählt er beim Videochat über einer Schale Cornflakes. "Jeden Morgen ist da diese Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum war - und dann mache ich die Augen auf und sehe, dass mein rechter Arm fehlt."
Der Gründer des Amputee-Vereins verbringt mehrere Monate im Jahr bei Verwandten in den USA. Um Spenden zu sammeln. Denn der Sport gibt Susan Davies, Patrick Koroma und den anderen Spielern zwar vielleicht Mut, Stolz und Würde, aber kein Einkommen. "Die Wahrheit ist", sagt Jabaty Mambu, "viele von uns müssen betteln."
Keine hundert Meter von dem Strandabschnitt entfernt, an dem die Amputees jeden Sonntag trainieren, sitzt Mussu Fofanah, damals 17 Jahre alt, auf dem Bürgersteig der Strandpromenade unter einem bunten Sonnenschirm. Ihre Krücken hat sie hinter sich an eine Absperrung gelehnt. Vor sich eine kleine Kühltruhe, auf dem Arm ein Baby.

Patrick Koroma mit seiner Frau Mussu Fofanah und dem gemeinsamen Baby. Fofanah verkauft auf der Straße Wasser und Softdrinks, während er mit seinem dreirädrigen Keke Kunden durch Freetown chauffiert.
Foto: Benjamin Moscovici"Und? Wie läuft's?", fragt Patrick Koroma, als er nach dem Training kurz bei seiner Frau vorbeischaut. "Schon was verkauft?"
Sie schüttelt den Kopf. Das Eis in der Kühlbox ist längst geschmolzen. Die vier Wasserflaschen und die beiden Dosen mit billigen Softdrinks dümpeln in einer kleinen Pfütze. "Vielleicht wird's ja später noch was", meint Koroma noch, bevor er aufsteht. "Ich muss jetzt weitermachen. Aber ich komm euch nachher abholen", sagt er und geht zu seinem Fahrzeug.
Als Keke-Fahrer verdient Patrick Koroma ungefähr 20 Euro - an guten Tagen. Das Problem: Das Fahrzeug gehört nicht ihm. Jeden Tag muss er zehn Euro an den Besitzer zahlen. Das sei unverhandelbar, sagt er. Noch mal fünf Euro gehen für Benzin drauf. Wenn er nicht genug Fahrgäste transportiert, bleibt der jungen Familie nichts zum Leben. "Ich würde gern wieder regelmäßig trainieren", sagt er, als er sich hinters Steuer des dreirädrigen Gefährts gehievt und die Krücken neben sich verstaut hat. "Aber mit dem Baby geht das nicht. Ich muss fahren."

Patrick Koroma in seinem Keke: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie lohnt sich das Geschäft nicht mehr. Seine Teamkollegen berichten, dass er nun irgendwo in der Innenstadt Kleinigkeiten wie Taschentücher und Kekse verkauft.
Foto: Benjamin MoscoviciSierra Leone gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Staatliche Hilfen für Menschen mit Behinderungen gibt es nicht. Jahre des Krieges haben das westafrikanische Land völlig zerstört, und gerade als der Wiederaufbau in die Gänge kam, brach 2014 Ebola aus.
Vier Kilometer zieht sich die Strandpromenade, an der sie immer trainieren. Vom Golfklub am einen Ende bis zum Radisson Blu am anderen reihen sich hier die teuersten Hotels der Stadt aneinander. Schwarze Geländewagen parken vor Strandbars. An den Wochenenden werden hier in den Nachtklubs Champagnerflaschen geköpft. Weiße Linien auf schwarzen Handybildschirmen, die mit einem Schniefen wieder verschwinden. Drinnen bieten Frauen ihre Körper an, draußen auf den Stufen vor den Klubs sitzen Kinder und verkaufen Wasser, Taschentücher und Kaugummis. Davor auf den Parkplätzen helfen Männer auf Krücken den Reichen beim Ausparken.

Freetown, die Hauptstadt von Sierra Leone: Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch, das Bildungsniveau niedrig. Ein großer Teil der Bevölkerung muss sich als Kleinsthändler durchschlagen.
Foto: Benjamin MoscoviciDas Keke schwankt beunruhigend, als Koroma schließlich von der Lumley Beach Road abbiegt und aufs Gaspedal drückt. "Ich bin schon so zur Welt gekommen", erzählt er und nickt mit dem Kopf in Richtung seines verkrüppelten rechten Fußes. Der linke Fuß hat eine andere Geschichte.
Er sei mit seiner Familie gerade mit dem Buschtaxi auf dem Weg in die nächste Stadt gewesen, um ihm einen neuen Spezialschuh anfertigen zu lassen, als sie von Rebellen angegriffen worden seien, erzählt er. "Alle sind weggerannt und haben sich im Urwald versteckt. Nur ich konnte das nicht."
Mussu Fofanah
Normalerweise hätten die Rebellen einen 13-jährigen Jungen wie ihn wohl mitgenommen, vielleicht mit Drogen gefügig gemacht und zum Kämpfer ausgebildet. "Aber sie haben mich ausgelacht. Ich lag am Boden. Sie fragten: 'Was wollen wir mit dem?' Und dann haben sie mir den gesunden Fuß mit einer Machete abgeschlagen."
Die Sonne ist längst im Meer versunken, der Himmel über Freetown schon dunkelblau, als Patrick Koroma wieder auf die Lumley Beach Road einbiegt. Vor den Strandlokalen leuchten jetzt bunte Lichterketten, aus den Restaurants weht der Duft von gegrilltem Fisch, die Terrassen sind voller Menschen. Mussu Fofanah, ihr Baby, der Sonnenschirm - wer vorbeifährt, sieht nur einen dunklen Schatten am Straßenrand. In der Kühlbox liegen immer noch zwei Wasserflaschen.

Sierra Leone gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Staatliche Hilfen bekommen Menschen mit Behinderungen nicht.
Foto: Benjamin MoscoviciPatrick Koroma setzt sich zu ihr, nimmt ihr das Baby ab, hebt es hoch, strahlt die Kleine an. Und die strahlt zurück. "Ich liebe Patrick", sagt Mussu und schaut zu ihrem Mann, der sich das Baby jetzt auf die Schulter legt. "Er hat mich gerettet." "Sie ist auf der Straße aufgewachsen", erklärt Koroma. "Er ist meine einzige Familie", sagt sie.
Sie deutet auf ihr linkes Bein, das vom Fuß bis zum Knie in einer Plastikschiene steckt. Als kleines Kind habe sie einfach nicht richtig laufen gelernt, immer geschrien, bis ihre Mutter sie irgendwann ins Krankenhaus gebracht habe, erzählt sie. "Als der Arzt meiner Mutter sagte, dass ich krank sei, dass ich nie würde richtig laufen können, da ist sie einfach gegangen und hat mich zurückgelassen."
Patrick fasst ihr sanft an die Schulter. Seine kräftigen, vom Leben auf Krücken mit dicker Hornhaut überzogenen Hände streicheln zart, fast schüchtern über ihre Haut. "Ich kann mir nicht vorstellen, mit einer Frau zusammen zu sein, die nicht behindert ist", hatte er irgendwann tagsüber mal im Keke gesagt. "Nur jemand, der auch behindert ist, kann verstehen, was es heißt, behindert zu sein."
Auch deshalb sei der Sport für ihn so wichtig. Dort hätte er zum ersten Mal einer unter Gleichen sein können. "Es gibt einem Mut, wenn man merkt, dass man nicht allein ist. Als wir internationale Turniere gespielt haben, Sierra Leone in der ganzen Welt vertreten haben, da hat uns niemand mehr ausgelacht."
Karte
Es war eines der ersten Dinge, die er gesagt hatte: "Wir sind verstümmelt worden, wir haben Ebola überlebt. Und wir sind immer noch hier und spielen Fußball. Wir sind der Beweis, dass man Krieg und Hass hinter sich lassen, dass man Demütigungen verwinden kann. Unsere Botschaft an die Welt ist: Wenn wir das können - dann könnt ihr das auch."
Inzwischen hat Patrick Koroma seinen Job als Keke-Fahrer aufgeben müssen. Unter dem strikten Corona-Lockdown in Sierra Leone hat sich die Arbeit schlicht nicht mehr gelohnt. Jetzt verkauft er Kaugummis und Kekse in der Innenstadt. Der Rest der Mannschaft hat sich zerstreut. Niemand weiß, wann wieder trainiert werden darf. Alle Turniere wurden abgesagt. Die meisten Spieler haben so ihre einzige Einnahmequelle verloren.

Die Amputees am Strand von Freetown: Gemeinsam kämpfen sie gegen die Albträume der Vergangenheit und für ein Leben in Würde
Foto: Benjamin MoscoviciSusan Davies ist inzwischen zu ihrer Schwester gezogen. Ohne deren Unterstützung müsste sie jetzt hungern, erzählt sie am Telefon. Und auch andere Spielerinnen und Spieler sagen direkt: "Wir brauchen Essen." Die Regierung hat es mit einem frühzeitigen und entschlossenen Lockdown geschafft, die Todeszahlen in dem Land niedrig zu halten. Aber im Schatten dieses Erfolgs bahnt sich längst eine stille Katastrophe an.
Die Hoffnung wollen sich Susan Davies, Patrick Koroma und die anderen dennoch nicht nehmen lassen. Zu viel haben sie schon erlebt, zu viel gemeinsam erreicht. "Wir überleben auch Corona", sagt Davies. "Und irgendwann werden wir wieder am Strand stehen und Fußball spielen."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.