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LATEINAMERIKA / US-HILFE Signal zum Rückzug

aus DER SPIEGEL 46/1969

Mit Steinen, Eiern und Flaschen wurde US-Vizepräsident Richard Nixon empfangen, als er vor elf Jahren in Südamerika die armen Verwandten der USA besuchte. Die Steine trafen: Die Vereinigten Staaten beschlossen, den Lateinamerikanern zu helfen.

Jetzt versucht der Präsident Richard Nixon, die Verantwortung für die Nachbarn im Süden loszuwerden. »Nur wenn die direkt betroffenen Nationen selbst die Führung übernehmen«, so erklärte Nixon am vorletzten Freitag, könnten sie Frieden und Fortschritt erreichen. Er jedenfalls könne ihnen »keine grandiosen Versprechungen und keine Allheilmittel« anbieten.

Das ist die Quintessenz der langerwarteten, schon vor über einem halben Jahr angekündigten neuen Lateinamerika-Strategie der USA. Nixon verkündete sie über neun Monate nach seinem Amtsantritt vor der »Interamerikanischen Presse-Vereinigung« in Washington.

Per Nachrichten-Satellit übertrug die »Stimme Amerikas« die Rede in zehn lateinamerikanische Staaten. In Argentinien und Kolumbien fiel das Bild aus -- aber auch bei anderen Lateinamerikanern kam die Präsidentenbotschaft nicht an: »Frustration war das Gefühl nach der Rede«, registrierte die chilenische Tageszeitung »Clarin«.

Denn aus eigener Kraft können sich die Lateinamerikaner kaum helfen: Für ihre Hauptexportgüter --

Rohstoffe und Agrarprodukte -- erhalten sie immer niedrigere Preise, finden sie immer weniger Märkte. Für die importierten Ausrüstungsgüter, für dringend benötigte Maschinen mÜssen sie hingegen immer mehr zahlen.

130 Millionen Menschen, die Hälfte aller Lateinamerikaner, müssen von wenig mehr als einer Mark am Tag leben, und kaum die Hälfte aller Kinder bekommt eine Schulbildung. Und eine Bevölkerungsexplosion von etwa drei Prozent jährlich macht alles nur noch schlimmer: Im Jahr 2000 werden bei gleichbleibender Wachstumsrate über 600 Millionen Menschen Mittel- und Südamerika bevölkern (gegenüber 63 Millionen im Jahr 1900).

Zur Misere der Lateinamerikaner hat die Politik der USA seit Jahrzehnten beigetragen. »Die Vereinigten Staaten sind heute praktisch Souverän auf diesem Kontinent«, stellte schon 1895 US-Außenminister Richard Olney fest. Und bedenkenlos nutzten die USA ihre Vorherrschaft.

Der »Big Stick« -- der große Knüppel -- wurde zu Beginn des Jahrhunderts, unter dem Präsidenten und ehemaligen Oberst der »Rough Riders«, Theodore Roosevelt, zum Hauptinstrument der Lateinamerika-Politik Washingtons: Um die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Vereinigten Staaten durchzusetzen, marschierten US-Truppen in Panama, Mexiko, Nicaragua, Haiti und der Dominikanischen Republik ein.

Zur Politik des Big Stich kam unter dem Präsidenten William Howard Taft die »Dollar-Diplomatie« -- die kaum weniger brutale wirtschaftliche Erpressung. Erst der »New Deal«-Staatschef Franklin D. Roosevelt gab in den dreißiger Jahren die direkten Interventionen in Lateinamerika auf und verkündete eine Politik der »guten Nachbarschaft«.

Der Dollar freilich regierte weiter -- auch noch, als knapp drei Jahrzehnte später, 1961, der liberale Demokrat John F. Kennedy den Lateinamerikanern die »Allianz für den Fortschritt« anbot. Nur noch demokratische Regierungen, so besagte das Hilfsprogramm, sollten künftig US-Kredite erhalten. Undemokratisch waren für Washington -- wie unter Eisenhower -- freilich nur Kommunisten.

Die Allianz, die den Lateinamerikanern den Fortschritt bringen sollte, machte sie nicht reicher: Für 91,5 Prozent der Kredite mußten sie, meist teurer als in Europa oder Japan, bei amerikanischen Firmen kaufen.

Lateinamerikas Auslandsschulden verdoppelten sich seit 1960 auf fast 20 Milliarden Dollar. Dreimal soviel, wie sie an ausländischem Kapital erhielten, mußten die Lateinamerikaner von 1960 bis 1966 an Schulden und Zinsen ins Ausland transferieren.

Die wachsende Abhängigkeit schürte »einen ökonomischen Nationalismus, der vielschichtiger und gefährlicher ist als der Yanqui-Haß alten Stils« (so »die US-Wirtschaftszeitschrift »Fortune"). Die Folgen des Nationalismus: Peru, Ekuador, Chile und Bolivien enteigneten in den letzten zwölf Monaten nordamerikanische 01-, Kupfer- und Telephongesellschaften oder US-Grundbesitz.

»Die Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika«, so urteilte die Londoner »Times«, »haben ihren tiefsten Stand seit den Tagen der Eisenhower-Administration erreicht.«

Auf der Suche nach einer neuen Strategie schickte Präsident Nixon daher im Sommer den New Yorker Gouverneur Nelson Rockefeller nach Lateinamerika. Rockefeller hörte nicht nur die Klagen der Regierungschefs« er hörte auch das Protestgeschrei US-feindlicher Demonstranten.

Anfang September legte der Gouverneur den -- bislang geheimgehaltenen -- Katalog der Beschwerden und Empfehlungen vor. Doch nur halbherzig ging Nixon in seiner Erklärung jetzt auf die Wünsche der Lateinamerikaner ein.

Zwar entschied er, daß die Entwicklungskredite künftig nicht mehr nur in den USA ausgegeben werden dürfen, sondern auch in Lateinamerika selbst. Doch die vorwiegend benötigten technischen Importgüter können nur die Vereinigten Staaten liefern.

Zwar will Nixon die Forderung nach demokratischem Wohlverhalten der Lateinamerikaner aufgeben und die »Regierungen im Inter-Amerikanischen System so nehmen, wie sie sind«. Einen Nachbarn freilich weigert er sich noch Immer so zu nehmen, wie er ist -- Fidel Castros Kuba.

Die Lateinamerikaner fordern vor allem »Handel statt Hilfe«, um durch Exporte selbst ihre Wirtschaft ankurbeln und Schulden abtragen zu können. Richard Nixon versprach ihnen zwar, in den USA und international für den Abbau von Handelsschranken und für Handelspräferenzen zu sorgen.

Doch seine Zusage stößt auf ein wesentliches Hindernis: Nicht er, sondern nur der US-Kongreß beziehungsweise die Regierungen anderer Länder können sie erfüllen. Und der Kongreß in Washington zumindest zeigt sich zu Großzügigkeit den südlichen Nachbarn gegenüber nicht aufgelegt.

Nixon verzichtete daher auch darauf, eine Erhöhung der Lateinamerika-Hilfe vorzuschlagen: Nur drei Tage vor der Präsidenten-Botschaft hatte der Auswärtige Ausschuß des Repräsentantenhauses die Kredite für 1969/70 um 100 Millionen Dollar auf 337,5 Millionen gekürzt.

Nixon rief zur »Aktion für den Fortschritt« auf, aber seine Lateinamerika-Erklärung, so resümierte die »Washington Post«, war »viel weniger ein Rezept für Wachstum und Fortschritt als ein Signal zum Rückzug«.

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