Zur Ausgabe
Artikel 23 / 102

INSELN Signal im Watt

Im Hochsommer wird die Bundesrepublik um eine Insel reicher sein: Hamburg plant im Wattenmeer ein bundesweit einzigartiges Naturschutzprojekt.
aus DER SPIEGEL 23/1989

Es soll eine sanfte Geburt sein. »Auf Planierraupen werden wir ganz verzichten«, versichert Harald Göhren, Vize-Chef des Hamburger Amtes für Strom- und Hafenbau. Auf gleichsam »natürlichem Wege« möchte der Beamte mitten im Wattenmeer eine sanfte »Hügellandschaft erzeugen«.

Noch in diesem Sommer will die sozialliberal regierte Hansestadt vor der deutschen Nordseeküste eine etwa 15 Hektar große künstliche Insel aufschütten - nur für Vögel. Ein Maschinen-Monstrum vom Typ »Cutterbagger« wird seinen Schneidkopf in den Grund bohren, um vor der Elbmündung eine halbe Million Kubikmeter Sand durch ein Rohrsystem zum vier Kilometer entfernten Ziel zu pumpen.

Nach acht Wochen, voraussichtlich Ende August, wird die vorhandene Vogelinsel Scharhörn dann eine Art Zwillingsschwester bekommen haben. Anschließend wird »Neu-Scharhörn« in mühsamer Handarbeit begrünt, zunächst mit Strandquecke, später auch mit Strandhafer und Strandroggen; Naturschützer und Segler haben versprochen, anzupacken.

Zweieinhalb Millionen Mark, möglichst mit Bundesbeteiligung, soll das »in der Bundesrepublik einmalige Projekt« (Senat) kosten - ein Vorhaben, das ebenso staatsrechtlich kurios wie naturschutzpolitisch wegweisend ist.

Daß die Hansestadt, 110 Kilometer vom Hamburger Rathaus entfernt, in der Nordsee Neuland schaffen kann, hat historische Ursachen. Schon im Mittelalter hatte der Stadtstaat begonnen, eine eigene Insel in der Elbmündung als Brückenkopf zu nutzen. Ein 1309 erbauter Wehrturm auf der Scharhörn benachbarten Insel Neuwerk ist das älteste erhaltene Bauwerk der Hansestadt.

Die Sandbank Scharhörn, einst bei jeder höheren Flut überspült, wurde in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts bepflanzt und damit gesichert. In wenigen Jahren wuchs die Düneninsel aus dem Watt. Seeschwalben, Brandenten und Austernfischer ließen sich zum Brüten nieder; Menschen ist der Zutritt zum Vogelschutzgebiet weitgehend verboten.

Im Jahre 1937 mußte die Hansestadt das Areal in der Elbmündung an das damalige Preußen abgeben, eine Folge von Hitlers »Groß-Hamburg-Gesetz«. Im Gegenzug durfte Hamburg sich die Nachbarstädte Harburg, Altona und Wandsbek einverleiben. 1962 erhielten die Hanseaten, aufgrund eines Gebietsaustausches mit Niedersachsen, 10 000 Hektar Wattenmeer zurück; sie wurden dem Stadtbezirk Mitte zugeordnet.

Bürgermeister Paul Nevermann (SPD) schwärmte damals von der Möglichkeit einer »Raumsicherung für die Zukunft": Hamburg plante einen vorgeschobenen Tiefwasserhafen, ein Projekt, das vor zehn Jahren nach Protesten von Bürgerinitiativen und aus Einsicht in die Unwirtschaftlichkeit des Vorhabens zu Fall kam. Später erwogen Stadtpolitiker, in ihrem Watt-Sektor verseuchten Baggerschlamm aus den Hamburger Hafenbecken zu deponieren.

Das einzige, was die hochfliegenden Pläne von einst überlebt hat, ist die künstliche Insel: Vor 15 Jahren sollte sie als ökologische Alibi-Maßnahme für die damals vorgesehenen Hafenbecken und einen Industriekomplex vor der Elbmündung herhalten.

Die alten Pläne wurden wieder aus der Schublade gezogen, weil »immer häufiger auftretende schwere Sturmfluten«, ausgelöst »durch eine besorgniserregende Klimaverschiebung«, die Insel Scharhörn »stark reduziert haben«, wie Hamburgs Umweltsenator Jörg Kuhbier (SPD) sagt. Scharhörn habe allein im letzten Jahrzehnt ein Drittel seiner Sandmasse verloren - nun drohe der »Totalverlust der Düneninsel«. Kuhbier: »Die Existenzgrundlage für Seevögel und Pflanzen ist dort deutlich eingeschränkt.«

Der neue Inselbau soll helfen, »für bedrohte Tiere und Pflanzen neue Areale zu erschließen« (Kuhbier). Er ist zudem als »Ventil« für das von Seevögeln eng besiedelte Scharhörn gedacht - was ökologisch Sinn macht: Der Elbe-Mündungstrichter ist reich an Nahrung, aber knapp an Brutplätzen.

Bedroht sind vor allem Tausende von Seeschwalben, darunter die Zwerg- und Flußseeschwalbe, die ebenso wie die außerordentlich seltene Brandseeschwalbe auf Neu-Scharhörn ihre Nester bauen können. Gefahr droht ihnen bislang auch, weil Alt-Scharhörn allzu dicht an der Fahrrinne liegt und reichlich mit Zivilisationsmüll eingedeckt ist: Gleich tonnenweise wird jede Saison Abfall angeschwemmt, an dem sich die Vögel zu Tode würgen.

Behördliche Naturschützer sehen in der Insel-Geburt denn auch ein »interessantes Experiment«, von dem sie sich, so ein interner Bericht, allgemeine Erkenntnisse erhoffen, »wie aus Naturschutzgründen geplante künstliche Brutbiotope gestaltet werden können«.

Die Kunstinsel ist ausschließlich als Schutzgebiet für Vögel und Pflanzen gedacht. Das Hamburger Landesparlament will noch diesen Sommer die Inseln und das gesamte umliegende Wattengebiet zum Nationalpark mit besonders scharfen Schutzbestimmungen erklären. Kuhbier erwartet von seinem Inselbau überdies eine »Signalwirkung auf die Nachbarländer": Björn Engholm (SPD) in Schleswig-Holstein und Ernst Albrecht (CDU) in Niedersachsen sollen ermuntert werden, ähnliche Kunstprojekte für den Tier- und Umweltschutz zu verwirklichen.

Einige Vertreter von Naturschutzverbänden reagieren zurückhaltend. Bei Jochen Lamp etwa, Mitarbeiter der Wattenmeerstelle des World Wide Fund for Nature in Bremen, weckt der bevorstehende »Eingriff in die natürliche Entwicklungsdynamik des Wattenmeers« Unbehagen. Die Umweltpolitiker sollten, meint Lamp, lieber versuchen, »die Eingriffe des Menschen einzudämmen«.

Der Naturschützer Uwe Schneider wiederum, Geschäftsführer des (nach einer anderen Vogelinsel benannten) Vereins Jordsand, begrüßt die künstliche Insel als »Ersatz für die küstenweit touristisch genutzten Strände«. Nach Ansicht des Seevogelschützers führt auf Dauer kein Weg am »lenkenden Naturschutz« nach Kuhbier-Art vorbei, zumal angesichts von Schadstoffen, Touristenfluten und Tieffliegern von einer unberührten Naturlandschaft nun einmal keine Rede mehr sein könne.

Die Mitglieder des Vereins Jordsand, die auch das neue Vogeleiland betreuen wollen, müssen in Kauf nehmen, daß die Insel wohl für immer ein Kunstgebilde bleiben wird - aufgrund der schweren Sturmfluten, deren Zahl sich seit Beginn der siebziger Jahre um 50 Prozent erhöht hat.

So wird die alte Vogelinsel Scharhörn mehr und mehr im Nordwesten angenagt. Zwar hat sie dafür jahrhundertelang auf der Ostseite durch Sandflug gewonnen; das Eiland wanderte gleichsam über das Watt. Doch in den letzten Jahren haben Wissenschaftler einen »Negativsaldo« bilanziert: Die Insel schrumpft. Ob sie eines Tages ganz verschwunden sein wird, steht dahin. Der Sturmflut-Forscher Professor Winfried Siefert warnt davor, den gegenwärtigen Trend »einfach zu extrapolieren«. Das Projekt Neu-Scharhörn sei »sicher ein bißchen prophylaktisch«, gibt Strombauer Göhren zu.

Die künftige Insel wird zwar nicht mehr so nahe an der Brandungskante liegen wie Alt-Scharhörn und deshalb auch weniger stark abbröckeln. Dafür aber hat das neue Eiland aufgrund anderer ungünstiger Standortvoraussetzungen praktisch keine Chance, mit Hilfe von Sandflug die unvermeidbaren Sturmflutschäden wettzumachen.

Kuhbiers Kunstinsel wird daher den Etat der Freien und Hansestadt Hamburg voraussichtlich auf Dauer belasten: »Die Erosionsverluste müssen«, heißt es in einem behördeninternen Papier, »durch regelmäßige Strandvorspülungen ausgeglichen werden.«

Noch bevor die Insel rund vier Meter über dem Meeresspiegel aus der Elbmündung ragt, soll das Kunsteiland getauft werden. Kuhbier, der »möglichst einen für die Küste typischen niederdeutschen Namen« finden will, hat zu einem Vorschlagswettbewerb aufgerufen.

»Wenn niemandem etwas Besseres einfällt«, sinniert ein Kuhbier-Mitarbeiter, »können wir die neue Insel ja nach dem Senator benennen - Jörgsand.« #

Zur Ausgabe
Artikel 23 / 102
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten